Nach Ende des Zweiten Weltkriegs hat der postkoloniale Imperialismus die Welt neu geordnet – mit global gültigen Werten und Regeln. Lassen es Staaten an deren hegemonial definierter Einhaltung fehlen, so steigen sie zu »scheiternden« ab. Nicht nur ökonomische Ruinierung, die Abhängigkeiten vom Weltmarkt in bestrafenden Anschlag bringt, steht ihnen ins Haus. Militärpatrouillen, Flugverbotszonen, Stützpunkteinrichtungen legen ihnen nahe, des einstweiligen Behaltens nationaler Souveränität halber keine Zwecke zu verfolgen, die böse sind. Der Sieg von »freedom and democracy« über unbotmäßige Verstocktheit wird »hybrid« errungen.
Am globalen Unterbügeln, das leider nur mit der endgültigen Ruinierung des Erdballs umzusetzen ist, beteiligt sich die deutsche Kriegsmeute umstandslos und hingebungsvoll. Dabei rührt ihre Bereitschaft, alles Nötige in Angriff zu nehmen, nicht aus einem elitären und verantwortungslosen Vergessen dessen, was nationales Wohl eigentlich geböte. Vielmehr äußert sich die nicht zu übertreffende Sittlichkeit der Umsetzer von Staatswohlnotwendigkeiten in der Hingabe an eines der höchsten Güter: die Verantwortung, »ohne Scheuklappen« für alle zu handeln, von denen gerade angesichts des anfallenden »höchsten Preises« ausnahmslos und grundsätzlich die richtige Meinung verlangt ist. Falschmeinende sind gebührend zu behandeln, denn nur »Engel aus der Hölle« können etwas gegen Munitionieren und Kanonenfüttern haben. Als fünfte Kolonne der Feinde, die wie die untergegangene DDR anders als »wir« und somit »Unrechtsstaaten« (gewesen) sind, schwächen sie unsere nationale gute, da rechtsstaatliche Kriegsfähigkeit.
Wie kam es zu diesem augenfälligen Ausgriff deutscher Nation über ihre Grenzen hinaus und zu nun noch angriffslustigerem, Pardon: verteidigungsbereiterem Meinen? Das nach dem Verlust eines zweiten Weltkriegs als Bollwerk gegen den Ostblock neu aufgestellte und demokratisch reformierte Westdeutschland war schnell wieder wehrhaft geworden. Mit gewachsenem Arsenal setzt sich das längst nicht mehr nur ökonomisch »riesige« Gesamtdeutschland, für das es ein out of area nicht mehr gibt, im Einklang mit Bündnisinteressen weltweit zur Wehr. Dabei gilt es, in Abstimmung mit Partnern neue »Herausforderungen«, gern auch ganz vorne mit dabei oder »von hinten führend«, verlässlich anzunehmen. Gemäß Aufträgen, von denen Deutschland – was für »ich« und »du« stehen soll – sich etwas verspricht, will es wirksam agieren (siehe Ukraine-Krieg). Um es ohne Politsprecheuphemismen auszudrücken: Die Militärmacht Deutschland hat die Chancen und will sie bei – nicht von »mir« und »dir« definiertem – Bedarf auch wahrnehmen, die Herrschaftsbasis von Feinden mit dem Umbringen von deren menschlicher Verfügungsmasse zu ruinieren und einen Diktatfrieden (welch hässlich undeutsches Wort) zu erzwingen.
Dagegen mag ein »advocatus angeli« einwenden, andere würden das wollen und auch tun – aber Deutschland doch nicht! Die gute Meinung bedarf jedoch einer selektiven Wahrnehmung, die sich zu so etwas wie Deutschlands Rolle in und nach dem Krieg in Jugoslawien nicht groß »einen Kopf macht«. Da gewachsene Macht das Recht auf mehr Macht ergibt, stehen Deutschland nun selbstredend die Auf-Führung als moralischer Weltschiedsrichter und die verantwortungsvolle Selbstverpflichtung zu, der Existenz auswärtiger Herrschaften praktischen Nachdruck zu verleihen.
Ist diese Darstellung vernünftig? Üblicherweise hängt die Antwort davon ab, was schon von vornherein feststehend für (un-)vernünftig gehalten wird. Ist man der zirkelschlussmäßigen Meinung, der Staat sei dann unvernünftig, wenn er kein guter Hirte seiner Herde sei, so wird man zu einem Ja neigen; mit »moralisch aufgeladener« Präpotenz mute er sich = den Bürgern realistisch nicht Bewältigbares zu (Amerika, du hast es besser!). Weshalb dieses »Fehlverhalten«? Nun, weil sich wieder einmal und wie immer die Regierungsgärtner aus Böcken zusammensetzen. Staatshandeln wird nicht auf es hervorbringende ihm eigene Gründe, Zwecke und Mittel befragt, sondern ethisch als Sammlung lauter »-Losigkeiten« gebrandmarkt als Abweichung von nach Gusto vorgefassten Merkmalen einer idealen Staatskunst. Sieht man diese hingegen gegeben, drückt man dem Staat die Daumen beim Beschreiten des für im Prinzip vernünftig gehaltenen Wegs und reklamiert das Untertanenrecht auf größere Entschlossenheit dabei (zu der sich der Staat nicht lange bitten lässt), so wird man den vorigen Abschnitt als Blödsinn zurückweisen. Beim Für und Wider darum, wie viel an »praktischer Vernunft« feststellbar sei, werden nicht etwa Sachverhalte, Gegenstände oder Ereignisse für eine Erkenntnis ihrer Beschaffenheit aus ihnen selbst heraus auseinandergesetzt. Stattdessen soll sich durch sie nach einer von ihnen getrennten moralischen Schablone oder idée fixe apodiktisch (»isso«) reine (Un-)Vernunft äußern. Nach dieser Logik könnte man z. B. auch das Coronavirus der Unvernunft zeihen.
Mit der Vernunft scheint es sich so zu verhalten wie mit der Intelligenz, die nie ungerecht verteilt ist; von letzterer vermeint niemand, zu wenig von ihr mitbekommen zu haben; und ebenfalls niemand braucht sich seine jeweilige Definition des Vernünftigen bestreiten zu lassen, da diese bloß, aber immerhin und vor allem auf jeden, sogar staatlich garantierten Fall, nun einmal Ansichtssache ist. Die für folgenlosen Austausch bestimmte Meinungsbeliebigkeit wird oft als Tatsachenbeweis dafür genommen: Gesellschaft könne es, wenn überhaupt, nur als bloße Addition einzelner (Meinender) geben, deren Schicksal sich aus Vernunft versus Unvernunft saldiere. In summa ergibt sich daraus die bekannte Regierungsaufgabe, von diesem Disparaten – Sammelbegriff Volk – Schaden abzuwenden und dessen Wohl zu mehren. Das ist maßgebliche, mit Definitionshoheit über Wohl und Wehe ausgestattete Vernunft.
Der Rede von vernunftgeleitetem Handeln bzw. dessen Ausbleiben kommt die Frage, woher gesellschaftliches »Hobeln« mit seinen unvermeidlich anfallenden »Spänen« denn komme, als so töricht vor wie die, ob es denn die Schwerkraft hier geben müsse. Ohne Kollateralschäden könne der Kampf aller gegen alle nun einmal nicht abgehen, weshalb es dem staatlichen Dompteur zufalle, die Antagonismen in Zaum zu halten; dies mittels einer Lenkung durch die Besten = Vernünftigen, die qua Funktion ja wissen (könnten oder müssten), was wohltut oder am wenigsten schmerzt.
Der Staat hilft nicht nur bei der Suche nach dem Vernünftigen; er versteht auch die Sorgen konstruktiv kritischer Bürger. Deren alles überwölbende Thema ist vor allem die bange Frage: Werden wir richtig geführt? Genauer: Werden wir geführt, wie wir es verdienen? Und sind wir dann einer solchen Führung auch würdig? Nun ja, vielleicht müssen wir dafür dann auch schon ein bissel an uns arbeiten; gelobt sei, was hart macht …
Dass die Meinungsuniformierung für das Volk fortschreitet, braucht der Staat nicht wesentlich für Kriegsvorbereitung und -führung. Zum einen finanziert und unternimmt er das waffentechnisch und aufmarschbefördernde Nötige, inklusive der Erwägung, den »Bürger in Uniform« wiederzubeleben. Das schafft er aus eigener Machtvollkommenheit, mit der er dann auch zum Krieg abkommandiert. Zum anderen heißt das aber nicht, dass er das lässt, was er nicht unbedingt braucht; weshalb sollte er sich bei der Gestaltung seiner Zwecke beschränken? Gerade weil sein Zugriff auf die Mitglieder der Nation unbedingt und grundsätzlich ist, kümmert er sich definitorisch, juristisch und auch praktisch um missliebige Meinungen und Aktivisten bis hin zu Gefährdern und invasiven Fremdlingen, etabliert Gedenktage und Zeremonien für schon ehrenvoll Gefallene und »in die Mitte der Gesellschaft zurückholende« Respektbezeugungen für solche, die das noch werden sollen. Interessierten Bürgern bietet der Staat Perspektiven, nach seiner Fasson vernünftig zu handeln.
So unterbreiten denn auch die amtlichen Schicksalsmacher von Plakatwänden der Bushaltestellen herab das attraktive Angebot: »Führungsstärke lernen!« Eine feine Sache. Die Schule der Nation (im Sinne Kurt Georg Kiesingers) macht‘s möglich, mit tödlicher Sicherheit für alle.