Hans Modrow vollendet Ende des Monats sein 91. Lebensjahr und ist in einer beneidenswert guten Verfassung, was nicht nur er mit Dankbarkeit und Demut quittiert. Sie erlaubt ihm nicht nur weite Reisen zu machen (im September war er in diplomatischer Mission zwischen Bejing, Pjöngjang und Seoul unterwegs, demnächst bricht er nach Havanna auf). Er arbeitet auch unverändert innenpolitisch und mit Strategie, was ihn in seiner Partei Die Linke eher zu einer Ausnahme macht. So treibt Modrow seit Jahren BND und Verfassungsschutz mit seinem Auskunftsersuchen vor sich her – vor Jahresfrist gab ihm das Leipziger Bundesverwaltungsgericht Recht, und das obendrein im gleichen Saale, wo einst der Reichstagsbrandprozess erfolgte. Der Bundesbürger Modrow verlangt von den vormals westdeutschen Diensten, was seinerzeit die Ostdeutschen von ihrem Dienst forderten: Ich will meine Akte! Die Stasi-Unterlagen können seit 1992 mit beachtlicher staatlicher Unterstützung studiert werden, die Einsicht in die anderen Geheimdienstpapiere hingegen wird beharrlich verweigert: aus archivrechtlichen Gründen (30 Jahre) und wegen des Datenschutzes (auch verstorbene Spitzel haben Angehörige). Die westlichen Dienste haben mindestens 65.000 DDR-Bürger ausgespäht, wie eine von Modrow angeregte Kleine Anfrage der Linksfraktion an die Bundesregierung ergab. Er zum Beispiel wurde, wie die ersten an ihn übergebenen Dokumente zeigten, seit den 50er Jahren systematisch bespitzelt. Seine Observation endete laut Auskunft des damaligen Bundesinnenministers angeblich 2012. Da war Modrow zwischenzeitlich Abgeordneter des Bundestages und des Europaparlaments gewesen und der Kalte Krieg gegen die DDR aufgrund ihres Verschwindens Geschichte. Warum also?
Gleiches Recht für alle, verlangt das Grundgesetz, und auch Hans Modrow fordert es für sich und seine ostdeutschen Landsleute hartnäckig ein. Die Akten-Frage ist dabei von zentraler Bedeutung. Sie dient nicht der Befriedigung privater Neugier sondern der Herstellung von Gleichberechtigung vor dem Gesetz.
Überhaupt die Geschichte. In diesem Jahr wird die Bundesrepublik siebzig, und die DDR ging vor dreißig Jahren unter. Was lehrt uns die Vergangenheit für die Zukunft? Im fernen Korea, im Norden wie im Süden, hat man ihn sehr genau befragt, welche langfristigen Folgen die deutsch-deutsche Vereinigung hatte und hat. Diese Fehler möchte man dort nicht wiederholen.
Modrow sieht die Beschäftigung mit diesen Fragen hierzulande als Zukunftsprojekt. In diesem Sinne ist er nicht nur bei Marx, sondern auch bei Bismarck: »Man muss mit den Realitäten wirtschaften und nicht mit Fiktionen.« Der von ihm seit Jahren geführte Ältestenrat in der Links-Partei wird auf sein Drängen dazu erneut Impulse setzen, indem zunächst bilanziert wird. Was sind die Gemeinsamkeiten zwischen Ost und West, und wo liegen die Unterschiede? Welche lassen sich einebnen, welche muss man betonen? Was dann eine spezifische Herausforderung für die einstige »Kümmererpartei« im Osten wäre, denn deren Platz hat – scheinbar – inzwischen eine andere übernommen, was für die Demokratie des ganzen Staates fatal ist.
Die Bedeutung Modrows für dieses Land haben mehrere Jahre lang zwei auswärtige Wissenschaftler untersucht, wobei sie sich – das liegt an ihrer Profession – mehr auf die Vergangenheit denn auf die politische Gegenwart konzentrierten. Der österreichische Historiker Michael Gehler und sein Partner Oliver Dürkop planten ursprünglich, Hans Modrow als Zeitzeugen zu den Beziehungen zwischen der DDR und Österreich zu befragen, und zwar in jener Phase, als dieser 1989/90 Ministerpräsident der zweiten deutschen Republik und damit de facto Widerpart von Bundeskanzler Helmut Kohl war. Offenkundig haben die beiden Zeitgeschichtler bald bemerkt, auf welche Goldader sie da gestoßen waren, weshalb die Sache sich immer mehr ausweitete. Sie gruben in Archiven, sichteten Publikationen, sprachen mit anderen über Modrow und mit diesem selbst. Zwischen 2014 und 2018 trafen sie sich sieben Mal und interviewten ihn ausführlich. Herausgekommen ist ein fast sechshundert Seiten dickes Geschichtsbuch, das die Autoren Zeitzeugendokumentation nennen.
Gewiss haben kundige Ostdeutsche einen subjektiv anderen Blick auf diese Zeit und auf die Person Hans Modrow als die beiden. Das mag an deren um Objektivität bemühten Betrachtungsweise liegen. Abstraktion und Distanz schließen naturgemäß Emotionalität aus. Im Wissen um die Tatsache, dass angeblich der Zeitzeuge Feind des Historikers sei (Wolfgang Kraushaar), wandeln Gehler und Dürkop auf einem schmalen Grat. Auf der einen Seite wissen sie um den Deutungsanspruch von Zeitzeugen, den sie respektieren, auf der anderen Seite wollen sie die eigene Deutungskompetenz behaupten und damit ihren Kollegen Martin Sabrow indirekt widerlegen, der eine »schleichende Entmachtung der Historikerzunft« durch Zeitzeugen ausgemacht hat. Zeitgeschichte ist eine ziemlich vertrackte Angelegenheit, wenn der Pulverdampf noch nicht vom Schlachtfeld verzogen und nicht alle Beteiligten verstummt sind.
Hans Modrow wird durch diese umfangreiche, sehr komplexe, vielschichtige Arbeit akademisch aufgewertet, gleichsam geadelt, wie eine Rezensentin befand, ihm werde dadurch die Achtung und Aufmerksamkeit zuteil, die er verdiene, was zutreffend heißt: Sie wurde ihm bislang verweigert oder nur in Maßen zugestanden. Alle Welt rühmt Kohl als Kanzler der Einheit – aber Modrow, der in jener kritischen Zeit als ostdeutscher Ministerpräsident Chaos und Blutvergießen verhinderte, der mit Weitsicht und Empathie handelte und nicht mit Bimbes, wird gleiche Anerkennung beharrlich von der offiziellen Bundesrepublik verweigert. Das Buch kratzt an dieser fortdauernden Missachtung, die eben kein singulärer Vorgang ist.
»In Verantwortung. Hans Modrow und der deutsche Umbruch 1989/90.« Herausgegeben von Oliver Dürkop und Michael Gehler. StudienVerlag Innsbruck-Wien-Bozen, 581 Seiten, 49,90 €