Das Verfahren, wie man eine Bildvorstellung hervorruft, durch unerwartete Assoziationen und zufällige Zusammenstellungen, kennen wir von den Surrealisten. Wenn die Arbeit für Zufallseffekte, unvorhergesehene Kombinationen und unbeabsichtigte Metaphern offenbleibt, wenn sie sich erst im Verlauf des Herstellungsprozesses »entdeckt«, nicht aber bewusst geplant und durchgeführt wird, dann kann das Unbewusste in ihr wirken. »Als erstes muss ich Unordnung schaffen«, sagt der Zeichner und Maler Oskar Manigk, »Destruktion betreiben, denn meine Fantasie braucht eben diesen labilen, konfusen Zustand, um im Bildviereck Fuß fassen und sich ausbreiten zu können«. Und doch will er mit seinen Zeichen- und Figurenbildern eine bewusste Aussage treffen. Sie bilden Tatbestände und ihre Mehrdeutigkeit, Figürlichkeit, psychische Befindlichkeit als Ereignis der Malfläche und in der Tonalität und Stofflichkeit kräftiger, zuweilen schwerlastiger Farbe ab. Aus dem explosiven Pinselschlag eines Allegro furioso wächst eine bewusst ausgewogene Komposition.
Oskar Manigk, der in Ückeritz auf Usedom und in Berlin – im Spannungsfeld inselhafter Abgeschiedenheit und pulsierender Großstadtatmosphäre – lebt und arbeitet, hat sich stets seine Unabhängigkeit bewahrt. Seine erste große Ausstellung erhielt er erst 1993 anlässlich der Verleihung des Caspar-David-Friedrich-Preises des Landes Mecklenburg-Vorpommern im Staatlichen Museum Schwerin. Er ist kein Gruppenkünstler und von keiner Bewegung her erfassbar. Nun hat der das 90. Lebensjahr antretende Künstler den Egmont-Schäfer-Preis für Zeichnung erhalten, der alle zwei Jahre vom Verein Berliner Kabinett durch eine unabhängige und ständig wechselnde Jury verliehen wird. Zugleich findet in der »Galerie Parterre« in Berlin-Pankow eine Ausstellung seiner Zeichnungen (Graphit, Kreide, Filzstift) und Arbeiten auf Papier (Acryl und Mischtechnik) statt, die vorwiegend grafische Akzente setzen. Die Vielfalt der Linien und Wege, der Dehnungen und Zusammenziehungen reizt die Fantasie. Manigk schreibt Stenogramme der Bewegung. Die Turbulenz seiner kleinen und großen Welten ist ein Bewegungserlebnis. Aus Formsignalen entstehen Bewegungsabläufe, werden Gestaltzeichen, die Figürliches assoziieren lassen und sich mitunter zu Erlebnisberichten formen. Manchmal wiederholen sich die Figuren in seinem Szenarium echoartig in parallelen, aber ihre Form immer wieder neu deformierenden Erscheinungen. Dann wieder nehmen die aus fast absichtslos gesetzten Strichen und Formen entstehenden Bildzeichen einen traumartig-schwebenden Charakter an, sie tauchen wie halluzinatorisch auf, verhüllen und verändern sich. Viele Gestaltzeichen schauen den Betrachter unmittelbar an, wie Hilfe suchend, handeln so aus dem Bild heraus, während sie gleichzeitig an einer Handlung im Bild beteiligt sind. Mitunter gleichen die Blätter Bilderrätseln, dann wieder sind sie von geometrischer Strenge und magischer Abstraktion. Die Erfahrungen von Surrealismus und Dadaismus setzen sich im Bildraum deutlich von jeder konstruktiven Nüchternheit ab. Titel wie »Bedeutungsschwere«, »DAS kann so bleiben«, »Unvergleichliches«, »Das Geheimnis des Gleichmuts«, »Die Kraft des Inhaltslosen«, »DAS ist in Ordnung« können auf die Sprünge helfen, aber in ihrer grotesken Verfremdung auch in die Irre führen. Sind sie aber nicht gerade dadurch ein Spiegelbild unserer Umwelt? Nicht immer ist es das ungezwungen Spielerische, das die Aussage legitimiert. Es entsteht aber ein Denkprozess, der ihn in der Linie das Gleichnis zum Leben, zum Schicksal und dessen Verflechtungen sehen lässt.
Nun machen die in der »Galerie Parterre« gezeigten Blätter nur einen Teil des Gesamtwerkes unseres Jubilars aus, das ohne seine Gemälde auf Leinwand nicht zu denken ist. Bezieht man diese mit ein, ergibt sich doch die Frage, ob man nicht doch bei ihm einerseits von Symbolismus sprechen kann, der auf persönlich gefundenen Metaphern und Sinnbildern, scheinbar banalen, jetzt aber vielsagenden Gegenständen aufbaut, und andererseits von weltnaher Sinnlichkeit, die diesen Symbolismus ans Leben und das konkrete Sosein bindet? Manigk baut seine figurenreichen Szenen in einen engen Bühnenkasten ein und rückt ihn übernah an das Auge des Betrachters. Dadurch ergeben sich divergierende, voneinander unabhängige Blickpunkte und einzeln zu sehende Bildelemente, welche jedoch durch lineare Bezüge zu einem übergeordneten Raumkontinuum verbunden werden. Die Kreuz- und Querverbindungen führen immer wieder zu den Figuren und Köpfen, deren Farbkonturen mitunter wie eine intellektuelle Parodie eilig gekritzelter Straßengraffiti wirken.
»Frida und Herta II« (2012, Acryl a. Lw.) – was haben sie gemeinsam, die Schriftstellerin Herta Müller und die emanzipierte mexikanische Malerin und charismatische Rebellin Frida Kahlo? Ceaușescu kann man rechts unten im Bild »Herta von fern« (2012, Mischtechnik a. Lw.) lesen, das die unheilvollen Spuren des rumänischen Diktators aufweist; die Schriftstellerin streitbereit in ihrer Banater Heimatlandschaft. Die bildhafte Sprache der Collagen Herta Müllers wird hier spielerisch umgesetzt. »Spielfeld« (2014, Mischtechnik a. Lw.) gibt die Konturen eines Würfelspiels wieder, in dem Figuren Wünsche und Träume, aber auch Leiden und Schmerz symbolisieren. »Let’s dance together« heißt es in einer Sprechblase – wenn das Leben doch so einfach wäre.
Was hat Manigk zur Gegenüberstellung von »Leni und Amy« (2012, Acryl a. Lw.), der Nazi-Filmemacherin Leni Riefenstahl und der britischen Sängerin und Songschreiberin Amy Winehouse bewogen? Schwestern – die eine von gestern, die andere von heute – können es doch wohl nicht sein. Ist es das Genie der Selbstzerstörung, sind es die Comeback-Versuche der Film- wie Pop-Legende, das lange Leben der einen, das viel zu kurze der anderen, die mit 4,16 Promille im Blut starb? Margarete Mitscherlich hatte die Tragik der Riefenstahl in die Worte gefasst: »Es gelang ihr bis heute, ohne Ahnung von dem zu bleiben, wovon sie keine Ahnung haben wollte«.
»Die Kunst rettet uns vor dem Wohlleben« (2013, Mischtechnik a. Lw.) zeigt ein Mädchen mit Gitarre auf der Straße, die sich von der Konsum- und Wohlstandsgesellschaft verabschiedet hat. Wohin wird es sie treiben? Eine Hommage an die Portugiesin Misia ist »Senhora da Noite« (2014, Acryl a. Lw.), so der Titel ihres Albums, in der die Musik des traditionellen Fado – das ist poetische Melancholie und wehmütiger Schmerz – wieder aufgenommen wird, mit Texten, die ausschließlich von Frauen geschrieben wurden. Misia »malt Tränen in allen Sprachen« heißt es – und so hat sie der Maler dargestellt. Oskar Manigk verweigert das Moralisieren und die agitatorische Botschaft. Er will Strukturen der Wirklichkeit mit künstlerischen Mitteln offenlegen, den Denkprozess des Betrachters sensibilisieren, damit dieser wahrnimmt, was man nicht direkt sehen und doch als Problem sichtbar machen kann. Und so wird auch der nunmehr Neunzigjährige weiterarbeiten an seinem imaginären Museum, dem Archiv seiner Träume und Alpträume, die auch deshalb so einprägsam sind, weil sie Irritationen enthalten, die der Betrachter auf den ersten Blick nicht auflösen kann, die erst der Auseinandersetzung bedürfen.
Galerie Parterre, 10405 Berlin, Danziger Str. 101, Haus 103, Di-So 12-21 Uhr, Do 10-22 Uhr, bis 26. Mai. Katalog 18 €.