Vor 90 Jahren, am 27. Februar 1933, brannte das deutsche Parlamentshaus. Der Plenarsaal des Reichstages wurde völlig zerstört, die Seitenflügel wiesen nur kleinere Schäden auf. Verhaftet wurde an Ort und Stelle ein Holländer, der mit vier Päckchen Kohlenanzünder der Marke »Feuerfee« hantiert hatte, einem damals geläufigen Haushaltsartikel. Die Quittung trug er angeblich noch bei sich.
Über die Frage, ob er allein und ohne Helfer dieses Großfeuer entfachte, wird seit 63 Jahren in der Bundesrepublik erbittert gestritten. »Ist es nicht vollkommen egal«, so fragt der Autor Uwe Soukup in seinem jüngst erschienenen Buch rhetorisch, »wer den Reichstag angezündet hat? Welche Rolle spielt diese eine Sachbeschädigung angesichts des millionenfachen Judenmordes und der unvorstellbaren Gewaltakte deutscher Truppen während des Zweiten Weltkrieges?« Das ist keineswegs egal, antwortet Soukup, die Sache hat Gewicht. Denn es handelt sich um den initiatorischen Akt zwölfjährigen Terrors, eines rassistischen Genozids und eines Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion. Er will in das Dickicht der vielen Details, der unbewiesenen und der scheinbar bewiesenen Behauptungen »einige Schneisen schlagen«, und das ist ihm gelungen.
Mit gebotener Vorsicht gebe ich den wahrscheinlichen Verlauf des fraglichen Abends hier zum Besten. Der arbeitslose, sehbehinderte Aktivist Marinus van der Lubbe aus Leiden war nach meiner Erkenntnis auf Einladung von »Freunden« aus einer faktisch unterwanderten anarchistischen Gruppe nach Berlin gekommen. Er wurde hier von Lockspitzeln geschickt überredet (z. B. »du sollst ein Fanal erzeugen«). Er ließ sich darauf ein, er wurde instruiert und dann von SA-Leuten durch einen Seiteneingang in den Reichstag geschleust. Dort war der Plenarsaal bereits mit selbstentzündlicher Flüssigkeit und Brandbeschleunigern präpariert. Lubbe selbst hatte noch etwas Zeit, einige kleine Kokelbrände zu erzeugen, bevor im Plenarsaal explosionsartig ein Flammenmeer ausbrach. Gleich darauf wurde er vom Wachtmeister Poeschel in einem Seitengang verhaftet. Zur gleichen Zeit begegneten dem überraschten Feuerwehrmann Polchow auf einer Kellertreppe mehrere Uniformierte mit gezückten Pistolen in nagelneuen Polizeiuniformen, die ihn, »zurück oder wir schießen« rufend, zum Rückzug nötigten. Diese mysteriösen Uniformträger waren nicht die einzigen rätselhaften Erscheinungen. Die hauptsächlichen Brandstifter entkamen unbehelligt, wahrscheinlich durch das Nordportal.
Die Feuerwehrleute vor Ort und die späteren Brandexperten gingen ausnahmslos von mehreren Tätern aus. Das tat auch der Reichstagspräsident Göring und mit ihm die Naziführung, die sofort auf kommunistische Hintermänner verwies. Fünf Monate später erschien in Paris das Braunbuch über Reichstagsbrand und Hitlerterror (in 17 Sprachen übersetzt) mit dem Anspruch, die Schuldfrage zu klären. »Dem Motto folgend, wonach Angriff die beste Verteidigung ist, drehte (der Herausgeber Willi Münzenberg) den Spieß um und beschuldigte die Nazis in einer für seine internationale Leserschaft plausiblen Weise der Reichstagsbrandstiftung«, schreibt Soukup. Die beteiligten Autoren, sämtlich anonym, arbeiteten damals mit unzureichenden Belegen, vielen Vermutungen und Gerüchten vom Hörensagen, teils auch mit gut recherchierten Fakten. Sie zielten ins Blaue hinein, aber trafen ins Schwarze, indem sie ein Nazikomplott feststellten.
Genau dies wollte das Hamburger Nachrichtenmagazin Spiegel 1959 widerlegen. Die Alleintäter-Legende erblickte das Licht der Öffentlichkeit, mit Langzeitwirkung. Autor war im wesentlichen Fritz Tobias, ein Beamter des westdeutschen Inlandsgeheimdienstes. Als ein Fazit seiner Arbeit bezeichnete er die Erkenntnis (eine »geradezu verrückt zu nennende These«, so Soukup), dass Hitler sich erst durch den unerwarteten Brandanschlag radikalisierte und vor Schrecken zum Diktator wurde. Interessant an Tobias sind nicht so sehr sein zelotischer Charakter und seine effektiven Methoden, interessant ist sein Motiv. Und dazu gibt Soukups Buch Auskunft. Tobias hinterließ im Nachlass Papiere, die »der Mann lieber verbrannt hätte«, weil sie ihn verraten. Es war nicht die Liebe zur Wissenschaft, die ihn antrieb.
Ende 1951 arbeitete Tobias noch als Referent der Nachrichtenpolizei, einer für politische Straftaten zuständigen Abteilung im niedersächsischen Innenministerium. Hier musste er sich auch »um heikle personelle Aufträge« kümmern. Zum Beispiel bei Pressepolemiken von kommunistischer oder nichtkommunistischer Seite gegen NS-belastete Beamte im öffentlichen Dienst, zumal in der Kriminalpolizei. Er meinte hierbei zu erkennen, mit welch gewissenlosen Fälschungen die feindliche Propaganda vorgeht. Und dies bereits seit dem kommunistisch inspirierten Braunbuch von 1933. Wenn es gelingen könnte, dessen Hauptthese zu widerlegen, dann – so der Amateurhistoriker Tobias wörtlich – wäre »diese geschichtliche Korrektur imstande, endlich die ebenso ungerechtfertigte wie unerschöpfliche Quelle der Kommunisten zu verstopfen, die sie skrupellos bis auf den heutigen Tag für ihre ständigen, demagogisch keineswegs unwirksamen hetzerischen Angriffe gegen die Bundesrepublik, ihre leitenden Persönlichkeiten in der Regierung, in der Polizei, aber auch in der SPD und den Gewerkschaften benutzt haben«. So formulierte er im März 1963 in einem Bericht an seine Vorgesetzten, damit sie seine zeitaufwendige Arbeit und deren »politische Bedeutung für den heutigen Abwehrkampf gegen die aus dem Osten herandrängende Propagandaflut« verstünden.
Hintergrund dieser neunseitigen Stellungnahme war eine Dienstaufsichtsbeschwerde vonseiten eines Gegenspielers mit dem Vorwurf, Tobias hätte seine Position im Verfassungsschutz missbraucht. Der begründete Verdacht lautete, dass Tobias unter anderem zu privaten Zwecken Auskünfte aus dem Berlin Document Center (dort lagerte die zentrale Mitgliederkartei der NSDAP) eingeholt habe. Tobias führte aus, dass seine Recherchearbeit in der 50er Jahren mit Wissen und Billigung von höchster Stelle, auch von Ministerpräsident Kopf, geschah. »Keiner der Herren hat jemals den Verwendungszweck der benötigten Unterlagen und Dokumente in irgendeiner Form begrenzt.« Zugunsten seiner Alleintäter-Forschungen hatten ihn die Herren sogar arbeitsmäßig entlastet. Historiographie als Geheimdienstaufgabe!
Hier muss man kurz Luft holen und Soukup zitieren: »Offenbar ist die Einzeltäterthese entstanden, um (der DDR-Propaganda) etwas entgegenzusetzen. Weil die Bundesrepublik sich in der Nachkriegszeit massiven Vorwürfen von links ausgesetzt sah, in Politik und Verwaltung ehemalige Nationalsozialisten zu beschäftigen.« Tobias ging in seinem Übereifer so weit, konservative wissenschaftliche Kritiker seiner Sicht mit Herrschaftswissen zu erpressen. Das musste der Leiter des Münchner Instituts für Zeitgeschichte erfahren, der seine zweijährige Mitgliedschaft in der NSDAP ungern publik werden lassen wollte. Der Historiker Benjamin Hett besuchte 2008 den hochbetagten Tobias in seinem Arbeitszimmer und fragte ihn einleitend: Warum die ganze Aufregung? Die Antwort war knapp, aber deutlich: »Sie denken, die Kommunisten sind weg? Ihr Staat ist weg, sie nicht.«
Letzter Anstoß für Soukup, ein neues Buch über den Reichstagsbrand zu schreiben, war die Publikation des britischen Forschers Richard Evans über Das Dritte Reich und seine Verschwörungstheorien vor zwei Jahren. Es war ein Beispiel dafür, dass selbst erfahrene Historiker die Argumente der Tobias-Jünger ungeprüft nachplappern, als wären es gesicherte Erkenntnisse.
Uwe Soukup hat ein übersichtlich gegliedertes und gut lesbares Buch verfasst, bei dem ich als Rezensent nur an einer Stelle nörgeln würde: Für eine triviale Erkenntnis Heinrich A. Winkler, den Hofhistoriker der SPD, zu zitieren, war überflüssig (S. 131). Dem sorgfältigen Leser könnte der Anmerkungsteil recht dünn erscheinen. Doch das ist Absicht – Soukup beherzigte nämlich den Rat seines Meisters Sebastian Haffner: Ein breitenwirksames Buch muss so handlich sein, dass man es abends im Bett lesen kann.
Uwe Soukup: Die Brandstiftung. Mythos Reichstagsbrand – was in der Nacht geschah, in der die Demokratie unterging, Wilhelm Heyne Verlag, München 2023, 208 S., 22 €.