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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Ökohumanismus

Am Anfang war das Licht. Die ener­gie­rei­chen Son­nen­strah­len tra­fen auf eine unbe­leb­te Erd­ober­flä­che und auf die Ozea­ne. Die Strah­lung der Son­ne ver­wan­del­te sich schlicht in Wär­me, oder sie wur­de in den Welt­raum reflek­tiert. Es dau­er­te Jahr­mil­li­ar­den, bis eine Zel­le ent­stand, die die­se Pho­to­nen ein­fing und damit die Son­ne zum Antrieb mach­te für das Leben, wie wir es ken­nen. Wie sich aus der Ent­schlüs­se­lung des gene­ti­schen Codes fol­gern lässt, ist die bio­lo­gi­sche Evo­lu­ti­on immer wei­ter fort­ge­schrit­ten, von ein­fa­cher struk­tu­rier­ten zu zusam­men­ge­setz­ten Orga­nis­men. Dabei ging es weni­ger um einen schnö­den Kampf ums Dasein, wie man lan­ge dach­te, als viel­mehr um immer­zu neue Lösun­gen, eine ziem­lich unzu­ver­läs­si­ge und chao­ti­sche Umwelt ein wenig unter Kon­trol­le zu brin­gen. Die Lebe­we­sen stell­ten sich die­ser Her­aus­for­de­rung nicht in einem Kampf aller gegen alle, son­dern ent­wickel­ten neben Stra­te­gien im Wett­kampf auch alle nur erdenk­li­chen For­men der Kom­bi­na­ti­on und Kooperation.

Alle Mikro­ben, Pil­ze, Tie­re und Pflan­zen sind mit­ein­an­der ver­wandt, Teil eines gro­ßen Kon­ti­nu­ums, wel­ches trotz erheb­li­cher Umwäl­zun­gen und Stö­run­gen, wie das Her­um­wan­dern der Kon­ti­nen­tal­plat­ten auf dem Glo­bus, mas­si­ve Kli­ma­ver­än­de­run­gen, Ein­schlä­ge von Aste­ro­iden oder Schwan­kun­gen der Erd­ach­se, nach­hal­tig exi­stier­te. Das Leben dif­fe­ren­zier­te sich, über­zog immer grö­ße­re Tei­le der Erd­ober­flä­che und griff in Form von Wäl­dern, Savan­nen oder Moo­ren in die Atmo­sphä­re ein, ver­än­der­te den Tem­pe­ra­tur­haus­halt der Erde und den Was­ser­kreis­lauf, und es erzeug­te immer neue Mög­lich­kei­ten für sich selbst. Immer grö­ße­re Tei­le des Son­nen­lich­tes wur­den ein­ge­fan­gen und in dem gro­ßen glo­ba­len Bio­re­ak­tor in Arbeit und Struk­tu­ren umge­wan­delt. In die­sem lei­stungs­fä­hi­gen glo­ba­len Öko­sy­stem ent­stand der Mensch.

Was uns evo­lu­tiv so beson­ders und so stark gemacht hat, ist die Kom­bi­na­ti­on von ver­schie­de­nen Eigen­schaf­ten, die mehr oder weni­ger aus­ge­prägt auch bei ande­ren Arten vor­kom­men. Die beson­de­re Sozia­li­tät und die Koope­ra­ti­ons­fä­hig­keit gehö­ren dazu. Wir kom­mu­ni­zie­ren sehr effek­tiv, geben Wis­sen wei­ter und ent­wickeln Kul­tur. Der Mensch ist nicht das erste Tier, das sich selbst und sein Sein erkennt, aber vor uns gab es kei­ne Lebe­we­sen, die so inten­siv und tief­grei­fend über sich selbst, das eige­ne Schick­sal und das­je­ni­ge ande­rer nach­dach­ten. Es sind die­se aus­ge­präg­te Selbst­er­kennt­nis sowie die Fähig­keit über uns selbst und die Welt zu reflek­tie­ren und sie in Fra­ge stel­len zu kön­nen, die uns zu einer ein­zig­ar­ti­gen Spe­zi­es machen.

Die Men­schen sind ganz beson­de­re Lebe­we­sen. Nicht des­halb, weil sie eine Intel­li­genz ent­wickeln und vie­les wis­sen kön­nen. Viel­mehr sind wir nach heu­ti­gem Stand der Kennt­nis die ein­zi­gen Lebe­we­sen, die aus dem Wis­sen ein Ver­ant­wor­tungs­ge­fühl schöp­fen kön­nen. Die Bereit­schaft, Ver­ant­wor­tung zu über­neh­men, ande­re Lebe­we­sen, mensch­lich und nicht­mensch­lich, zu lie­ben und sich für sie ein­zu­set­zen, lässt sich zu einem gewis­sen Teil ratio­nal erklä­ren. Zu einem ande­ren Teil beruht sie auf unse­rer aus­ge­präg­ten Emo­tio­na­li­tät. Wir sind empa­thisch, kön­nen Freu­de emp­fin­den, wenn ande­re sich freu­en; wir lei­den auch mit ande­ren – Lebens­freu­de, Lie­be, Mit­leid las­sen Wer­te und Prin­zi­pi­en in uns rei­fen und kön­nen Taten antrei­ben. Wir sind lebens­freund­lich, bio­phil, und wir sind den Men­schen zuge­wandt, mensch­lich. Zumin­dest gilt dies für gute Men­schen, die ein »Gutes Leben« füh­ren kön­nen. Die­ses Gute Leben ent­steht in Koope­ra­ti­on mit ande­ren Men­schen und mit der Natur.

Was ist ein Gutes Leben? Wohl eines, an dem wir uns erfreu­en, in einer Gemein­schaft. Es ist ein Leben, in dem wir unse­re Mensch­lich­keit ent­fal­ten dür­fen, wäh­rend wir in unse­rer Exi­stenz einen Sinn erken­nen und dabei han­deln kön­nen, ohne ande­ren Men­schen oder ande­ren Lebe­we­sen bzw. dem glo­ba­len Öko­sy­stem zu schaden.

Wer kann heu­te, am Anfang des 21. Jahr­hun­derts von sich behaup­ten, ein sol­ches Leben zu füh­ren? Zu vie­le von uns leben ziem­lich gut, ohne ein Gutes Leben zu füh­ren. Es ist kein Gutes Leben, weil unser Lebens­stil auf Aus­beu­tung und Zer­stö­rung beruht. Die­se sind oft­mals so sub­til und kom­plex orga­ni­siert, dass wir nicht mehr selbst die Wald­flä­chen roden müs­sen, die für den Anbau unse­rer Nah­rung benö­tigt wer­den. Wir mögen uns nicht das Aus­ster­ben von Arten wün­schen, die Wüsten­bil­dung oder den Kli­ma­wan­del. Aber alles wird für uns orga­ni­siert, oder es pas­siert als Fol­ge unse­res Kon­sums. Wir müs­sen kei­nen ande­ren Men­schen per­sön­lich ver­skla­ven oder dazu zwin­gen, unter men­schen­un­wür­di­gen Bedin­gun­gen auf Fel­dern und in Fabri­ken zu arbei­ten. Aber sie sind für uns da und beschaf­fen uns bil­li­ge Baum­wol­le, Klei­dung, Bana­nen, Kakao, Nüs­se und vie­les mehr. Wir brau­chen kei­ne flüch­ten­den Men­schen auf dem Weg in unse­re Län­der zu töten, aber sie ster­ben in sin­ken­den Boo­ten im Mit­tel­meer oder an einem Grenz­zaun in Weiß­russ­land oder Mexi­ko. Wir mögen ande­ren Men­schen genau­so viel Was­ser, Nah­rung und Lebens­freu­de wün­schen wie uns selbst, aber die Armut und die Not, die unse­re Märk­te und unse­re Treib­haus­gas­emis­sio­nen ent­ste­hen las­sen, sind den­noch real. Kann es ein Gutes Leben geben im falschen?

Seit einem hal­ben Jahr­hun­dert erken­nen wir die Gren­zen des Wachs­tums, aber wir wei­gern uns, sie zu sehen. Wir leben in tie­fer Öko­sy­stem­ver­ges­sen­heit und bene­belt von einer Fort­schritts­lü­ge, ent­fer­nen uns immer wei­ter von einem Leben, das vie­le von uns nach wie vor als gut und erstre­bens­wert bezeich­nen wür­den. Wir ver­hed­dern uns in Pfad­ab­hän­gig­kei­ten und Sach­zwän­gen. Wir pro­kra­sti­nie­ren. Die gro­ße Auf­schie­be­ri­tis: Welt­ret­tung spä­ter, Wachs­tum first – obwohl längst klar wird, dass sol­ches Wachs­tum auf einem klei­nen erschöpf­ten Pla­ne­ten ins Ver­der­ben füh­ren muss.

Es ist eigent­lich weder revo­lu­tio­när noch ori­gi­nell, dass man genau jetzt zur Ein­sicht kommt, dass es so nicht wei­ter­ge­hen kann. So sind wohl auch die not­wen­di­gen Schrit­te und Prin­zi­pi­en nahe­lie­gend, die es jetzt braucht.

Erstens müs­sen wir unser Welt- und Men­schen­bild in Ord­nung brin­gen. Wir, die Men­schen, sind Teil des glo­ba­len Öko­sy­stems, eine abhän­gi­ge Kom­po­nen­te. Wenn wir das igno­rie­ren und das grö­ße­re Gan­ze zer­stö­ren, das uns trägt, wer­den wir aus­ster­ben. Punkt.

Zwei­tens müs­sen wir das ent­fal­ten, was uns beson­ders macht und zu einem Guten Leben ver­hel­fen kann: die Menschlichkeit.

Drit­tens müs­sen wir alles, was wir tun, an die­sen Prin­zi­pi­en aus­rich­ten. Es ist Zeit für einen neu­en Huma­nis­mus, der auch einen Glau­ben an die Men­schen umfasst – weni­ger ein Ver­trau­en in unse­re Tech­no­lo­gie als viel­mehr in unse­re Fähig­keit, ein Gutes Leben oder ein Gutes Zusam­men­le­ben, um es mit Alber­to Aco­sta zu sagen. Die­ser neue Huma­nis­mus bedeu­tet kei­ne Ver­herr­li­chung von uns Men­schen, son­dern auch ein scho­nungs­lo­ses Auf­decken unse­rer Schwä­chen, die es ein­zu­he­gen gilt. Die­ser Huma­nis­mus ist ins Öko­sy­stem zurück­zu­brin­gen. Er muss zum Ökoh­u­ma­nis­mus werden.

Sol­cher Ökoh­u­ma­nis­mus wur­zelt glei­cher­ma­ßen in unse­rem Wis­sen um uns und um die Welt wie in der Begei­ste­rung für das Mensch­sein. Er geht davon aus, dass wir Ver­ant­wor­tung füh­len und über­neh­men kön­nen für unse­re zwei­fels­oh­ne akti­ve Rol­le auf dem Pla­ne­ten. Genau­so aber ruht er auf den Prin­zi­pi­en von Demut, Vor­sicht und Vorsorge.

Als eine Phi­lo­so­phie des Anthro­po­zän soll­te Ökoh­u­ma­nis­mus das Den­ken pro­vo­zie­ren. Dies gilt ganz all­ge­mein sowie für alle rele­van­ten spe­zi­fi­schen Lebens­be­rei­che, die unser Gutes Leben aus­ma­chen (oder zer­stö­ren) kön­nen. Inso­fern gene­riert eine ökoh­u­ma­ni­sti­sche Betrach­tung auf der Grund­la­ge sehr simp­ler Prin­zi­pi­en ziem­lich gro­ße Fra­gen. Die­se betref­fen das Instru­men­ta­ri­um wie Wirt­schaft und Tech­no­lo­gie glei­cher­ma­ßen wie das, was uns zu dem macht, was wir sind – unse­re Wer­te und die Bil­dung (mehr dazu unter www.oekohumanismus.de). Eini­ge Fra­gen sind ziem­lich hei­kel, wie etwa jene nach dem Eigen­tum. Sie wur­den in der Geschich­te zwar bereits gestellt, aber offen­bar haben bis­lang alle Syste­me kei­ne guten Ant­wor­ten gege­ben. Denn sonst hät­ten wir aktu­ell kein Pro­blem mit unse­rem Guten Leben.

 Jörg Som­mer ist Sozi­al­wis­sen­schaft­ler, Jour­na­list und seit 2009 Vor­stands­vor­sit­zen­der der Deut­schen Umwelt­stif­tung. Kürz­lich erschien sein gemein­sam mit Pierre Ibisch ver­fass­tes Buch »Das Ökoh­u­ma­ni­sti­sche Mani­fest. Unse­re Zukunft in der Natur«, Hir­zel Ver­lag, 176 S., € 15. (Mehr zu den The­sen die­ses Mani­fests auf www.oekohumanismus.de)