Am Anfang war das Licht. Die energiereichen Sonnenstrahlen trafen auf eine unbelebte Erdoberfläche und auf die Ozeane. Die Strahlung der Sonne verwandelte sich schlicht in Wärme, oder sie wurde in den Weltraum reflektiert. Es dauerte Jahrmilliarden, bis eine Zelle entstand, die diese Photonen einfing und damit die Sonne zum Antrieb machte für das Leben, wie wir es kennen. Wie sich aus der Entschlüsselung des genetischen Codes folgern lässt, ist die biologische Evolution immer weiter fortgeschritten, von einfacher strukturierten zu zusammengesetzten Organismen. Dabei ging es weniger um einen schnöden Kampf ums Dasein, wie man lange dachte, als vielmehr um immerzu neue Lösungen, eine ziemlich unzuverlässige und chaotische Umwelt ein wenig unter Kontrolle zu bringen. Die Lebewesen stellten sich dieser Herausforderung nicht in einem Kampf aller gegen alle, sondern entwickelten neben Strategien im Wettkampf auch alle nur erdenklichen Formen der Kombination und Kooperation.
Alle Mikroben, Pilze, Tiere und Pflanzen sind miteinander verwandt, Teil eines großen Kontinuums, welches trotz erheblicher Umwälzungen und Störungen, wie das Herumwandern der Kontinentalplatten auf dem Globus, massive Klimaveränderungen, Einschläge von Asteroiden oder Schwankungen der Erdachse, nachhaltig existierte. Das Leben differenzierte sich, überzog immer größere Teile der Erdoberfläche und griff in Form von Wäldern, Savannen oder Mooren in die Atmosphäre ein, veränderte den Temperaturhaushalt der Erde und den Wasserkreislauf, und es erzeugte immer neue Möglichkeiten für sich selbst. Immer größere Teile des Sonnenlichtes wurden eingefangen und in dem großen globalen Bioreaktor in Arbeit und Strukturen umgewandelt. In diesem leistungsfähigen globalen Ökosystem entstand der Mensch.
Was uns evolutiv so besonders und so stark gemacht hat, ist die Kombination von verschiedenen Eigenschaften, die mehr oder weniger ausgeprägt auch bei anderen Arten vorkommen. Die besondere Sozialität und die Kooperationsfähigkeit gehören dazu. Wir kommunizieren sehr effektiv, geben Wissen weiter und entwickeln Kultur. Der Mensch ist nicht das erste Tier, das sich selbst und sein Sein erkennt, aber vor uns gab es keine Lebewesen, die so intensiv und tiefgreifend über sich selbst, das eigene Schicksal und dasjenige anderer nachdachten. Es sind diese ausgeprägte Selbsterkenntnis sowie die Fähigkeit über uns selbst und die Welt zu reflektieren und sie in Frage stellen zu können, die uns zu einer einzigartigen Spezies machen.
Die Menschen sind ganz besondere Lebewesen. Nicht deshalb, weil sie eine Intelligenz entwickeln und vieles wissen können. Vielmehr sind wir nach heutigem Stand der Kenntnis die einzigen Lebewesen, die aus dem Wissen ein Verantwortungsgefühl schöpfen können. Die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen, andere Lebewesen, menschlich und nichtmenschlich, zu lieben und sich für sie einzusetzen, lässt sich zu einem gewissen Teil rational erklären. Zu einem anderen Teil beruht sie auf unserer ausgeprägten Emotionalität. Wir sind empathisch, können Freude empfinden, wenn andere sich freuen; wir leiden auch mit anderen – Lebensfreude, Liebe, Mitleid lassen Werte und Prinzipien in uns reifen und können Taten antreiben. Wir sind lebensfreundlich, biophil, und wir sind den Menschen zugewandt, menschlich. Zumindest gilt dies für gute Menschen, die ein »Gutes Leben« führen können. Dieses Gute Leben entsteht in Kooperation mit anderen Menschen und mit der Natur.
Was ist ein Gutes Leben? Wohl eines, an dem wir uns erfreuen, in einer Gemeinschaft. Es ist ein Leben, in dem wir unsere Menschlichkeit entfalten dürfen, während wir in unserer Existenz einen Sinn erkennen und dabei handeln können, ohne anderen Menschen oder anderen Lebewesen bzw. dem globalen Ökosystem zu schaden.
Wer kann heute, am Anfang des 21. Jahrhunderts von sich behaupten, ein solches Leben zu führen? Zu viele von uns leben ziemlich gut, ohne ein Gutes Leben zu führen. Es ist kein Gutes Leben, weil unser Lebensstil auf Ausbeutung und Zerstörung beruht. Diese sind oftmals so subtil und komplex organisiert, dass wir nicht mehr selbst die Waldflächen roden müssen, die für den Anbau unserer Nahrung benötigt werden. Wir mögen uns nicht das Aussterben von Arten wünschen, die Wüstenbildung oder den Klimawandel. Aber alles wird für uns organisiert, oder es passiert als Folge unseres Konsums. Wir müssen keinen anderen Menschen persönlich versklaven oder dazu zwingen, unter menschenunwürdigen Bedingungen auf Feldern und in Fabriken zu arbeiten. Aber sie sind für uns da und beschaffen uns billige Baumwolle, Kleidung, Bananen, Kakao, Nüsse und vieles mehr. Wir brauchen keine flüchtenden Menschen auf dem Weg in unsere Länder zu töten, aber sie sterben in sinkenden Booten im Mittelmeer oder an einem Grenzzaun in Weißrussland oder Mexiko. Wir mögen anderen Menschen genauso viel Wasser, Nahrung und Lebensfreude wünschen wie uns selbst, aber die Armut und die Not, die unsere Märkte und unsere Treibhausgasemissionen entstehen lassen, sind dennoch real. Kann es ein Gutes Leben geben im falschen?
Seit einem halben Jahrhundert erkennen wir die Grenzen des Wachstums, aber wir weigern uns, sie zu sehen. Wir leben in tiefer Ökosystemvergessenheit und benebelt von einer Fortschrittslüge, entfernen uns immer weiter von einem Leben, das viele von uns nach wie vor als gut und erstrebenswert bezeichnen würden. Wir verheddern uns in Pfadabhängigkeiten und Sachzwängen. Wir prokrastinieren. Die große Aufschieberitis: Weltrettung später, Wachstum first – obwohl längst klar wird, dass solches Wachstum auf einem kleinen erschöpften Planeten ins Verderben führen muss.
Es ist eigentlich weder revolutionär noch originell, dass man genau jetzt zur Einsicht kommt, dass es so nicht weitergehen kann. So sind wohl auch die notwendigen Schritte und Prinzipien naheliegend, die es jetzt braucht.
Erstens müssen wir unser Welt- und Menschenbild in Ordnung bringen. Wir, die Menschen, sind Teil des globalen Ökosystems, eine abhängige Komponente. Wenn wir das ignorieren und das größere Ganze zerstören, das uns trägt, werden wir aussterben. Punkt.
Zweitens müssen wir das entfalten, was uns besonders macht und zu einem Guten Leben verhelfen kann: die Menschlichkeit.
Drittens müssen wir alles, was wir tun, an diesen Prinzipien ausrichten. Es ist Zeit für einen neuen Humanismus, der auch einen Glauben an die Menschen umfasst – weniger ein Vertrauen in unsere Technologie als vielmehr in unsere Fähigkeit, ein Gutes Leben oder ein Gutes Zusammenleben, um es mit Alberto Acosta zu sagen. Dieser neue Humanismus bedeutet keine Verherrlichung von uns Menschen, sondern auch ein schonungsloses Aufdecken unserer Schwächen, die es einzuhegen gilt. Dieser Humanismus ist ins Ökosystem zurückzubringen. Er muss zum Ökohumanismus werden.
Solcher Ökohumanismus wurzelt gleichermaßen in unserem Wissen um uns und um die Welt wie in der Begeisterung für das Menschsein. Er geht davon aus, dass wir Verantwortung fühlen und übernehmen können für unsere zweifelsohne aktive Rolle auf dem Planeten. Genauso aber ruht er auf den Prinzipien von Demut, Vorsicht und Vorsorge.
Als eine Philosophie des Anthropozän sollte Ökohumanismus das Denken provozieren. Dies gilt ganz allgemein sowie für alle relevanten spezifischen Lebensbereiche, die unser Gutes Leben ausmachen (oder zerstören) können. Insofern generiert eine ökohumanistische Betrachtung auf der Grundlage sehr simpler Prinzipien ziemlich große Fragen. Diese betreffen das Instrumentarium wie Wirtschaft und Technologie gleichermaßen wie das, was uns zu dem macht, was wir sind – unsere Werte und die Bildung (mehr dazu unter www.oekohumanismus.de). Einige Fragen sind ziemlich heikel, wie etwa jene nach dem Eigentum. Sie wurden in der Geschichte zwar bereits gestellt, aber offenbar haben bislang alle Systeme keine guten Antworten gegeben. Denn sonst hätten wir aktuell kein Problem mit unserem Guten Leben.
Jörg Sommer ist Sozialwissenschaftler, Journalist und seit 2009 Vorstandsvorsitzender der Deutschen Umweltstiftung. Kürzlich erschien sein gemeinsam mit Pierre Ibisch verfasstes Buch »Das Ökohumanistische Manifest. Unsere Zukunft in der Natur«, Hirzel Verlag, 176 S., € 15. (Mehr zu den Thesen dieses Manifests auf www.oekohumanismus.de)