»Utopien sind die Kraftquellen jeder Emanzipationsbewegung. Sie entspringen der Empörung über unerträgliche Zustände und öffnen den Blick auf ein gerechtes Gemeinwesen. In ihnen ist die Hoffnung auf Veränderung angelegt. Doch die kann nur gelingen, wenn aufgeklärtes Denken, wenn politische Urteilskraft zum Zuge kommt.« (Oskar Negt)
1516 entwarf der Engländer Thomas Morus in seinem Buch »Utopia« das Bild eines idealen Staatswesens. Morus gliederte sein »Utopia« – vom altgriechischen »Nichtort« oder »Nirgendwo« – in zwei Teile. Im ersten Teil schildert er die Begegnung mit einem portugiesischen Weltreisenden, der ihm von fremden Ländern erzählt, aber zuvor scharfe Kritik an den Verhältnissen in England übt. Für ungerecht und unsinnig hält dieser es beispielsweise, dass allenthalben Diebe zum Tode verurteilt und gehängt werden. Sie würden doch nur aus bitterer Not stehlen, verteidigt sie der Portugiese, während die Adligen »müßig wie die Drohnen von anderer Leute Arbeit leben« und ihre Pächter »bis aufs Blut schinden«. Die heftige Sozialkritik, die Morus seinem Gast in den Mund legt, gipfelt in den Worten: »Wo es noch Privatbesitz gibt, wo alle Menschen alle Werte am Maßstab des Geldes messen, da wird es kaum jemals möglich sein, eine gerechte und glückliche Politik zu treiben.«
Wie aber muss ein gerechtes Staatswesen beschaffen sein? Welche Sitten und Gesetze zeichnen eine friedliche, menschliche Gesellschaft aus? Wie lässt es sich ohne Geld und Privatbesitz wirtschaften? Der Gast antwortet darauf mit einem Bericht über den fiktiven Insel-Staat Utopia. Auf Utopia finden sich 54 Städte, »alle geräumig und prächtig, in Sprache, Sitten, Einrichtungen, Gesetzen genau übereinstimmend«. Die Gesellschaft Utopias ist egalitär. Gegessen wird zusammen in Gemeinschaftshäusern. Das Geld ist praktisch abgeschafft, die Güter werden nach Bedarf verteilt. Streit gibt es nicht, da mehr produziert wird, als verbraucht werden kann. Die Ursache für den Überschuss: In Utopia gibt es keine unproduktive, parasitäre Klasse von Adligen, oder hohen Geistlichen.
Thomas Morus, im Hauptberuf Diplomat, hat ohne Frage Ideen entwickelt, die für seine Zeit revolutionär waren: die Abschaffung des Privateigentums, gleicher Wohlstand für alle, religiöse Toleranz, allgemeine Krankenversicherung, Kultur von Kindesbeinen an. Doch sein Utopia ist auch die Hölle, es herrscht rigider Zwang. Wer reisen will, braucht beispielsweise eine Genehmigung. Wer ohne eine solche unterwegs ist, wird ausgepeitscht. Ehebruch wird mit Sklaverei bestraft, im Wiederholungsfalle mit dem Tode. Der Staat reguliert auch den individuellen Tagesablauf, das Kulturprogramm ist vorgeschrieben, die Freiheit des Einzelnen stark eingeschränkt.
Keine Gleichheit also ohne Kontrolle und Unterdrückung? Und umgekehrt: Keine »Freiheit« ohne Peitschen?
Die Geschichte hat uns gelehrt, dass viele Utopien, aus welchem Stoff sie auch geschneidert waren, im Geistesterror endeten, auf dem Schafott oder unter der Guillotine – im Gulag oder in Bautzen.. Das ursprünglich Gute oder gut Gemeinte verkehrte sich in sein Gegenteil. Der Idealismus trägt immer ein Stück Terror in sich. Wer das Gute nicht will, muss dazu gezwungen werden – und koste es sein Leben. Der Utopist wird für die Verteidigung der idealen Gesellschaft zum Diktator, dessen Ideen schließlich mit Gewalt durchgesetzt werden – wider die Natur des schwachen oder eigensinnigen oder von einer anderen Utopie träumenden Untertanen. Allgemeine Tugend lässt sich nur durch eine Verbotskultur erreichen, durch die brachiale Erziehung zum Guten, Wahren und Schönen.
Oder gibt es einen anderen Weg? Wer eine bessere Zukunft entwirft, eine Welt ohne Gewalt und soziale Ungerechtigkeit, ohne Ausbeutung und Naturzerstörung. ohne Gier und Gleichgültigkeit, ist nicht einfach ein Träumer. Indem wir uns ein besseres Morgen ausmalen, erkennen wir die Fehler, die Sünden der Gegenwart. Wir brauchen Utopien, wir brauchen Träume, wir brauchen die Empörung über die Diskrepanz zwischen dem Wirklichen und dem Möglichen.
Doch die utopischen Ideen scheinen uns auszugehen. Vielleicht weil wir umringt sind von Gegenwart, unentwegt konfrontiert mit schlechten Nachrichten, die wir, schon wegen ihrer Fülle, nicht mehr verarbeiten und beurteilen können. Tiefschürfende Fragen nach Hintergründen und die systematische Erklärung von Zusammenhängen fehlen – in den sozialen Medien sowieso, aber auch in den öffentlich-rechtlichen Radio- oder Fernsehsendern. Statt einer klugen Systemkritik und der Darstellung von Macht- und Interessensverhältnissen muss sofort wieder eine neue Schlagzeile her, muss immer schon die nächste Sensations-Sau durchs Dorf getrieben werden: Schlagzeilen statt Erzählungen, Quote statt Inhalt. Spiele statt Brot. Dazu die hysterische Propaganda der herrschenden Mitte. Journalisten als Erfüllungsgehilfen und mediale Scharfrichtet der Regierung und des Zeitgeistes.
Für das Nachdenken gibt es keine Vorbilder und keine Zeit. Übrigens auch nicht unter den Jungen. Für Analyse und Widerstand, für neue Konzepte und Lösungen, für das Erträumen von Utopien, die uns in Bewegung bringen, brauchen wir Ruhe und Klarheit, Konzentration und gelassenen Mut.
Doch über unseren Sehnsüchten liegt der graue Schleier der diffusen Informationsgesellschaft; unsere Hoffnungen werden zerfressen von der Angst vor irgendwelchen Schrecken, die man uns eingeredet hat, damit wir auch das nächste Sicherheits- und Überwachungspaket für unumgänglich halten; unsere Gedanken werden übertönt vom Getöse und Geflimmer der modernen Vergnügungen, in die wir vor der Komplexität der drängenden Fragen und vor dem anstrengenden Nachdenken flüchten.
Heute, ein halbes Jahrtausend nach Thomas Morus, kreist der Zukunftsdiskurs vor allem um technologische Projekte, um künstliche Intelligenz oder um synthetische Biologie. Der Code des Lebens soll sich einmal redigieren lassen, als wäre er ein Word-Dokument.
Die einzige mächtige Utopie ist die Digitalisierung, mit deren Hilfe angeblich alle Probleme gelöst werden können. Eine vollautomatische Zukunft mit intelligenten Zahnbürsten, lächelnden Pflegeroboter oder selbstfahrenden Autos, mit Drohnen zu Wasser und in der Luft, die nach immer neuen Ressourcen suchen und Feinden suchen, mit smarter Landwirtschaft, mit smarten Häusern und ihrer Vernetzung von Haustechnik und Haushaltsgeräten, mit der ständigen Überwachung von öffentlichen Plätzen und unserem alltäglichen Verhalten.
Ist Zukunft heute noch ein utopischer Ort oder nur noch eine Hochrechnung der Gegenwart durch künstliche Intelligenz?
Vielleicht ist die Menge an möglichen utopischen Ideen endlich. Ideen für eine bessere Welt müssen zwangsläufig um dasselbe Thema kreisen: Um die Begrenzung oder gar Abschaffung des Eigentums. Die Art und Weise, wie das Recht auf Eigentum geregelt und ausgeübt wird, war und ist für die schlimmsten Übel der Zivilisation verantwortlich. Wer einen utopischen Entwurf wagt, kommt an dieser Frage nicht vorbei. Enteignung! Umverteilung! Aber wie? Wie viele Unterschiede dürfen bleiben, wie viele Unterschiede müssen bleiben? Der real praktizierte Sozialismus, der übrig gebliebene Kapitalismus, die einst so kuschelig versprochene soziale Marktwirtschaft – bei der Beurteilung von Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit: allesamt gescheitert. Schon, weil es keine Einigung darüber gibt, was genau Freiheit, was genau Solidarität, was genau Gerechtigkeit ist. Ist die einzig mögliche Utopie vielleicht eine lange Liste von Mindestforderungen? Zum Beispiel: Der Wert einer Arbeit muss neu gewürdigt und anders bezahlt werden: mehr Geld und gute Wohnungen für die pflegenden, sorgenden Berufe – und ein Verbot der Millionenabfindungen für Banker oder der Zig-Millionen-Ablösesummen für Fußballer. Das Geld ist im kaputt gesparten Gesundheitswesen, in der Altenpflege oder in Schulen sinnvoller angelegt. Oder: keine Waffenlieferungen mehr; das Recht auf ein analoges Leben; Respekt für Querdenker.
In China wird – als soziale Utopie beworben – ein digitales Punktesystem angewandt. Das Werkzeug der Regierenden soll zur Bekämpfung von Vetternwirtschaft, illegalen Geschäften und Betrügern dienen. Und zur Erziehung der Bürger. Zwangsüberwacht von ihrem Smartphone erhalten sie Punkte für anständiges Verhalten: Bremsen am Zebrastreifen, Besuch bei den alten Eltern, Kauf von gesunder Nahrung, korrekte Müllentsorgung, regelmäßig ein nettes Wort für die Regierenden in den sozialen Medien… Punktabzüge gibt es für das verspätete Zahlen von Rechnungen, für Verkehrsdelikte, verpasste Besuche bei den alten Eltern, unliebsame politische Äußerungen. Unter dem Schlagwort »Soziales Bonitätssystem« werden die privatesten Daten der Bürger ausgeforscht und gesammelt. Wer sich gut verhält, gilt als »Vertrauenswürdiger«, wer sich nach Meinung des Staates nicht gut verhält, ist ein »Vertrauensbrecher« und wird bestraft. »Vertrauensverbrecher« dürfen zum Beispiel nicht fliegen oder bekommen kein Ticket für einen Zug. Der Zugang zu Universitäten oder staatlichen Arbeitsplätzen kann abgelehnt werden, die Gewährung von Krediten oder der Abschluss von Versicherungen wird erschwert. Ein sattes Punktekonto dagegen erleichtert das Leben – beim Ausbildungsplatz für die Kinder, bei der Wohnungssuche, bei den Kreditzinsen. So soll der bessere Mensch für eine bessere Gesellschaft geschaffen werden. Wovon doch schließlich alle profitieren.
Sie glauben, dass es bei uns nicht so weit kommen wird?
Schon jetzt ist es Alltag, die eigenen Gesundheitsdaten über eine Handy-App zu verwalten; mit einem Fitness Tracker Laufstrecken, Energieumsatz oder Schlafqualität aufzuzeichnen und gegen Beitragsnachlässe an die Krankenversicherung zu senden; unsere Arzttermine mit Doctolib zu buchen; uns von den Kameras in Fernsehern und Computern beobachten zu lassen; unsere Aufenthaltsorte über Google jederzeit öffentlich zu machen; Online-Banking zu betreiben oder mit dem Handy kontaktlos zu bezahlen; mit Hilfe von Fingerabdruck, Gesichtserkennung oder Iris-Scanner unser Smartphone zu entsichern; Payback-Punkte zu sammeln zur Erfassung unseres Kaufverhaltens; für die Nutzung einer App unser Alter, unsere Mailadresse und unseren Wohnort anzugeben. Oder online zu shoppen und dabei für jeden Interessierten unsere persönliche Einkaufsliste zu erstellen. Wir geben das Private freiwillig preis. Ein Traum für Staatsschützer, ein Traum für die Konzerne, die mit unseren Daten Millionen verdienen. Und wir stimmen ständig für mehr: Noch mehr Kameras im öffentlichen Raum, noch mehr Drohnen, noch mehr digitale Vernetzung mit den Behörden. Damit niemand mehr aus der Reihe tanzt.
Wir fühlen uns nicht überwacht, nicht in unserer Freiheit beschränkt. Die »schöne neue Netz- und Konsumwelt« scheint uns nicht bedrohlich, sondern attraktiv und praktisch.
Wisch-Handy, Google-Suche, One-Click-Shopping – das Einfache gewinnt. Das Bewusstsein für die zunehmende Überwachung und die Einschränkung unserer persönlichen Freiheit ist äußerst gering. Wir haben doch nichts zu verbergen. Und die Überwachungskameras schützen uns doch vor Kriminellen! Bis wir selbst erwischt werden. Bei kleinen Alltagssünden oder bei der falschen Meinung. Ich jedenfalls habe grundsätzlich viel zu verbergen. Vor dem Staat, vor meinen Chefs, vor den Konzernen, vor meiner nachbarlichen Umgebung. Denn Privatsphäre, die Möglichkeit, ungesehen und ungehört zu bleiben, ist ein Wesenskern von Demokratie und Freiheit.
Ich befürchte, dass die parlamentarische Demokratie – eh schwer beschädigt durch soziale Ungleichheit, Militarisierung und Kriege, die grün-links gewollte Ablösung der Klassenfrage durch Identitätspolitik – keine »Brandmauer« gegen die heraufdämmernde digitale Diktatur aufbauen kann und will. Denn wer die Digitalisierung nicht für ein Heilsversprechen hält, gilt nicht mehr als zurechnungsfähiger Gesprächspartner. Ich bin mir auch nicht sicher, wie hier bei uns ein Volksentscheid über ein Punktesystem nach chinesischem Vorbild ausgehen würde. Schon jetzt werden von SPD und Grünen mit viel Geld Denunziationsportale finanziert.
Und die linke Rosa-Luxemburg-Stiftung hat das chinesische Punktesystem vor zwei Jahren als durchaus innovativ beurteilt.
Trotz aller noch nicht verheilten Wunden durch die totalitären Systeme des 20. Jahrhunderts – wir lassen uns in das nächste totalitäre System verführen. Es sieht ja auch ganz anders aus als die untergegangenen Diktaturen, es flimmert betörend blau und ist voller Konsum- und Ablenkungsversprechen, es behauptet die individuelle Freiheit durch jeden Klick, obwohl wir an manipulativen Nasenringen im Kreis durch die digitale Manege geführt werden, es lullt uns ein mit Spielen, Serien und App-gesteuertem Spaß. Dahinter verbirgt sich unsichtbar die moderne, KI-gesteuerte Staatssicherheit. So erfüllt sich (allein) die Utopie der gut vernetzten Macht- und Profitgierigen in Konzernen und Regierungen. Doch wir, Sie und ich, sind keine Opfer. Wir sind Täter. Ohne Kollaborateure und Mitläufer gäbe es keinen Totalitarismus. Und immer und überall scheinen genügend Kollaborateure und Mitläufer vorhanden zu sein, um den Totalitarismus möglich zu machen.
Wenn man sie fragt, behaupten die Menschen, dass sie frei sein möchten. Freiheit ist etwas Schönes, etwas Erstrebenswertes, solange man sie nicht hat und sie nur haben will. Doch sind wir frei, suchen wir schon nach der nächsten Unfreiheit. Notfalls behaupten wir einfach, nicht frei zu sein. Unter irgendwelchen Zwängen zu stehen. Denn frei zu sein, bedeutet moralische Verantwortung, Vor der wir uns gerne drücken, Die wir gerne denen da oben zuschieben, den Politikern, den Chefs, der Partei, den Aktienkonzernen. Zugegeben, das ist nicht falsch. Die Politiker, die Partei, die Vorstände der DAX-Unternehmen haben ebenfalls eine moralische Verantwortung. Sie können entscheiden, ob sie für die Gemeinschaft oder nur für den eigenen Nutzen arbeiten – und sie haben mehr Macht. Eine Machtfülle, die aber wir ihnen gegeben haben. Wir können entscheiden, sie ihnen wieder zu nehmen. Sie nicht mehr wählen, auf die Straße gehen, eigene Parteien gründen, den Konsum verweigern, den Fernseher erst wieder einschalten, wenn sich die Journalisten daran erinnern, was ihre Aufgabe für die Demokratie ist: Aufklären, auch darüber, wer von was wie profitiert, das System mit Fragen konfrontieren, nicht laufend den Mächtigen eine Bühne geben, sondern den Schwachen; Geschichten erzählen, die uns einander näher bringen. Aber dann müssen wir auch zuhören und hinschauen – und nicht nur eine Serie nach der anderen konsumieren.
Wir entscheiden, ob wir die Demokratie wieder lebendig machen. Und der Marktwirtschaft das Soziale hinzufügen: Die gemeinsame Blockade von sinnlosen Baustellen, in denen Millionen von Steuergeldern versenkt werden; kollektives Schwarzfahren in der Bundesbahn; kollektives Verweigern von Mietzahlungen in jenen früheren Sozialwohnungen, die der Staat an Immobilienkonzerne verscherbelt hat; kollektiv die schikanösen Sanktionsbriefe der Arbeitsagentur zerreißen; solange generalstreiken bis die Milliarden für sinnlose Prestigeobjekte in die Kultur und in Soziales gesteckt werden; gemeinsam die Grenzen öffnen für die Schutzsuchenden und gemeinsam mit ihnen Häuser bauen in den vielen schwach besiedelten Landschaften. Und, ja, gemeinsam ins Gefängnis gehen für all diese Rechtsverstöße. Millionen Verhaftungen, Millionen Gerichtsverfahren. Was für ein Spaß. Utopische Kreativität. Das Zauberwort ist »kollektiv«. Denn »vereinte Kraft ist zur Herbeiführung des Erfolges wirksamer als zersplitterte oder geteilte«, sagte einst Martin Luther King.
Wir dürfen und wir müssen wählen. Kämpfen wir gegeneinander oder miteinander?
Wir brauchen ein sicheres Zuhause für alle Menschen. Die sichere Aussicht auf Arbeit und Teilhabe, auf Nahrung und Wasser, auf ein Dach über dem Kopf, auf funktionierende Sozialsysteme – und auf Straßen oder Wege, auf denen man spazieren kann, ohne bedroht zu sein.
Doch dieses Zuhause müsste noch mehr bieten: Kultur, Begegnungen statt Konsum; einen geistigen Raum, in dem wir lernen und Wissen erwerben, nicht nur orientiert an ökonomischen Interessen, sondern an den heute oft so belächelten humanistischen Idealen, denen es um die Bildung von Werten geht, um die Befähigung zum Denken und die Erziehung zu Mitgefühl und politischem Engagement; einen Raum, in dem wir unsere Hoffnungen und Sehnsüchte aussprechen, in dem wir die Begründungen und die Ideen für unser gemeinsames Leben auf diesem Planeten finden können – in kleinen Gemeinschaften, die wir noch überblicken. Keine Weltregierung, keine Supermacht, sondern Regionen. Die Globalisierung ist für die Mehrheit der Menschen kein Raum, der ihnen Geborgenheit vermittelt, sondern der ihnen die Möglichkeit nimmt, sich als Teil einer (selbstgewählten) Familie zu fühlen.
Aus unseren Vorstellungen für ein irdisches Utopia sollten wir Erzählungen für den Alltag machen. Das, wonach wir uns sehnen, was wir uns wünschen, die wichtigen Dinge, wünschen sich auch die Anderen: Würde, ein Auskommen, eine sinnvolle Tätigkeit, Freundschaft… Solidarität ist Mitgefühl mit den Schmerzen und Nöten der Anderen – und die Weitergabe dessen, was wir uns selbst erhoffen: Respekt. Für unsere Nachbarn, für Alte, Kranke, Flüchtlinge. Das können wir lernen, das ist nicht schwer, weil es uns sofort leichter macht, glücklicher. Was wir geben, bekommen wir zurück. Wissenschaft und Technologie haben uns ernüchtert, machen uns frösteln. Die digitale Modernisierung hält unsere Lebenswelt in kalter Abhängigkeit. Wir müssen sie wieder verzaubern, mit Erzählungen über eine humanere fürsorglichere Gesellschaft. Mit Erzählungen, die wir in die Wirklichkeit umsetzen wollen. Erzählungen von Nachbarschaft, Freundschaft, Berührungen. Nähe ist Heimat.
Immer mehr Menschen suchen nach einer neuen Heimat.
Heimat ist eine der Beschwörungsformeln im Zeitalter der Globalisierung und Digitalisierung, in dem Mobilität und rasante technische Veränderungen den Alltag von Millionen bestimmen. Heimat bedeutet Zugehörigkeit, Gemeinschaft und Identität in einer neoliberalen unübersichtlichen Welt. Wer von Heimat spricht, leidet meist unter Heimweh. Heimat wird zum Sehnsuchtswort, weil sie vielen bedroht oder verloren scheint. Die Erfahrung von Heimatlosigkeit und Heimatverlust nimmt zu. Wenn in den ländlichen Regionen auf einmal keine Landärzte mehr zu finden sind, wenn Bahnverbindungen eingestellt werden, Tante-Emma-Läden und Wirtshäuser schließen und die Menschen in die Städte abwandern, wenn Dorf- und Kleinstadtkerne veröden. Die Sehnsucht gilt einer Zeit, in der die Gemeinschaften noch intakt schienen, die sozialen Beziehungen lebendig – Heimat als verlorene Utopie in einer durchrationalisierten Welt, die Handarbeit vernichtet und einen Strukturwandel bedingt, der die Menschen aus ihren gewachsenen Lebenswelten vertreibt und zu einer Mobilität und Flexibilität zwingt, für die sie sich nicht freiwillig entschieden hätten.
Heimatverlust können aber auch Großstadtbewohner erfahren, die zusehen müssen, wie gewachsene Viertel gentrifiziert werden, die Mieten ins Unerschwingliche steigen, Betriebe zumachen, vertraute Nachbarschaften sich auflösen.
So viele Menschen haben Angst. Sie suchen nach Resonanz, Gemeinschaft, Zugehörigkeit, Bestätigung, finden sie aber immer weniger in der modernen Welt, wenn wirtschaftliche Veränderungen, kulturelle Umbrüche und ein schneller Wertewandel vertraute Lebensformen vernichten und außer Kurs setzen. Wenn die letzte Zeche im Ruhrgebiet schließt oder eine bestimmte Form der Industriearbeit nicht mehr gebraucht wird, weil sie in anderen Ländern billiger gemacht oder durch Roboter ersetzt wird. Wenn Fischer vom Fischfang nicht mehr leben können, weil ihre Fangquoten es nicht erlauben oder die Meere überfischt sind. Wenn Bauern mit der Landwirtschaft nicht mehr genug verdienen, weil sie auf dem Weltmarkt nicht konkurrieren können. Wenn kleine Geschäfte dem großen Online-Handel zum Opfer fallen. Wenn um die Ecke Kultureinrichtungen schließen, weil das Geld in teure Prestigeobjekte fließt.
Heimatlos fühlen sich vielleicht auch die Zugezogenen, die ihrem Geburtsort, ihrer angestammten Kultur, ihrem Herkunftsland den Rücken kehrten, um in einem anderen Land ein besseres Leben zu finden. Die Arbeitssuchenden aus Osteuropa, die Flüchtlinge vor Armut, Krieg oder Unfreiheit. Ihre Heimat ist zerstört, oder ihr Herkunftsland war ihnen nie Heimat, weil sie dort Not und Elend, Verfolgung oder Lebensgefahr erlebten. Heimat können sie nur als zweite Heimat finden, im Sinn des Filmemachers Edgar Reitz: als Heimat, der man nicht naturwüchsig angehört, sondern die man sich selbst schaffen muss. Eine solche zweite Heimat im Ankunftsland bedeutet für die Migranten vor allem eine Existenz in rechtlicher Sicherheit, Frieden und wirtschaftlichem Überleben. Doch an den Grenzen in die erhoffte neue Heimat treffen sie immer häufiger auf Abwehrreflexe und Ressentiments der anderen, die sich von den Neuankömmlingen bedroht sehen und glauben, ihre Heimat gegen die Fremden verteidigen zu müssen. Weil sie fürchten, dass diese ihnen etwas wegnehmen, materielle Ressourcen, aber auch existentielle Gewissheiten. Heimat wird für sie zum politischen Kampfbegriff, die Sehnsucht nach Heimat wird in rechtsnationaler, populistischer Weise missbraucht und der Heimatbegriff dient als Keule und Deckwort für Ausländerhass, Fremdenfeindlichkeit und die »Angst vor den Anderen«, wie es der Soziologe Zygmunt Bauman nannte. Der Soziologe Heinz Bude spricht von einer »Gesellschaft der Angst«, in der sich das »Misstrauen gegen die Haltlosigkeit der Welt« ausdrücke. Der Rückzug ins Nationale gilt vielen Menschen plötzlich als Allheilmittel gegen die Zumutungen der modernen Welt; sie imaginieren Schlagbäume und Grenzmauern als Schutz gegen das Gefühl der Bedrohung. Heimat als Ausdruck von Fremdenfeindlichkeit und Nationalismus.
In einer so immer weiter aufgeladenen Welt werden am Ende Menschen zurück ins Mittelmeer geworfen oder an Grenzzäunen erschossen. In dieser Welt gibt es keine Hoffnung. Hier gilt nur das Gesetz vom Recht und Überleben des Stärkeren. In dieser Welt lohnt es sich nicht, vernünftig und selbstlos zu handeln. Man verdrängt sein Gewissen lieber. Weil man kein Vertrauen in die anderen Handelnden hat, erklärt man das Prinzip, demnach der Mensch dem Menschen ein Wolf ist, zum Naturgesetz. Und glaubt schließlich selbst an dieses Naturgesetz.
Auf die Verunsicherung der Lebensverhältnisse und den Zorn der Bürger reagiert die Politik, indem sie zum Beispiel ein Heimatministerium einrichtet, das vollmundig verspricht, Heimat zu schaffen, aber nur Glasfaserkabel in die Fläche legt. Politik kann Heimat natürlich nicht anordnen oder erzwingen, aber für eine Infrastruktur sorgen, die Menschen befähigt, sich ein Leben einzurichten, in dem sie sich zuhause und nicht zu kurz gekommen fühlen. Wer Häuser für Flüchtlinge baut, muss auch Häuser für die Alteingesessenen bauen. Denn wer »Fremde« empfangen soll, muss sich sicher fühlen. Auch die, die den Zugezogenen Respekt entgegenbringen sollen, müssen sich respektiert fühlen. Wer sich ständig von der rotgrünen Elite verachtet fühlt, hat keine Kraft mehr für Offenheit.
Wir werden ihn nicht schaffen können, DEN gerechten Staat, in dem für alle alles gleich ist. Weil das am Ende wieder nur Diktatur und Terror bedeuten kann. Es gibt nicht DAS utopische Lebens- und Organisationsmodell, in das wir alle Menschen hineinzwingen können. Wir müssen unterschiedliche Bedürfnisse, Lebensformen, Kulturen, Religionen akzeptieren. Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden. Aber wir müssen Macht begrenzen und Widerstand gegen Unrecht leisten.
Wir könnten, statt zu pöbeln und Menschen zu überwachen, statt zum Putsch aufzurufen, statt Angst zu verbreiten und uns bedrohliche Nachrichten auszudenken, einfach ein wenig im Garten arbeiten. Oder den Nachbarn zum Kaffee einladen und vielleicht sogar zu selbstgebackenem Kuchen. Wir könnten einfach mal darüber nachdenken, dass das, was uns gut tut, auch für andere Menschen wichtig ist. Wir könnten den Computer ausschalten und Zeitungen kaufen, auch damit sie nicht alle Pleite gehen. Wir könnten unser Amazon-Konto löschen und in der Nachbarschaft einkaufen. Vielleicht mit weniger Auswahl, aber wer braucht schon immer mehr und mehr? Wir könnten in den Wald fahren und die drei Vögel beobachten, die wir noch nicht ausgerottet haben. Wir könnten einfach freundlich zueinander sein. Wir könnten viele kleine Utopien wagen, das ist unbequem, aber dafür so viel lebendiger.
In Dantes Göttlicher Komödie gibt es am obersten Rand des Höllentrichters die weitläufige Vorhölle. Hier drängen sich die lauen Seelen, die Jammernden ohne wirkliche Sorgen, die Gleichgültigen, die Wegschauenden, die Bequemen, die weder der Himmel noch die Hölle haben will. Sie vegetieren nur.
Wir sollten aufhören, nur zu vegetieren.