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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Nur selten glücklich

In Jan Brach­manns Nach­wort zu dem Buch »Fan­ta­sie in Blau« von Tat­ja­na Gering­as liest man, dass die bekann­te Pia­ni­stin nur noch sel­ten in der Öffent­lich­keit erschei­ne, dafür aber »plötz­lich das Schrei­ben für sich ent­deckt« habe. Und fast ent­schul­di­gend wird dar­an erin­nert, dass auch ande­re gro­ße Pia­ni­sten geschrie­ben haben. Das ist eigent­lich unnö­tig, denn wer heu­te in irgend­ei­nem Kunst­me­tier tätig ist, der schreibt auch ein Buch. Die im Buch ent­hal­te­nen Erzäh­lun­gen han­deln, so ver­heißt es der Klap­pen­text, vom Leben. Und das ist – wenig ver­wun­der­lich – bestimmt von der Musik. Alle Erzäh­lun­gen haben in irgend­ei­ner Wei­se mit ihr oder ande­ren Kün­sten zu tun. Wer­den mit Musik befass­te Men­schen beschrie­ben, so ent­ste­hen ein­drucks­vol­le Figu­ren, ande­re hin­ge­gen blei­ben oft etwas blass. Man erlebt Ser­joscha (Schau­spiel­stu­dent), der das Dop­pel­le­ben sei­nes Vaters detek­ti­visch erforscht und selbst die Lust am Leben ver­liert, Ale­xej, von sei­ner Mut­ter zum Pia­ni­sten bestimmt, wird heim­lich Pilot, Robert ist Tenor und liebt sei­nen Freund Oleg, an dem wie­der­um sei­ne Mut­ter Gefal­len fin­det, Musik­schwär­me­rin Mela erlebt, was jedem Fan wider­fah­ren kann: Das ange­him­mel­te Idol, die berühm­te Sän­ge­rin, hat äußerst schlech­te Manie­ren, die Künst­le­rin Anna ver­liert ihr Kind … Das sind Sujets für span­nen­de Geschich­ten, die aber nicht durch­weg so geschrie­ben sind. Tat­ja­na Gering­as erzählt detail­ver­liebt mit vie­len Adjek­ti­ven, häuft Klei­nig­kei­ten, ja Baga­tel­len auf, wo straff auf ein Ende zu erzählt wer­den müss­te. So aber muss am Ende dem Leser ein Resü­mee ver­kün­det wer­den: Was war damals (eigent­lich) gesche­hen? Das ist nicht immer überzeugend.

Tat­ja­na Gering­as emi­grier­te vor mehr als vier­zig Jah­ren aus der Sowjet­uni­on in die Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land, erleb­te eine inter­na­tio­na­le Kar­rie­re als Musi­ke­rin und Dozen­tin. »Unse­re alte Hei­mat hat uns weg­ge­sto­ßen, und eine neue hat uns umarmt«, so wird sie im Nach­wort zitiert. Dass sie Russ­land kul­tu­rell und mensch­lich mit­ge­nom­men hat, das ist zu spü­ren, wenn man ihre Tex­te liest. Die Warm­her­zig­keit der Schil­de­run­gen, des Erzäh­lens, das Suchen nach einem Ver­ste­hen, auch einem klei­nen Glück machen das deut­lich. Nur eine Erzäh­lung des Ban­des weist eine gewis­se Schär­fe der For­mu­lie­rung auf: »Über Los Ange­les«. Aber gera­de dort leuch­tet etwas auf, was man sich häu­fi­ger im Buche wünscht: das Augen­zwin­kern, die Fähig­keit, sich selbst und ande­re nicht immer nur bit­ter­ernst zu neh­men. Hier wird, was sonst nicht geschieht, die Musik zum Gegen­stand der Ironie.

Beim ersten Lesen des Buches über­leg­te ich, ob sich Par­al­le­len zur rus­si­schen Lite­ra­tur, vor allem auch der sowje­ti­schen Zeit her­stel­len las­sen. Bei wie­der­hol­ter Lek­tü­re wur­de mir klar, dass das Suchen nach dem, was man mit dem gro­ßen Wort Mensch­lich­keit bezeich­net, was damals Bücher etwa von Bak­la­now oder Ten­drja­kow hier­zu­lan­de zu gern gele­se­nen mach­te, auch bei Tat­ja­na Gering­as zu fin­den ist. Frei­lich darf man ihre Bezugs­punk­te auch im 19. Jahr­hun­dert suchen, und wenn Tol­stois »Anna Kare­ni­na« mit dem berühm­ten Satz beginnt, dass alle glück­li­chen Fami­li­en sich glei­chen, die unglück­li­chen aber alle auf ihre Wei­se unglück­lich sei­en, so scheint das bei Gering­as Schreib­pro­gramm so zu sein.

Das Buch ent­hält Fotos von Svet­la­na Tre­t­ya­ko­va, die hübsch anzu­se­hen sind, eine Bezie­hung zum Text konn­te ich nicht immer her­stel­len. Der Grund­be­zug zur Musik hät­te wohl aus­ge­reicht, die Geschich­ten zu tragen.

Tat­ja­na Gering­as: »Fan­ta­sie in Blau«, aus dem Rus­si­schen von Chri­sti­ne Hen­ge­voß und Tho­mas Klein­bub, Mit­tel­deut­scher Ver­lag, 208 Sei­ten, 14