Irre ich mich nicht, stellen Ohrfeigen schon seit Einführung des aufrechten Ganges ein beliebtes multikulturelles Mittel der Züchtigung, Zurechtweisung und Kränkung dar. Schließlich sind sie stets auf unser am höchsten getragenes Körperteil gemünzt, und da wiederum auf unser Gesicht. Und wer wüsste nicht um die Schande, sein Gesicht zu verlieren – Staatspräsidenten und hohe Richter wissen es besonders gut.
Demnächst jedoch, mit dem Siegeszug der Zeit (gegen den Raum), dürften die Ohrfeigen ausgedient haben. Sogenannte Sanktionen oder Drohnen gegen ganze Länder sind offenkundig ungleich heftiger, vor allem aber nicht so leicht sichtbar und nachweisbar wie Ohrfeigen. Man wird auch die Abc-Schützen nicht mehr ohrfeigen, vielmehr durch ein harmloses Schild, das unvermutet auf ihrem Notebook erscheint, an ihre Pflichten als tüchtige Konsumenten, VerleumderInnen und Nato-Mitglieder erinnern. Falls es dann noch rebellisch gestimmte SchülerInnen gibt, werden sie einander von folgenden Vorfällen ins Ohr flüstern.
1915 ohrfeigte der Schriftsteller Leonhard Frank in einem Berliner Café den sozialdemokratischen Journalisten Felix Stössinger, weil dieser die Versenkung des britischen Passagierschiffs RMS Lusitania durch deutsche U-Boote als »größte Heldentat der Menschheitsgeschichte« bezeichnet hatte. Die Heldentat sorgte für knapp 1.200 Tote und zudem, nach der Ohrfeige, für Franks Emigration in die Schweiz. Hätte er heute Scholz oder Baerbock geohrfeigt, wegen des Ausverkaufs an die Yankees und an Kiew? Baerbock niemals, denn damals stand gerade die Frauenemanzipation hoch im Kurs.
Mitte April 1956 pinkelte der bekannte Wiener Literaturkritiker und Autorenförderer Hans Weigel die noch prominentere Burgtheater-Schauspielerin Käthe Dorsch im örtlichen Blatt Bild-Telegraf wegen ihrer Bühnendarbietung an, wie sie fand. Prompt lauerte sie ihm vor seinem Stammcafé Raimund auf und haute ihm eine runter. Die 80 Mark Strafe beglich sie locker aus ihrem Nähkästchen, falls sie eins hatte.
Ein noch heute unter Antifaschisten berühmtes Glanzlicht setzte Beate Klarsfeld am 7. November 1968 auf einem CDU-Parteitag in Berlin. Als der amtierende Bundeskanzler Kurt Kiesinger das Podium erklommen hatte, ging die kämpferische Journalistin zu ihm und ohrfeigte ihn, weil sie ihn für einen Nazi a.D. hielt und als solchen öffentlich brandmarken wollte. Noch am selben Tag sah sich Klarsfeld durch ein amtsgerichtliches Schnellverfahren zu 12 Monaten Haft verurteilt. Das entsetzte damals sogar den Spiegel (Nr. 46). Immerhin blieb Klarsfeld der Strafantritt aufgrund ihrer französischen Staatsangehörigkeit erspart. Ein Jahr darauf wurde die Strafe in vier Monate auf Bewährung abgemildert. Ob jedoch hart oder mild, es blieb eine Strafe.
Eine Sache ist, dass mir das ewige Gewettere gegen eine Gewalt, die angeblich nur aus Armmuskeln oder Schusswaffen kommt, seit etlichen Jahrzehnten auf den Keks geht. Gerichtsbeschlüsse, Behördenbescheide, Schlagzeilen, Gehirnwäsche und väterliche Seitenblicke haben schon mindestens genauso viel Unheil wie Waffen und Fäuste angerichtet. Aber für jene »sanfte« Gewalt gibt es keine Zollstöcke, während Gewehre und Einschusslöcher wunderbar zählbar sind. Eine andere Sache ist freilich, ob man überhaupt strafen sollte. In den Freien Republiken meiner utopischen Erzählungen hat der Irrglaube, Strafen besserten oder schreckten ab, so wenig Nährboden wie der weltweit beliebte Rachedurst. Zwang wird bestenfalls zwecks vorübergehenden Schutzes der Gemeinschaft gebilligt. Wenn ja, ist er durch die unmittelbaren Beteiligten auszuüben, und nicht etwa durch eine staatliche Züchtungsmaschinerie. Ansonsten werden nicht »Straftäter« oder gar »potentielle« Straftäter, vielmehr Nährböden bekämpft – beispielsweise für rassistisches Gedankengut, Habgier, Hochmut. Hier gehört selbstverständlich auch das Gift des Patriotismus hin. In ihrer nachgelassenen Schrift Einführung in die Nationalökonomie erwähnt Rosa Luxemburg die Sitte, bei Flurumgängen in der germanischen Mark Kindern Ohrfeigen zu verabreichen. Hatten die etwa auch schon Schulausflüge? In gewisser Weise ja. Die Kinder und Jugendlichen hatten teilzunehmen, um sich die Grenzverläufe und wohl auch die Rituale gut einzuprägen. Die Ohrfeigen wirkten wie Stempel. Man denkt hier unweigerlich an manche indianischen Initiationsriten, die sicherlich oft grauenhaft waren. Das Motto lautete »Gebranntes Kind scheut das Feuer«.
Bekanntlich wurden Luxemburg und Liebknecht im Januar 1919 heimtückisch von den damaligen Berliner »Sicherheitskräften« ermordet. Weder deren Anführer Waldemar Pabst, ein Hauptmann, noch dessen sehr wahrscheinlicher Anstifter Gustav Noske, SPD-Mitglied und Reichskriegsminister, wurden jemals von der demokratischen oder faschistischen Justiz behelligt. Für Pabst, der erst 1970 mit knapp 90 starb, war der Doppelmord zeitlebens eine unumgängliche »Hinrichtung« gewesen. In der westdeutschen Demokratie widmete er sich vor allem dem Waffenhandel. Am 8. Februar 1962 sprach ihn die Adenauerregierung insofern nachträglich frei, als sie im Bulletin des Presse- und Informationsamtes verlauten ließ, was Liebknecht und Luxemburg damals widerfuhr, sei eine »standrechtliche Erschießung« gewesen. Hauptmann Pabst bestreite seine Verantwortung nicht, versichere jedoch, er habe in höchster Not und in der Überzeugung gehandelt, nur so habe man den Bürgerkrieg beenden und Deutschland vor dem Kommunismus retten können. Dieses »Argument« mauserte sich bald zum beliebten Muster. Unsere jüngsten Impftoten halfen ja gleichfalls höchste Not abwenden.
Selbstverständlich wäre es einfältig, Leute wie Noske, Spahn, Baerbock bessern zu wollen. In Freie Republiken kommen die nebenbei gar nicht erst rein. Auch hindert keine Abschreckung der Welt die nachdrängenden Karrieristen daran, die neusten Schlupflöcher zu den Futtertrögen der Macht aufzuspüren. Was das Krankmachende an der Straflosigkeit unserer Eliten ist, muss man wohl Gerechtigkeitsempfinden nennen. Es macht nicht Noske, Spahn oder Baerbock krank, sondern Leute wie mich. Als wäre unsere gleichsam natürliche Ohnmacht (die wir der Kinderstube oder der falschen Klassenzugehörigkeit verdanken) nicht schon genug des Gebrechens – und der Strafe. Wahrscheinlich wird uns unser Gerechtigkeitsempfinden auch noch ohrfeigen, wenn alles online läuft.