Schon 1795 schreibt Kant in seiner Schrift »Zum ewigen Frieden«: »Es soll sich kein Staat im Kriege mit einem anderen solche Feindseligkeiten erlauben, welche das wechselseitige Zutrauen im künftigen Frieden unmöglich machen (…). Das sind ehrlose Strategeme. Denn irgendein Vertrauen auf die Denkungsart des Feindes muss mitten im Kriege noch übrigbleiben, weil sonst auch kein Friede abgeschlossen werden könnte, und die Feindseligkeit in einen Ausrottungskrieg (bellum internecinum) ausschlagen würde (…). Woraus denn folgt: dass ein Ausrottungskrieg, wo die Vertilgung beide zugleich (…) treffen kann, den ewigen Frieden nur auf dem großen Kirchhofe der Menschengattung stattfinden lassen würde. Ein solcher Krieg also, mithin auch der Gebrauch der Mittel, die dahinführen, muss schlechterdings unerlaubt sein.«
Nun waren zu Lebzeiten Kants bekanntlich noch keine Nuklearwaffen in der Welt, doch trifft sein Verdikt in vollem Umfang auf diese zu: Atomare Massenvernichtungswaffen zählen zu den schlechterdings unerlaubten Mitteln des Krieges. Für jeden Welt- oder Staatsbürger, der die Ideale des Menschenrechts – Freiheit, Menschenwürde, Recht auf Leben – vertritt und verwirklicht sehen will, müssen diese Waffen als die größte denkbare Barbarei erscheinen.
Im Übrigen ist dies nicht nur ein kategorischer Imperativ der praktischen Vernunft, sondern ebenso eine Norm des kodifizierten Völkerrechts, das den Einsatz von Waffen, die unterschiedslos töten und vernichten, verbietet. Zudem kollidiert der Einsatz von Massenvernichtungswaffen auch mit den ersten beiden Artikeln des deutschen Grundgesetzes, wonach die Würde des Menschen unantastbar und das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit gewährleistet ist.
Die Apologeten des Systems wechselseitiger nuklearer Abschreckung verweisen in der Diskussion über dessen Legitimation – notabene nicht ohne gewisse empirische Plausibilität – stets auf die kriegsverhindernde resp. konfliktdämpfende Wirkung desselben und beharren von daher auf dessen inhärenter Rationalität. Die Tatsache jedoch, dass sich menschliche Vernunft ein Ziel setzt – die Bewahrung von Frieden und Freiheit – und zur Realisation dieses Ziels bereit ist, sich Mittel zu bedienen, deren Anwendung die Aufhebung eben dieser Vernunft impliziert – diese Tatsache erscheint indes nicht nur höchst irrational, sondern zudem im höchsten Grad illegitim. Der Einsatz von Massenvernichtungswaffen hat auch nicht mehr das Geringste mit Verteidigung zu tun – der kollektive Suizid kann keine ultima ratio darstellen.
In jüngerer Zeit haben sich der Heilige Stuhl und der Papst persönlich in die Abschreckungs-Debatte eingebracht, indem sie im Einklang mit der überkommenen Lehre und mit Blick auf die veränderte Situation eine uneingeschränkte moralische Ächtung und ein völkerrechtliches Verbot aller Kernwaffen forderten. So erklärte der Heilige Stuhl 2014 in seinem ausführlichen Beitrag »Nukleare Abrüstung: Zeit für den Bann«, die Strategie der nuklearen Abschreckung entbehre einer moralischen Grundlage. Noch deutlicher wurde der Kurswechsel, als der derzeit amtierende Papst Franziskus im Jahr 2017 von der Auffassung seines Amtsvorgängers abrückte und bei einer Ansprache an die Teilnehmer am internationalen Symposium zum Thema Abrüstung im November 2017 klarstellte, dass schon der Besitz von Atomwaffen unmoralisch sei.
Ein Jahr später, im November 2018, hat der Papst dann ausdrücklich begrüßt, dass durch die am 7. Juli 2017 von der UN-Generalversammlung erfolgte Verabschiedung des Atomwaffenverbotsvertrags festgestellt wurde, »dass Atomwaffen nicht nur als unmoralisch, sondern auch als illegitimes Mittel der Kriegsführung zu betrachten sind«. Ein Jahr später, während einer Apostolischen Reise nach Japan im November 2019, bekräftigte er sodann an den Orten der beiden Atombombenabwürfe im August 1945, Hiroshima und Nagasaki, seine päpstliche Friedensethik vor der gesamten Weltöffentlichkeit. Wörtlich bekundete er in Hiroshima: »Aus tiefer Überzeugung möchte ich bekräftigen, dass der Einsatz von Atomenergie zu Kriegszwecken heute mehr denn je ein Verbrechen ist, nicht nur gegen den Menschen und seine Würde, sondern auch gegen jede Zukunftsmöglichkeit in unserem gemeinsamen Haus.«
In der Bundesrepublik Deutschland hat die katholische Kirche die vom Vatikan vorgegebene Lehrmeinung zur Nuklearwaffenproblematik stets loyal mitgetragen. Augenfällig kommt dies unter anderem im Hirtenwort »Gerechtigkeit schafft Frieden« von 1983 zum Ausdruck, in dem die Deutsche Bischofskonferenz zu dem Urteil gelangte, die Abschreckung lasse sich als Kriegsverhütungsstrategie moralisch vertreten, vorausgesetzt, die durch sie – gleichsam – erkaufte Zeit werde politisch genutzt, um das »Gleichgewicht des Schreckens« zu überwinden. Vor dem Hintergrund der aktuellen politischen Entwicklungen und neuerer päpstlicher Äußerungen hat nunmehr auch die Deutsche Kommission Justitia et Pax diese Position einer kritischen Überprüfung unterzogen. Sie gelangt dabei zu dem Schluss, »dass die bisherige moralische Duldung der Strategie der nuklearen Abschreckung als Konzept der Kriegsverhütung aufgegeben werden muss«. Als Gründe hierfür nennen die Autoren des Positionspapiers: die »unüberwindbare Instabilität des Abschreckungssystems«, die »unaufhebbare Widersprüchlichkeit der Abschreckungsstrategie«, die »Illusion der Wirkungskontrolle« sowie die »Illusion der Eskalationskontrolle«.
In der im Vergleich zur katholischen Kirche weitaus weniger zentralistisch-hierarchisch strukturierten protestantischen Kirche stellte und stellt sich die moralisch-ethische Positionierung zur Nuklearwaffenproblematik weitaus ambivalenter dar. Während einerseits im Rahmen der Ökumene die atomare Abschreckung abgelehnt wird, seit die VI. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Vancouver 1983 und den folgenden Vollversammlungen, zuletzt in Busan 2013, sich darauf verständigt hatte, dass das »Konzept der Abschreckung, dessen Glaubwürdigkeit von der Möglichkeit des Einsatzes von Atomwaffen abhängt, (…) aus moralischen Gründen abzulehnen und nicht geeignet [ist], Frieden und Sicherheit langfristig zu sichern«, moduliert die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) grosso modo lediglich ihre im Jahr 1959 in den »Heidelberger Thesen« formulierte Position. Damals bereits wird der seitdem in Permanenz aufgeführte »ethisch-moralische Eiertanz« nur allzu deutlich, wenn es dort etwa heißt:
- »Wir müssen versuchen, die verschiedenen im Dilemma der Atomwaffen getroffenen Gewissensentscheidungen als komplementäres Handeln zu verstehen« (These 6);
- »Die Kirche muss die Beteiligung an dem Versuch, durch das Dasein von Atomwaffen einen Frieden in Freiheit zu sichern, als eine heute noch mögliche christliche Handlungsweise anerkennen« (These 8) oder
- »Für den Soldaten einer atomar bewaffneten Armee gilt: Wer A gesagt hat, muss damit rechnen, B sagen zu müssen; aber wehe den Leichtfertigen!« (These 9).
Von derartigen theosophischen Aberrationen ist die 12. Synode der EKD mit ihrer am 13. November 2019 beschlossenen Kundgebung »Auf dem Weg zu einer Kirche der Gerechtigkeit und des Friedens« insofern deutlich abgerückt, als sie sich darin sowohl an den oben dargelegten unzweideutigen Festlegungen ihrer katholischen Glaubensbrüder orientiert als auch dem in der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedeten Konsens einer völkerrechtlichen Ächtung der Atomwaffen anschließt: »Atomwaffen sind Massenvernichtungswaffen und eine existentielle Bedrohung des gesamten menschlichen Lebensraums. Schon die Friedensdenkschrift von 2007 betont, dass die ›Drohung mit Nuklearwaffen nicht mehr als Mittel legitimer Selbstverteidigung‹ betrachtet werden kann. Politisches Ziel bleibt deshalb ein Global Zero: eine Welt ohne Atomwaffen. Während dieses Ziel breiter Konsens ist, ist der Weg dorthin umstritten. Dennoch erscheint uns heute angesichts einer mangelnden Abrüstung, der Modernisierung und der Verbreitung der Atomwaffen die Einsicht unausweichlich, dass nur die völkerrechtliche Ächtung und das Verbot von Atomwaffen den notwendigen Druck aufbaut, diese Waffen gänzlich aus der Welt zu verbannen.«
Dementsprechend erfolgt die Aufforderung an die Bundesregierung, konkrete Schritte zur Unterzeichnung des Atomwaffenverbotsvertrages einzuleiten. Zwar tritt die Synode der EKD mit ihrer Kundgebung nunmehr expressis verbis für ein völkerrechtlich kodifiziertes Atomwaffenverbot ein, dennoch impliziert diese Erklärung insofern einen gewissen Rückschritt, als darin die Problematik der nuklearen Abschreckung nicht einmal erwähnt wird, obwohl der Rat der EKD in seiner bereits 2007 entstandenen Denkschrift »Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen« geurteilt hatte: »Die Tauglichkeit der Strategie der nuklearen Abschreckung ist jedoch in der Gegenwart überhaupt fraglich geworden. Aus der Sicht evangelischer Friedensethik kann die Drohung mit Nuklearwaffen heute nicht mehr als Mittel legitimer Selbstverteidigung betrachtet werden.«
Als Fazit der Analyse der Nuklearwaffenproblematik aus Sicht der kantischen Moralphilosophie sowie der christlichen Ethik lässt sich an dieser Stelle festhalten: Eine sicherheitspolitische Strategie, welche die potentielle Vernichtung ganzer Gesellschaften oder der menschlichen Zivilisation insgesamt in Kauf nimmt, vermag kein legitimes Mittel zur Bewahrung von Freiheit und Frieden darzustellen. Und jeder, der zur Stützung des gegenwärtigen Systems nuklearer Abschreckung auf der Basis wechselseitig gesicherter Vernichtungsfähigkeit in irgendeiner Form beiträgt – sei es der Politiker, der Soldat, der Wissenschaftler, der Journalist, der Steuerzahler – macht sich schuldig dadurch, dass er gegen die fundamentalen Prinzipien menschlichen respektive menschenwürdigen Miteinanders und gegen die Moralprinzipien der praktischen Vernunft verstößt.