Das Finanzamt für Körperschaften I Berlin entzog der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA) Anfang November den Status der Gemeinnützigkeit, verbunden mit existenzbedrohenden Steuernachforderungen. Als Rechtfertigung dient die Behauptung in Verfassungsschutzberichten Bayerns, der dortige Landesverband der VVN-BdA sei »linksextremistisch beeinflusst« (vgl. Ossietzky 24/2019). Dieser Skandal veranlasste den 94-jährigen Günter Pappenheim, einen Brief an Bundesfinanzminister Olaf Scholz zu richten.
Er schildert darin die familiäre Situation in seinem Elternhaus und erinnert daran, dass sein Vater, Ludwig Pappenheim, einer der Begründer der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands in Schmalkalden war und das Vertrauen der Menschen genoss, weil er mit seinem Verständnis von sozialdemokratischer Politik für die Durchsetzung ihrer Interessen eintrat. Im Frühjahr 1932 schlugen Nazis in seinem Wohnhaus die Fensterscheiben ein und riefen öffentlich zum Mord auf: »Schlagt die Judensau tot!« Ohne Haftbefehl wurde Ludwig Pappenheim am 25. März 1933 verhaftet und unter fadenscheinigen Gründen trotz seiner Immunität als Parlamentarier unter »Schutzhaft« gestellt. Nach Misshandlungen und Folter brachten ihn die Hitlerfaschisten am 4. Januar 1934 im KZ Neusustrum bestialisch um. Seiner Frau, seit 1925 ebenfalls aktive Sozialdemokratin, wurde es verwehrt, ihren Mann in Schmalkalden zu bestatten. Sie erhielt keine staatliche Unterstützung und hatte für vier Kinder zu sorgen.
Ihren Sohn Günter verhaftete die Gestapo am 14. Juli 1943 nach einer Denunziation. Gestapo-Beamte misshandelten ihn im Gefängnis Suhl und brachten ihn in das Arbeitslager Am Gleichberg. Von dort verschleppten die Nazis ihn in das KZ Buchenwald, wo er fortan der Häftling Nummer 22514 war. Dank der solidarischen Hilfe solcher Kameraden wie des Sozialdemokraten Hermann Brill und des Kommunisten Walter Wolf gehörte er zu den 21.000 Überlebenden des Konzentrationslagers, die am 19. April 1945 auf dem Appellplatz den »Schwur von Buchenwald« leisteten. Dessen Kern-aussage »Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel.« wurde Günter Pappenheim ebenso wie den meisten seiner Kameraden zur Lebensmaxime. Und als sich 1947 die VVN als gesamtdeutsche überparteiliche Verfolgtenorganisation gründete, gehörte er zu den ersten Mitgliedern.
In seinem Brief fragt er den Bundesfinanzminister: »Lässt sich vorstellen, wie ich mich als Vizepräsident des Internationalen Komitees Buchenwald-Dora und Kommandos schäme, meinen Kameraden sagen zu müssen, dass wir in Deutschland, das sich rühmt, ein freiheitlich-demokratischer Rechtsstaat zu sein, regierungsamtlich wieder Verfolgte sind? Soll ich meinen Kameraden erklären müssen, dass die vom AfD-Funktionär, dem Faschisten Höcke, geforderte ›geschichtspolitische Wende um 180 Grad‹ jetzt staatlicherseits betrieben wird, indem mit fadenscheinigsten Begründungen der Verfolgtenorganisation die materielle Handlungsfähigkeit entzogen wird? Muss ich meinen französischen Kameraden, die den Präsidenten der Republik Frankreich veranlassten, mich als Antifaschisten zum ›Kommandeur der Ehrenlegion‹ zu ernennen, jetzt erklären, dass in Deutschland Antifaschismus nicht gemeinnützig, weil politisch ist?« Günter Pappenheim bezeichnet es als »eine Schande, dass mit der Zerschlagung dessen, was wir 1945 als antifaschistischen Konsens verstanden, gewartet wurde, bis fast keine Zeugen faschistischer Verbrechen mehr vorhanden sind, um ihre protestierende Stimme erheben zu können.« Er müsse »feststellen, dass wohlklingende Forderungen in deutschen Politikerreden, die offen sichtbare Rechtsentwicklung zurückdrängen zu müssen, nicht glaubhaft sind, wenn zugleich zivilgesellschaftliche Kräfte, wie sie in der VVN-BdA, bei Attac oder Campact agieren, in finanzielle Fesseln gelegt werden«. Unter den Bedingungen immer dreister, frecher, anmaßender, gewaltsamer und öffentlichkeitswirksamer werdenden Handelns rechtsextremer Kräfte zielgerichtet Gegenbewegungen auszuschalten, bezeichnet Günter Pappenheim als nicht nur grob fahrlässig, sondern höchst gefährlich. Die mahnenden Gedanken des Antifaschisten und Zeitzeugen Günter Pappenheim sollten vom Bundesfinanzminister und seinen Beamten gut bedacht werden.