Als Deutschlands Außenministerin Annalena Baerbock im vergangenen Jahr Griechenland besuchte, hat sie auch das frühere Foltergefängnis der Nazi-Kommandantur in Athen besucht und am Holocaust-Mahnmal Blumen niedergelegt. Mit Blick auf die Nazi-Verbrechen in Griechenland während der Zweiten Weltkrieges sagte sie: Vielen Deutschen sei »Griechenland als Urlaubsort sehr vertraut, aber zu wenige wissen um das Ausmaß der Schuld, die Deutschland dort im Zweiten Weltkrieg durch die Gräueltaten der NS-Besatzung auf sich geladen hat«. Ihr sei wichtig, die Erinnerung an diese Verbrechen wachzuhalten, weil dies die Voraussetzung einer guten gemeinsamen Zukunft sei. Wörtlich betonte sie: »Die Verantwortung für die eigene Geschichte, die kennen wir, und die hat für uns keinen Schlussstrich.«
Zugleich aber hat Baerbock – wie bislang alle deutschen Regierungsvertreter zuvor – Reparations- und Entschädigungsforderungen für die Zerstörungen und das Leid während der deutschen Besatzung in den Jahren 1941 bis 1944/45 entschieden zurückgewiesen. Dieses Thema sei abgeschlossen. Die griechische Regierung hat dieser Behauptung postwendend entschieden widersprochen.
Zur Erinnerung: Es war Palmsonntag, der 6. April 1941, als die deutsche Wehrmacht in Griechenland einmarschierte, das Land binnen weniger Wochen unterwarf, ein brutales Besatzungsregime errichtete und begann, das Land auszurauben. Noch während der Kampfhandlungen wurden Kommandos zur »Beuteerfassung« aktiv. Die Deutschen »beschlagnahmten Nahrungsmittel und requirierten, was ihnen gefiel«, schreibt der britische Historiker Mark Mazower in seinem Standardwerk »Griechenland unter Hitler«. Ungerührt exportierten die Deutschen auch dann noch Nahrungsmittel ins Reich, als in den griechischen Städten bereits Zehntausende unter Hunger litten. Mit mehr als 100.000 Toten verursachten sie die schlimmste Hungersnot im faschistisch besetzen Europa – außerhalb des von den Nazis errichteten KZ-Systems und der später belagerten sowjetischen Metropole Leningrad. Vergeblich hatte sogar Mussolini bei Hitler auf eine Änderung der deutschen Politik gedrängt, die in Griechenland erstmals die für den Überfall auf die Sowjetunion entwickelten Pläne für einen Raub- und Vernichtungskrieg zur Anwendung brachte.
Den Griechen wurden maßlose Besatzungskosten auferlegt. Zu denen gehörte auch eine Milliarde teure Zwangsanleihe (»Besatzungskredit«). Als die deutschen Truppen sich schließlich 1944 aus Griechenland zurückziehen mussten, hinterließen sie »verbrannte Erde« und eine verelendete Gesellschaft: systematisch zerstörten sie vor ihrem Rückzug die Infrastruktur des Landes. 4,8 Prozent der damals 6,9 Millionen Einwohner Griechenlands überlebten das deutsche Besatzungsregime nicht.
»Es gibt kaum eine Familie in Griechenland, die keinen Verwandten unter den Opfern der Besatzung zu beklagen hätte, ob erschossen, vergast, im Widerstand gefallen, an Hunger und Krankheiten gestorben«, berichtet Aris Radiopoulos, Botschaftsrat im griechischen Außenministerium.
Der Diplomat arbeitete von 2011 bis 2018 in der griechischen Botschaft in Berlin, also während der für die aktuellen deutsch-griechischen Beziehungen prägenden Zeit der Banken- und Eurokrise. Es waren jene Jahre, als BILD und andere deutsche Medien gegen die »Pleite-Griechen« hetzten und griechische Zeitungen deutsche Politiker mit Hitler-Bärtchen karikierten. Es war die dramatische Zeit der sogenannten »Hilfspakete« und »Memoranden«, als vor allem auf deutschen Druck die »Troika« aus EU, Internationalem Währungsfonds und Weltbank der Regierung in Athen eine Ausweitung ihrer Staatsschulden sowie drakonische soziale Kürzungen und die Privatisierung öffentlicher Güter diktierte, um europäische Großbanken vor der Pleite zu retten. Auch Deutschlands bis heute unbezahlte Kriegsschulden gegenüber Griechenland wurden damals zum Thema einer erbitterten öffentlichen Kontroverse, in deren Verlauf die Sympathiewerte für Deutsche in Griechenland abstürzten.
Diese Auseinandersetzung habe in ihm das Bedürfnis wachsen lassen, »nach den Quellen zu schauen«, berichtet Radiopoulos. Im Archiv des griechischen Außenministeriums habe er 80.000 griechische und 20.000 deutsche Dokumente zur Frage der deutschen Kriegsschulden gesichtet. Das Ergebnis seiner Studien hat Radiopoulos 2019 in Athen veröffentlicht. Seit Ende 2022 liegt seine Quellenedition auch in deutscher Übersetzung im Metropol-Verlag vor: »Die griechischen Reparationsforderungen gegenüber Deutschland. Archivdokumente des griechischen Außenministeriums«. Radiopoulos hat das 600 Seiten starke Buch Anfang des Jahres im Rahmen einer Vortragsreise in mehreren deutschen Städten vorgestellt.
Minutiös beschreibt er auf Basis von 112 im Buch veröffentlichten Dokumenten, die auf 350 Seiten präsentiert werden, die verschiedenen Etappen der griechischen Reparationsforderungen aus dem Zweiten Weltkrieg gegenüber Deutschland. Beginnend mit der Pariser Reparationskonferenz 1945, die den Griechen eine Kriegsentschädigung in Höhe von rund 7,5 Milliarden US-Dollar zugesprochen hat, präsentiert er erstmals in deutscher Sprache die griechische Sicht der Forderungen und nimmt die Strategien, Argumente und Ziele beider Seiten unter die Lupe.
Er zeigt, dass das Hauptaugenmerk der deutschen Regierungen im Fall der Kriegsreparationsfrage auf die finanzielle Komponente ausgerichtet war. Das eindeutige deutsche Ziel war die Vermeidung von angemessenen Reparationssummen bis hin zur vollständigen Ablehnung jeglicher Zahlungen. Für dieses Ziel wurden diverse Taktiken angewendet und konstruierte Begründungen bemüht. Das gängigste Argument in den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten war, dass die griechische Seite von ihren Forderungen zurückgetreten sei. In den 1960er Jahren scheuten sich hochrangige Regierungsbeamte auch nicht, Unwahrheiten über griechische Diplomaten und Politiker zu verbreiten, um eine innergriechische Auseinandersetzung zu entfachen und die Aufmerksamkeit von der Einforderung der Reparationen abzulenken.
Als die Behauptung des vermeintlich persönlich zugesicherten Rücktritts von den Forderungen nicht zum Erfolg führte, wurde auf das Londoner Schuldenabkommen von 1953 verwiesen, wonach die Reparationsfrage zumindest vertagt wurde. Diese Taktik praktizierten die deutschen Regierungen bis zum Fall der Mauer.
Unmittelbar danach wechselte die deutsche Seite ihre zynische Argumentation: Jetzt war es für Reparationen angeblich zu spät, beziehungsweise mit dem Zwei-plus-vier-Vertrag habe sich die Frage juristisch erledigt.
Behauptungen, Athen habe in der Vergangenheit auf seine Forderungen verzichtet, weist Radiopoulos mit Verweis auf die Archivdokumente zurück: Nicht eine griechische Regierung sei in der Nachkriegszeit von irgendeinem Aspekt des Reparationskomplexes zurückgetreten. Das unterstreicht im Vorwort zum Buch auch der griechische Staatspräsident a. D., Prof. em. Prokopios Pavlopoulos: Nicht einmal die griechische Militärdiktatur in der Zeit von 1967 bis 1974 habe einen solchen Verzicht gewagt; auch bei dem durch Zwang und Erpressung dem Dritten Reich gewährten Besatzungskredit, den zurückzuzahlen die Bundesregierung sich bis heute weigert, könne von Verzicht oder Verjährung keine Rede sein. Eindeutig handele es sich bei dem Kredit um ein »vertragliches Schuldverhältnis«. Offen sei lediglich die Berechnung der Gesamtschuld, die Höhe der Verzugszinsen aufgrund der nicht fristgerechten Tilgung, mit der das Nazi-Regime damals immerhin schon begonnen hatte.
Wie Radiopoulos rät auch Pavlopoulos, die verbürgten griechischen Ansprüche auf der Basis des Völkerrechts international zum Thema zu machen. Bislang hätten die griechischen Regierungen keine systematisch organisierten Bemühungen unternommen, um die Frage in Griechenland selbst als auch im Ausland weiterzugbringen. Der Weltöffentlichkeit sei bis heute das »Ausmaß der Katastrophe, die die deutsche Besatzung über Griechenland brachte, noch viel zu wenig bekannt«. Auch gelte es, schreibt Radiopoulos, die deutsche Gesellschaft zu sensibilisieren und die griechische Gesellschaft in dieser Frage zu aktivieren. Der Diplomat beschreibt seine Erkenntnisse nüchtern-sachlich und ohne jede Polemik. Er präsentiert Fakten, die jeden gutwilligen Deutschen beschämen. Seine hervorragende Studie kann dazu beitragen, deutsch-griechische Missverständnisse auszuräumen und Falschbehauptungen zu korrigieren.
»Die Verantwortung für die eigene Geschichte kennen wir, und die hat für uns keinen Schlussstrich«, hat die deutsche Außenministerin in Athen erklärt. Sollte sie diese ihre Worte wirklich ernst meinen, dann sollte sie die Studie von Aris Radiopoulos als Chance und Basis für eine faktenbasierte Auseinandersetzung über die Kriegsschuldenfrage sehen, dann sollte endlich die deutsche Regierung Gespräche mit der Regierung in Athen über diese offenen Rechnungen, die das deutsch-griechische Verhältnis chronisch belasten, nicht länger verweigern. Nicht nur Radiopoulos ist davon »überzeugt, dass das Bedürfnis nach Gerechtigkeit so tief verankert ist, dass es nur einen Anlass braucht, das Thema wieder in den Vordergrund zu rücken«.