Schlimm, wie sich die Bundesregierung nach 1990 noch so vertun konnte! Da hielt sie doch tatsächlich »eine Armee nur für ›militärische Polizeieinsätze‹ für nötig (…). ›Aber dass jetzt auf einmal wieder der Landkrieg zurückgekommen ist, darauf sind wir nicht vorbereitet. Und das müssen wir tun‹. (…) Auch Einsatzszenarien zur Landesverteidigung müssten reaktiviert werden« (junge Welt, 22.03.2024, Robert Habeck zitierend). Für dieses Müssen wäre es ideal, wenn sich z. B. das THW vor Beitrittsanträgen von allzeit an ihrem jeweiligen Platz Bereiten nicht retten könnte. Das vorherrschende Gefühl, von Feinden umstellt zu sein, und dass es nun »um die Wurst« gehe, inspiriert – zu einem guten Aktivismus. (»Mach mit!« auf dem Kriegstrimmpfad.)
Solch löbliches Engagement ist eingebettet in einen tatkräftigen Entwurf zur Zukunftssicherung Europas. Der schon am 30.01.2023 an der Hertie School gehaltene Vortrag von Paolo Gentiloni, EU-Kommissar für Wirtschaft und Währung, fasste den Willen der Union so: »Weckruf für Deutschland und Europa«, »wir können nicht outsourcen«, »unseren Energiebedarf nicht nach Russland«, »unsere Sicherheit nicht an die USA«, »unsere Industrie nicht nach China«. Laut Gentiloni erheischt das von der EU »Veränderungen, von denen es kein Zurück mehr geben wird«, denn: »Wir stehen vor einer dreifachen Herausforderung für unsere Wettbewerbsfähigkeit: hohe Energiepreise, die Industriepolitik anderer Länder und der Zugang zu wichtigen Rohstoffen und Technologien.« Das bedeutet: »bei Innovationen an vorderster Front bleiben«. Für den »grünen Wandel« stellt die EU-Kommission jährliche Milliardenbeträge bereit. Unter dem Titel »Gestaltung der digitalen Zukunft Europas« nimmt sie sich vor, ihre KI zu »einem Drehkreuz von Weltrang« auszubauen. »Dies wird ein Wendepunkt sein, der es Europa ermöglicht, seine Ambitionen zu verstärken und weltweit führend bei der Entwicklung modernster, vertrauenswürdiger KI zu werden.« Die Transformationsziele wollen finanziert sein; aus dem Anspruch, auf dem Weltmarkt auch in Konkurrenz zur Schutzmacht USA stärker als bisher mitzumischen oder diesen im Idealfall zu dominieren, resultieren der monströse Kreditbedarf eines seiner Attraktivität für Geldanleger gewissen EU-Haushalts und eine nachsichtigere Handhabung der Schuldenbremse.
Zugleich versäumen es die EU und »an vorderster Front« Deutschland im Vertrauen auf ihren jetzigen und künftigen Zuwachs an Schlagkraft nicht, sich selbst als eventuell »autonomen Block« auf den Zustand ihrer Kriegsfähigkeit zu befragen. Zwar ergibt die Besichtigung der verfügbaren Euro-Gewaltmittel noch nicht die Option, sich bei militärischer Verfolgung von der Nato-Einbindung nennenswert zu emanzipieren, aber der Windschatten des großen Bruders kann auch etwas einbringen. Zum Beispiel die Chance, dass die amerikanischen Forderungen an Europa, mehr Kriegskosten zu übernehmen, auch seinen militärischen Handlungsspielraum fördern – u. a. mit mehr Mitsprache bei nuklearer Teilhabe, vielleicht sogar der Etablierung einer wirklichen Atommacht Europa, nach der die Zeitenwende schließlich verlangt.
Mit einer Vielzahl von ausdifferenzierten Aufgaben, Selbstverpflichtungen und Umsetzungsschritten trägt die aktuelle Version des EU-Haushalts den Herausforderungen Rechnung: dem beanspruchten Rang in der Weltmarktkonkurrenz sowie dessen angestrebter Gewährleistung durch Gewaltmittel. Für sich reklamiert die EU eine globale Überholspur, auf der kein Tempolimit gilt; beim Antreten zum Weltwettrennen im »Overdrive« stimmt die Rasanz von Rüstungsfortschritten zuversichtlich. Die werden schon dafür sorgen, dass nicht »wir« im Graben landen. Oder? Fest steht jedenfalls schon jetzt: No risk, no fun!