In Jan Brachmanns Nachwort zu dem Buch »Fantasie in Blau« von Tatjana Geringas liest man, dass die bekannte Pianistin nur noch selten in der Öffentlichkeit erscheine, dafür aber »plötzlich das Schreiben für sich entdeckt« habe. Und fast entschuldigend wird daran erinnert, dass auch andere große Pianisten geschrieben haben. Das ist eigentlich unnötig, denn wer heute in irgendeinem Kunstmetier tätig ist, der schreibt auch ein Buch. Die im Buch enthaltenen Erzählungen handeln, so verheißt es der Klappentext, vom Leben. Und das ist – wenig verwunderlich – bestimmt von der Musik. Alle Erzählungen haben in irgendeiner Weise mit ihr oder anderen Künsten zu tun. Werden mit Musik befasste Menschen beschrieben, so entstehen eindrucksvolle Figuren, andere hingegen bleiben oft etwas blass. Man erlebt Serjoscha (Schauspielstudent), der das Doppelleben seines Vaters detektivisch erforscht und selbst die Lust am Leben verliert, Alexej, von seiner Mutter zum Pianisten bestimmt, wird heimlich Pilot, Robert ist Tenor und liebt seinen Freund Oleg, an dem wiederum seine Mutter Gefallen findet, Musikschwärmerin Mela erlebt, was jedem Fan widerfahren kann: Das angehimmelte Idol, die berühmte Sängerin, hat äußerst schlechte Manieren, die Künstlerin Anna verliert ihr Kind … Das sind Sujets für spannende Geschichten, die aber nicht durchweg so geschrieben sind. Tatjana Geringas erzählt detailverliebt mit vielen Adjektiven, häuft Kleinigkeiten, ja Bagatellen auf, wo straff auf ein Ende zu erzählt werden müsste. So aber muss am Ende dem Leser ein Resümee verkündet werden: Was war damals (eigentlich) geschehen? Das ist nicht immer überzeugend.
Tatjana Geringas emigrierte vor mehr als vierzig Jahren aus der Sowjetunion in die Bundesrepublik Deutschland, erlebte eine internationale Karriere als Musikerin und Dozentin. »Unsere alte Heimat hat uns weggestoßen, und eine neue hat uns umarmt«, so wird sie im Nachwort zitiert. Dass sie Russland kulturell und menschlich mitgenommen hat, das ist zu spüren, wenn man ihre Texte liest. Die Warmherzigkeit der Schilderungen, des Erzählens, das Suchen nach einem Verstehen, auch einem kleinen Glück machen das deutlich. Nur eine Erzählung des Bandes weist eine gewisse Schärfe der Formulierung auf: »Über Los Angeles«. Aber gerade dort leuchtet etwas auf, was man sich häufiger im Buche wünscht: das Augenzwinkern, die Fähigkeit, sich selbst und andere nicht immer nur bitterernst zu nehmen. Hier wird, was sonst nicht geschieht, die Musik zum Gegenstand der Ironie.
Beim ersten Lesen des Buches überlegte ich, ob sich Parallelen zur russischen Literatur, vor allem auch der sowjetischen Zeit herstellen lassen. Bei wiederholter Lektüre wurde mir klar, dass das Suchen nach dem, was man mit dem großen Wort Menschlichkeit bezeichnet, was damals Bücher etwa von Baklanow oder Tendrjakow hierzulande zu gern gelesenen machte, auch bei Tatjana Geringas zu finden ist. Freilich darf man ihre Bezugspunkte auch im 19. Jahrhundert suchen, und wenn Tolstois »Anna Karenina« mit dem berühmten Satz beginnt, dass alle glücklichen Familien sich gleichen, die unglücklichen aber alle auf ihre Weise unglücklich seien, so scheint das bei Geringas Schreibprogramm so zu sein.
Das Buch enthält Fotos von Svetlana Tretyakova, die hübsch anzusehen sind, eine Beziehung zum Text konnte ich nicht immer herstellen. Der Grundbezug zur Musik hätte wohl ausgereicht, die Geschichten zu tragen.
Tatjana Geringas: »Fantasie in Blau«, aus dem Russischen von Christine Hengevoß und Thomas Kleinbub, Mitteldeutscher Verlag, 208 Seiten, 14 €