Ich schreibe Ihnen diesen Brief als jüdischer Nachkomme einer Familie, die durch die Nazizeit ermordet, in die ganze Welt zerstreut, aber auch, wie meine Eltern und vieler ihrer Freunde, in politischer Verantwortung aus weltweiter Emigration sowie den Konzentrationslagern nach Deutschland zurückkehrten, in der ersehnten Hoffnung, mitzuhelfen, nach 1945 ein antifaschistisches, friedliebendes, soziales und demokratisches Deutschland aufzubauen. Der Schwur von Buchenwald formulierte dieses Ideal: »Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus!« Ich schreibe Ihnen diesen Brief aus tief empfundener Sorge, dass dieses wertvolle Nachkriegserbe derzeit verspielt und vollständig zerstört wird. Ich weiß mich in dieser großen Sorge dabei mit vielen jüdischen wie nicht jüdischen Nachkommen aus antifaschistischen Familien einig.
In Erwägung, dass Millionen Ukrainer und Russen bereits im 1. und besonders im 2. Weltkrieg ihr Leben durch deutsche Waffen und deutsche Soldaten verloren haben und dass gerade die »Rote Armee«, zusammen, mit Ukrainern und Russen, entscheidend dazu beitrug, die Osteuropäer und schließlich auch die Deutschen vom Hitlerregime und vom singulären Völkermord an den Juden zu befreien, sollten deshalb nicht ausgerechnet deutsche Waffen dazu beitragen, diesen sinnlosen Krieg in der Ukraine zu verlängern und immer weiter eskalieren zu lassen. Das führt nur dazu, dass alle umkämpften Gebiete in der Ukraine und Russlands weiter in Schutt und Asche gelegt werden und weiterhin Tausende von Kriegsopfer und millionenfaches Flüchtlingselend erzeugt werden.
In Erwägung, dass die sozialdemokratischen Bemühungen von Willy Brandt und Egon Bahr, durch ihre mutige Entspannungs- und Deeskalationspolitik, durch eine Politik der kleinen Schritte und schließlich durch den KSZE-Prozess entscheidend dazu beitrugen, dass die Mauern des »Kalten Krieges« 1989 fielen und damit auch die deutsche Wiedervereinigung möglich wurde. Das gelang nur, durch eine couragierte Abwendung von einer konservativen, westlichen Konfrontationspolitik. In Ihrem Parteiprogramm finden sich deshalb folgende Schlüsselsätze: »Die internationale Politik der (…) Sozialdemokratie dient dem Ziel, Konflikte zu verhindern und Frieden zu schaffen. Unsere Prinzipien dafür sind Verständigung, internationale Solidarität und gemeinsame Sicherheit durch Kooperation. (…) Umfassende Sicherheit lässt sich nur gemeinsam lösen. (…) Wir knüpfen an die erfolgreiche Entspannungspolitik Willy Brandts in Europa an. (…) Wir plädieren für eine neue Entspannungspolitik, die Verständigung ermöglicht, Aufrüstung vermeidet und friedliche Lösungen von Konflikten ermöglicht.«
In Erwägung, dass Genscher und Kohl sich gegenüber Gorbatschow verpflichtet hatten, außer auf dem Gebiet der DDR keine Nato- Osterweiterung und damit keine Militarisierung ganz Osteuropas, einschließlich der Ukraine, vorzunehmen, als Gegenleistung für den Abzug der sowjetischen Truppen aus allen diesen Gebieten.
In Erwägung, dass das Grundgesetz und ihr Amtseid Sie dazu verpflichten, »Schaden vom deutschen Volk abzuwenden« und keinesfalls die deutsche Bevölkerung immer weiter in einen globalen Krieg hinein zu ziehen, der zugleich Millionen ukrainischer Flüchtlinge nach Deutschland bringt, sowie alle, ohnehin fragilen Sozialsysteme kollabieren lässt, die Lebenshaltungskosten immer weiter in die Höhe und den Staatshaushalt immer tiefer in die Schuldenkrise treibt und schließlich den Rechtsradikalen und Neonazis fortlaufend die Hände spielt.
In Erwägung, dass Geist und Buchstaben der UN-Charta gerade nicht dazu ermächtigen, Kriege zu unterstützen und zu führen, sondern formuliert wurde, um Kriege zu verhindern, wenn es in ihrer Präambel an erster Stelle heißt: »Wir, die Völker der Vereinten Nationen – fest entschlossen, künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren, die zweimal zu unseren Lebzeiten unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat.«
In Erwägung, dass nun doch erneut der Weltfrieden akut bedroht ist und die alten militärischen Konfliktherde zwischen Ost und West, Nord und Süd, sich immer weiter verschärfen.
In Erwägung, dass die vordringliche Bewältigung der ökologischen Krise und die damit zusammenhängende soziale Krise nur durch außerordentlich solidarische Anstrengungen der gesamte Weltgemeinschaft noch zeitnah möglich ist.
In Erwägung aller dieser Argumente, fordere ich Sie innständig auf: Lassen Sie es nicht zu, dass durch deutsche Politik und die der Nato-Verbündeten immer mehr Öl ins Feuer dieses sinnlosen Krieges gegossen wird. Leiten Sie dagegen eine Zeitenwende für eine Friedenslösung ein, bevor es für uns alle für immer zu spät ist. Stoppen Sie durch Ihr mutiges Veto als hauptverantwortlicher deutscher Politiker alle Rüstungslieferungen aus Deutschland und der Nato an die ukrainischen Machthaber, um sie von ihrer illusionären »Siegfrieden-Strategie« gegen Russland abzubringen, damit sie umgehend an den Verhandlungstisch mit der russischen Seite zurückkehren. Dieser Stopp der Rüstungslieferungen wäre auch ein echtes Verhandlungsangebot an die russische Führung und der erste Schritt für einen Waffenstillstand, dem schrittweise eine Verhandlungslösung folgen muss.
Werden Sie, auf dem Hintergrund der unheilvollen, singulären deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert und der friedensstiftenden sozialdemokratischen Traditionen und Programmatik Ihrer hohen politischen Verantwortung jetzt gerecht. Sie haben es mit in der Hand, Weltgeschichte zu schreiben, wenn Sie jetzt entscheidend dazu beitragen, sich an die Spitze einer weltweiten Friedenssehnsucht zu stellen und uns von der Geisel dieses sinnlosen globalen Krieges zu befreien!
Mit hoffnungsvollen Grüßen, im Vertrauen auf Ihre zähe Konfliktfähigkeit, Weitsicht und Vernunft!
Wolfgang Herzberg (Autor und Herausgeber biografischer Zeitzeugenberichte)