Deutschland pflegt sein Image als Land der Dichter und Denker, als reiche Kulturnation. Da kann man es nur als Absicht werten, wenn bei all dem tradierten Reichtum ein öffentlich-rechtliches Fernsehen gedeiht, das die von Kant beklagte, selbstverschuldete Unmündigkeit fortschreibt. Offenbar hat die politische Klasse kein Interesse an wissenden, selbstbestimmten Bürgern. Staatliche Maßnahmen sollen nicht in Zweifel gezogen werden. In diesem Sinne ist die deutsche Sender- und Presselandschaft von geistiger Armut geprägt. Der welterfahrene Journalist und Buchautor Peter Scholl-Latour sprach von »medialer Massenverblödung«. Die Deutungshoheit über die Meinung von Mehrheiten ist, erst recht im digitalen Zeitalter, ausschlaggebend für den Machterhalt. »Indoktrination«, so Noam Chomsky, »ist keineswegs inkompatibel mit Demokratie.« Sie sei vielmehr ein Wesenszug von ihr. »Ohne Knüppel, ohne Kontrolle durch Gewalt, muss man das Denken kontrollieren.«
Bevor die Struktur hinter dieser geistigen Armut näher betrachtet wird, soll die Existenz positiver Ausnahmen ausdrücklich gewürdigt werden. Meist auf der Mitternachtsschiene finden sich, sei es auf 3sat, ARTE oder Phönix, gelegentlich hervorragende Filme und Reportagen. Und verglichen mit Sendern etwa in Italien, Frankreich oder erst recht den USA, ist das deutsche Fernsehen doch noch informativer und analytischer.
Aber ist das ein Trost? Glaubt man etwa, den grundgesetzlichen Bildungsauftrag mit der Dominanz von Gewalt in Krimis, Thrillern oder Horrorfilmen und mit affirmativen Nachrichten abzudecken? Wie der wissenschaftliche Dienst des Bundestages schon 2006 feststellte, ist das, was Rundfunk und Fernsehen unter Bildung verstehen »weitgehend ungeklärt« und der Kulturbegriff der Sender »unscharf«. Dabei hat ein verfassungsrechtliches Gutachten des Medienrechtlers Hubertus Gersdorf bestätigt, dass die Politik berechtigt wäre, striktere Vorgaben im Sinne des Bildungsauftrages zu machen. Sie darf zwar nicht konkret inhaltlich eingreifen, aber könnte durchaus konkretisieren, dass der Schwerpunkt der Sendetätigkeit bei Information, Bildung und Beratung zu liegen hat. Und eben nicht bei einfältiger Unterhaltung.
Das Gutachten hat ergeben, dass in einer zufällig ausgewählten Programmwoche Anfang 2018 im ZDF in der besten Sendezeit zwischen 19 und 23 Uhr insgesamt 555 Minuten Krimis und nur 75 Minuten Dokumentationen gelaufen sind. Über ein ganzes Jahr gemessen wird die Unkultur, also die geistige Armut, noch offensichtlicher: 2015 gab es im ZDF 437 Krimi-Erstausstrahlungen, aber nur zehn neue Dokumentationen. ZDFinfo, ein Dokumentations-Wiederholungskanal, kann dabei keine Ausrede sein, denn es geht ums Hauptprogramm, das immer noch die meisten Zuschauer hat.
Aber wer sind diese Zuschauer noch? Das Durchschnittsalter des ARD-Publikums lag 2016 bei 60 Jahren. Die 14- bis 19jährigen machten gerade mal acht Prozent der Zuschauer des Senders aus. Der Versuch von ARD und ZDF, mit dem »Online-Content-Netzwerk« funk.net ein Angebot für Jugendliche zu schaffen, mag ein richtiger Versuch sein, ein Durchbruch ist es nicht. Die auch für kommerzielle Social-Media-Plattformen wie Youtube, Facebook, Twitter oder Instagram produzierten Beiträge sind ebenfalls von Unterhaltungsformaten dominiert. Bildung im engeren Sinne decken die öffentlich-rechtlichen Sender nicht ab. Während des digitalen Unterrichts im Shutdown zeigte sich, dass weder didaktisch professionelle Wissensvermittlung des Schulstoffes in Reserve liegt, noch evaluiertes Material für die Lehrerbildung. Ein Mangel, der sozial Benachteiligte besonders traf.
Der präzisierende Rundfunkstaatsvertrag erteilt den öffentlich-rechtlichen Sendern den Auftrag, einen »Prozess freier, individueller und öffentlicher Meinungsbildung« zu bewirken. »Sie haben Beiträge insbesondere zur Kultur anzubieten.« Außerdem soll ein »umfassenden Überblick« über das internationale, nationale und regionale Geschehen gegeben werden, um der internationalen Verständigung und dem gesellschaftlichen Zusammenhalt zu dienen. Doch beides befindet sich auf einem Tiefpunkt. Information allein ist kein Wert, wenn sie einseitig oder ohne Neuigkeitswert ist, wenn sie nicht Kernthemen aufgreift, die zum Verständnis der Zeit beitragen. Simpelste journalistische Grundsätze werden hierzulande immer wieder missachtet. Etwa den, dass im Konfliktfall beide Seiten gehört werden müssen. Die Regeln unseres Feindbildjournalismus besagen vielmehr, dass die Gegenseite unter keinen Umständen Gehör verdient, da sie a priori nur Propaganda verbreitet.
Allseits wird die Erosion der Kommunikationskultur beklagt, der Autoritätsverfall der Medien. Die öffentlichen Sender haben das sogenannte »Content Management« eingeführt, zu dem gehört, dass die Redakteure und Autoren ihr »Material« in einen Pool eingeben müssen, wodurch sie die Kontrolle darüber weitgehend verlieren. Der »eigene« Beitrag wird verändert, gekürzt, ergänzt, neu zusammengesetzt. Substanzielle, analytische Sendeformate wurden zugunsten seichter, leicht verdaulicher und kurzer Formate ausgetauscht.
Mit den privaten Rundfunkanstalten setzte sich auch im Öffentlich-Rechtlichen Rundfunk (ÖRR) die marktgerechte Quote als wichtigste Bemessungsgrundlage für »Qualität« durch. Sie dient nebenbei der Zensur kritischer, unbequemer Beiträge, denn differenzierte Gedanken und gründliche Erläuterungen brauchen Zeit. Auch in den Redaktionsstuben für die Belieferung der »sozialen« Medien werden allein die »Likes« gezählt. Folgerichtig werden qualitativ hochwertige Dokumentationen (wenn überhaupt) nur noch im Nachtprogramm gezeigt.
Und längst werden Nachrichten mit Hilfe von Algorithmen erstellt. Softwareprogramme werten die Reaktionen von Zuschauern, Radiohörern oder Lesern aus. Was die höchste Quote oder die meisten Klicks erfährt, wird automatisch und in Varianten wiederholt. Geistige Verarmung als Geschäftsmodell.
Einerseits erleben wir eine Faktenarmut, eine Postfaktizität, in der Vorurteile stärker und beständiger sind als politisches Wissen. Wir nähern uns Hannah Arendts Warnung: »Die idealen Untertanen totalitärer Herrschaft sind Menschen, für die die Unterscheidung zwischen Fakten und Fiktion und zwischen wahr und falsch nicht mehr existieren.« Die Sensation oder das Schüren von Empörung durch Populismus haben ihren Marktwert bekommen.
Angesichts der Zustände im Lande und weltweit ist Empörung andererseits ein notwendiger Schritt zu Emanzipation und Veränderung – man denke nur an die aufrüttelnde Schrift »Empört Euch!« des damals 93jährigen französischen Widerstandskämpfers und UN-Diplomaten Stéphane Hessel. Sein Aufruf zu politischem Widerstand war durch die Integrität seiner Biografie und die Überzeugungskraft seiner Argumente auch in Deutschland ein beachtlicher Erfolg. Doch es gibt einen Unterschied zwischen informierter Entrüstung über Ausbeutung, Kriegseinsätze, Machtgier oder die Manipulation durch die Medien – und der populistisch geschürten Empörung ohne moralische Wertmaßstäbe.
Wie werden im ÖRR jene Journalisten behandelt, die aufdecken, was Regierenden gefährlich werden könnte? Abschreckende Beispiele sprechen sich unter Kollegen herum – wie dieses: 2003 drehte der Dokumentarfilmer Frieder Wagner für die WDR-Reihe »Die Story« die Dokumentation »Der Arzt und die verstrahlten Kinder von Basra« über die Folgen des Einsatzes radioaktiver und zusätzlich hoch giftiger Uran-Munition im Irak-Krieg. Eine Waffe, die sowohl Panzer sprengt, wie auch Soldaten und Zivilbevölkerung qualvoll erkranken und sterben lässt. Im Film schildert ein Arzt auf bedrückende Weise das Leiden der Kinder in der Hafenstadt Basra. Wissenschaftler befürchten, dass die Uranmunition in den am meisten betroffenen Regionen im Irak, in Afghanistan oder im Kosovo 5 bis 7 Millionen Menschenleben kosten wird. Wer für diesen Genozid zur Verantwortung gezogen wird, ist nicht nur eine berechtigte, sondern – wie man meinen sollte – auch eine verpflichtende, journalistische Frage.
Unter den Bedingungen geistiger Verarmung sieht es jedoch anders aus: Frieder Wagner hat für diese Dokumentation 2004 den Europäischen Filmpreis bekommen. Später bekannte er in einem Interview auf heise.de: »Allerdings war das auch mein letzter Film für einen deutschen Sender. Alle von mir eingereichten Themen wurden abgelehnt.« Ihm wurde hinter vorgehaltener Hand zu verstehen gegeben, dass seine Vorschläge »besonders schwierig« seien. In einem der 360 meist empörten Kommentare zu der im Interview beschriebenen Praxis hieß es: »Die Unabhängigkeit der Öffentlich-Rechtlichen ist ein Treppenwitz.«
Die Glaubwürdigkeit der Nato- und regierungsnahen Berichterstattung hält sich für viele Zuschauer und Hörer in Grenzen. Aber fast alle Programmbeschwerden des Bürgerportals der Medienanstalten oder der Publikumskonferenz über Falschdarstellungen werden von den öffentlichen Sendeanstalten selbstgerecht zurückgewiesen oder nicht beantwortet. Die Medien sind meist arm an Einsicht, dafür aber reich an Diffamierung ihrer Kritiker. Kritische Stimmen, auch die auf den alternativen Webseiten, werden neuerdings gern rechts verortet, ohne dies im Detail zu belegen. Medienanstalten sind außerdem dazu übergegangen, konkurrierende Plattformen wegen angeblicher Verletzung der journalistischen Sorgfaltspflicht zu verklagen, während sie selbst vor solchen Verfahren sicher sind.
Angst und Vorsicht von Journalisten sind gewachsen. Redakteure haben ein feines Echolot in den Apparat, von dem ihre Karriere abhängt. »Schwierige« oder unbequeme Themen werden erst gar nicht vorgeschlagen. Wissenschaftler aus Münster und Hamburg haben 1536 Journalisten befragt und bestätigt bekommen, dass viele die innere Pressefreiheit als gefährdet ansehen und sich immer weniger von ihrer Arbeit ernähren können. Oder nur dann, wenn sie einen Bauchladen mit oberflächlichen Beitrags-Häppchen anbieten. In der Interview-Reihe »Leute« auf SWR 1 sagte die erfahrene Journalistin Franziska Augstein: »Das Gewerbe ist diktiert von den monetären Interessen großer Konzerne.« Journalisten seien dermaßen schlecht bezahlt und hätten so wenig Chance zu recherchieren, dass die Qualität ihrer Arbeit bedroht sei. Sie seien oft angewiesen auf Crowdfunding, Stiftungen und Stipendien. »Ich kann niemandem raten, Journalist zu werden.«
»Die erste Freiheit der Presse besteht darin, kein Gewerbe zu sein«, hatte Karl Marx in der Rheinischen Zeitung geschrieben und ergänzt: »Deine Freiheit ist nicht meine Freiheit, ruft die Presse dem Gewerbe zu.« Die Freiheit des Gewerbes hat längst gesiegt – Journalismus ist ein Geschäftsmodell. Auf dem rechtspolitischen Kongress der SPD vor über vierzig Jahren sagte der spätere Bundesverfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde, es gäbe keine akzeptablen Vorschläge, wie die Pressefreiheit unter der Dominanz von Privateigentum zu sichern sei. Und dabei ist es geblieben. Die privatrechtliche Logik hat auch die Öffentlich-Rechtlichen ergriffen. Erinnert sei auch an das Urteil des BVG vom März 2014, in dem der ZDF-Staatsvertrag wegen des überproportionalen staatlichen Einflusses in den Aufsichtsorganen als verfassungswidrig erklärt wurde. Doch Tagesschau-Chefredakteur Gniffke bekennt danach, Kern seines Auftrages sei, die offizielle Politik abzubilden. Nein, Kern des Auftrages ist es, durch unabhängige und unparteiische Berichterstattung die Voraussetzungen für eigene Urteilsbildung zu liefern. Denn eine solche Fähigkeit zu erlangen, ist der eigentliche Kern von Freiheit.
Auch wenn in diesem Text davon ausgegangen wird, dass die öffentlich-rechtlichen Sender ihren Programmauftrag nicht erfüllen, ist er kein Plädoyer zu ihrer Abschaffung, sondern eine nachdrückliche Abmahnung im Namen von Hörern und Zuschauern. Zur Pressefreiheit gehört auch die Freiheit zur Kritik an der Presse. Doch Mängel am eigenen Produkt zu offenbaren, gehört offenbar nicht zum Geschäftsmodell. Ein Modell, das geistige Armut weder überwinden kann, noch will.