Seit Jahrhunderten glauben Menschen Horoskopen, die aus der Stellung der Gestirne Prophezeiungen für den Einzelnen herleiten. Das geschieht in Widerspruch zu jeder zuverlässigen wissenschaftlichen Erkenntnis. Ebenso ist die Gewissheit derer unwissenschaftlich, ja obskur, die als Querdenker und Impfgegner durch die Lande ziehen. Es gibt diese Menschen in großer Zahl. Selbst in Gegenden, wo lange eine wissenschaftliche Weltanschauung vorherrschend war, im Osten Deutschlands, stirbt dieser Obskurantismus nicht aus, sondern erhält aktuelle Nahrung durch Gerüchte und nicht verarbeitete Ideologien aus der Zeit vor 1945 (ich verwende nicht den Begriff von der »Verschwörungsideologie«, denn Verschwörungen gab es wirklich, so jene, über die 1946 in Nürnberg gerichtet wurde). Über das Jahr 1945 und den Bewusstseinsstand der Deutschen schrieb Franz Josef Degenhardt: »Und als von tausend Jahren / nur elf vergangen waren / im letzten Jahr vom Krieg / da lag die Welt in Scherben / und Deutschland lag im Sterben / und schrie noch Heil und Sieg.« Viele beleben dieses »Heil und Sieg« wieder.
Eine Studie von Martin C. Winter behandelt auch die Nachgeschichte der Massenverbrechen von 1945 vor der Haustür der Bevölkerung. In seinem Buch »Gewalt und Erinnerung im ländlichen Raum – Die deutsche Bevölkerung und die Todesmärsche« berichtet er über die zumeist gescheiterte juristische Ahndung durch die alliierte und westdeutsche Justiz. Die Erinnerungsarbeit der Opferverbände, auch der VVN, setzte zwar früh ein, jene der Behörden und der Einrichtungen des Bildungswesens sehr spät. So war es im Westen.
Nicht übersehen werden darf jedoch: In beiden deutschen Staaten blieb die Mitschuld der »kleinen Leute« zumeist unbeachtet. In der Erinnerungsarbeit an die Todesmärsche lag allerdings die DDR vorn, das geht aus der Studie Winters hervor. Betont wurde dort die Rolle der den Naziopfern helfenden Antifaschisten – wenn es die gab, und es gab sie. Freie Deutsche Jugend und Junge Pioniere, ganze Schulen, gingen den Weg der Todesmärsche nach, legten Blumen nieder, wo der Staat Gedenksteine errichtet hatte. Sie schrieben Gedenkbücher und sprachen mit jenen, die nun alt waren, in ihrer Jugend aber Solidarität organisierten. Eine solche freundliche Behandlung des Themas »verordneter Antifaschismus«, wie sie Winter vornimmt, war bisher unbekannt. Egon Krenz, der ehemalige Pionier- und FDJ-Vorsitzende, resümierte in einer Mail an mich: »Die Todesmärsche spielten in der Pflege der antifaschistischen Traditionen der DDR eine sehr große Rolle. Die FDJ und ihre Pionierorganisation haben da viele und vielfältige Ideen verwirklicht« (so zitiere ich es in unserem Buch »Mörderisches Finale – NS-Verbrechen bei Kriegsende 1945«, Köln 2020).
Doch weder in Winters noch in unserem Buch wird übersehen, was die FDJ und die Gedenkarbeit der DDR übersah: Es gab nicht nur die Widerstandskämpfer, die z. B. den Opfern auf den Todesmärschen halfen; Es gab vor allem die »kleinen Leute« in ganz Deutschland, die den Opfern feindselig gegenübertraten, sich an den »Hasenjagden« auf Fliehende beteiligten, ja sogar zu Mördern wurden.
Die faschistische Gesinnung war tief verankert. In ihrem ersten Aufruf nach dem Krieg erklärte die KPD am 11. Juni 1945, es müsse »in jedem deutschen Menschen das Bewusstsein und die Scham brennen, dass das deutsche Volk einen bedeutenden Teil der Mitschuld und Mitverantwortung für den Krieg und seine Folgen trägt«; breite Bevölkerungsschichten hätten »das elementare Gefühl für Anstand und Gerechtigkeit verloren« und seien Hitler gefolgt.
In der DDR wurde oft davon gesprochen, man habe den Schutt aus den Städten wie aus den Köpfen zu beseitigen. Aber wie ging das vor sich? Wurde nicht dem Volk Absolution erteilt? Alle waren nun gute Bürger des antifaschistischen Staates? Hat man die Mörder aus den Reihen der »kleinen Leute« aufgespürt? Diese erstarrten doch kurz zuvor vielfach in größter Furcht vor dem Kriegsende. Es lag die Furcht vor dem vor, was ein Wilhelm Brinkmann aus Dortmund-Aplerbeck geschrieben hat. Er berichtete seiner Frau im April 1944 von der »Partisanenjagd« und vom Verschleppen von Zivilisten. »Ich habe viel Elend und manche Träne gesehen. Wenn der Krieg verloren gehen sollte, dann sehe ich sehr schwarz, denn die anderen machen es ebenso.« Es waren unsere lieben Nachbarn, von denen viele von der Angst getrieben handelten: Wenn die ehemaligen Gefangenen nun uns das antun, was wir ihnen und ihren Landsleuten antaten – dann Gnade uns Gott.
An dieser Stelle ist an den Massensuizid von Demmin zu erinnern. Das war eine Massenselbsttötung von nahezu eintausend Zivilisten, die sich in der vorpommerschen Kleinstadt Demmin zwischen dem 30. April und dem 5. Mai 1945 ereignete, als die Rote Armee kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges den Ort erreichte.
Vorher hatte sich dort wie überall in Deutschland eine große Masse aus Hitlerjugend und Volkssturm unter Führung örtlicher NSDAP-Größen als Mordgehilfen der SS betätigt. Dies sich vor Augen führend, wird erkennbar, mit welchen Leuten wir es in den Jahren nach 1945 zu tun hatten. Nicht alles, was damals in den Köpfen der Leute steckte, ist heute überwunden, vieles wird in Krisenzeiten reaktiviert. Und zwar im Osten Deutschlands mehr als im Westen. In der BRD war diese Erinnerung nie ganz verschüttet, es brauchte keine AfD, sie hervorzukehren; es gab schon früh die CDU, die FDP, die Deutsche Partei, den Bund Heimatvertriebener und Entrechteter.
Wie sieht es im Osten aus? Dort sieht der aktuelle faschistische Führer der AfD, Björn Höcke, bereits das Feuer des Faschismus sich neu entfachen, nachdem trotz realem Sozialismus und Grundgesetz der Nazibodensatz erhalten geblieben sei: »Wir werden auf jeden Fall alles tun, um aus dieser Lebensglut, die sich unter vierzig Jahren kommunistischer Bevormundung erhalten hat und der auch der scharfe Wind des nachfolgenden kapitalistischen Umbaus nichts anhaben konnte, wieder ein lebendiges Feuer hervorschlagen zu lassen« (lt. Süddeutsche Zeitung, 27.03.2020)
Der Führer hatte es ähnliches vorausgesehen. Adolf Hitler hat in seinem Testament vom 29. April 1945, kurz vor seinem Selbstmord, das »Opfer unserer Soldaten« als Kraftquell dafür bezeichnet, dass »in der deutschen Geschichte so oder so einmal wieder der Samen aufgehen (wird) zur strahlenden Wiedergeburt der nationalsozialistischen Bewegung und damit zur Verwirklichung einer wahren Volksgemeinschaft«. Josef Goebbels, der NS-Propagandachef, wusste gar, wann das sein wird. Er schrieb am 25. April 1945 in sein Tagebuch: »In fünf Jahren spätestens ist der Führer eine legendäre Persönlichkeit und der Nationalsozialismus ein Mythos«.
Nun hat es nicht fünf Jahre, sondern 75 Jahre gedauert, bis bei vielen das »lebendige« Feuer des Faschismus wieder »hervorschlägt« und ein verzweifelter Obskurantismus sich ultrarechts Bahn bricht.
Nachgeholfen wird mittels Strukturen, die im Verborgenen wirkten. Diese gehen auf den Herbst 1944 zurück, da Vertreter der SS und großer Konzerne auf einem Geheimtreffen in Straßburg beschlossen: Wir legen eine Kasse an, damit die Fortführung der Nazi-Partei eine Perspektive hat (Julius Mader: »Der Banditenschatz«, Berlin 1966). Noch reicht Höcke nicht der Deutschen Bank und Rheinmetall die Hand – oder umgekehrt. Doch wenn die umfassende Krise anders nicht überwunden werden kann, ist auch das Bündnis der ökonomischen Eliten mit den Rechtsaußen wieder denkbar. Und die Wahl von Friedrich Merz zum CDU-Vorsitzenden – mit überwältigender Stimmenzahl – ist auch kein Signal gegen Rechtsaußen und gegen das große Kapital. Der Multimillionär, Ex-BlackRock-Chef mit vielen Aufsichtsratsposten, rückt inhaltlich an die AfD heran, die er in das Bundestagspräsidium wählen und die er offenbar durch Übernahme rechter Positionen »entzaubern« will.