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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Nuklearwaffendelirium

Schon 1795 schreibt Kant in sei­ner Schrift »Zum ewi­gen Frie­den«: »Es soll sich kein Staat im Krie­ge mit einem ande­ren sol­che Feind­se­lig­kei­ten erlau­ben, wel­che das wech­sel­sei­ti­ge Zutrau­en im künf­ti­gen Frie­den unmög­lich machen (…). Das sind ehr­lo­se Stra­te­ge­me. Denn irgend­ein Ver­trau­en auf die Den­kungs­art des Fein­des muss mit­ten im Krie­ge noch übrig­blei­ben, weil sonst auch kein Frie­de abge­schlos­sen wer­den könn­te, und die Feind­se­lig­keit in einen Aus­rot­tungs­krieg (bel­lum inter­ne­cinum) aus­schla­gen wür­de (…). Wor­aus denn folgt: dass ein Aus­rot­tungs­krieg, wo die Ver­til­gung bei­de zugleich (…) tref­fen kann, den ewi­gen Frie­den nur auf dem gro­ßen Kirch­ho­fe der Men­schen­gat­tung statt­fin­den las­sen wür­de. Ein sol­cher Krieg also, mit­hin auch der Gebrauch der Mit­tel, die dahin­füh­ren, muss schlech­ter­dings uner­laubt sein.«

Nun waren zu Leb­zei­ten Kants bekannt­lich noch kei­ne Nukle­ar­waf­fen in der Welt, doch trifft sein Ver­dikt in vol­lem Umfang auf die­se zu: Ato­ma­re Mas­sen­ver­nich­tungs­waf­fen zäh­len zu den schlech­ter­dings uner­laub­ten Mit­teln des Krie­ges. Für jeden Welt- oder Staats­bür­ger, der die Idea­le des Men­schen­rechts – Frei­heit, Men­schen­wür­de, Recht auf Leben – ver­tritt und ver­wirk­licht sehen will, müs­sen die­se Waf­fen als die größ­te denk­ba­re Bar­ba­rei erscheinen.

Im Übri­gen ist dies nicht nur ein kate­go­ri­scher Impe­ra­tiv der prak­ti­schen Ver­nunft, son­dern eben­so eine Norm des kodi­fi­zier­ten Völ­ker­rechts, das den Ein­satz von Waf­fen, die unter­schieds­los töten und ver­nich­ten, ver­bie­tet. Zudem kol­li­diert der Ein­satz von Mas­sen­ver­nich­tungs­waf­fen auch mit den ersten bei­den Arti­keln des deut­schen Grund­ge­set­zes, wonach die Wür­de des Men­schen unan­tast­bar und das Recht auf Leben und kör­per­li­che Unver­sehrt­heit gewähr­lei­stet ist.

Die Apo­lo­ge­ten des Systems wech­sel­sei­ti­ger nuklea­rer Abschreckung ver­wei­sen in der Dis­kus­si­on über des­sen Legi­ti­ma­ti­on – nota­be­ne nicht ohne gewis­se empi­ri­sche Plau­si­bi­li­tät – stets auf die kriegs­ver­hin­dern­de resp. konflikt­dämpfende Wir­kung des­sel­ben und behar­ren von daher auf des­sen inhä­ren­ter Ratio­na­li­tät. Die Tat­sa­che jedoch, dass sich mensch­li­che Ver­nunft ein Ziel setzt – die Bewah­rung von Frie­den und Frei­heit – und zur Rea­li­sa­ti­on die­ses Ziels bereit ist, sich Mit­tel zu bedie­nen, deren Anwen­dung die Auf­he­bung eben die­ser Ver­nunft impli­ziert – die­se Tat­sa­che erscheint indes nicht nur höchst irra­tio­nal, son­dern zudem im höch­sten Grad ille­gi­tim. Der Ein­satz von Mas­sen­ver­nich­tungs­waf­fen hat auch nicht mehr das Gering­ste mit Ver­tei­di­gung zu tun – der kol­lek­ti­ve Sui­zid kann kei­ne ulti­ma ratio darstellen.

In jün­ge­rer Zeit haben sich der Hei­li­ge Stuhl und der Papst per­sön­lich in die Abschreckungs-Debat­te ein­ge­bracht, indem sie im Ein­klang mit der über­kom­me­nen Leh­re und mit Blick auf die ver­än­der­te Situa­ti­on eine unein­ge­schränk­te mora­li­sche Äch­tung und ein völ­ker­recht­li­ches Ver­bot aller Kern­waf­fen for­der­ten. So erklär­te der Hei­li­ge Stuhl 2014 in sei­nem aus­führ­li­chen Bei­trag »Nuklea­re Abrü­stung: Zeit für den Bann«, die Stra­te­gie der nuklea­ren Abschreckung ent­beh­re einer mora­li­schen Grund­la­ge. Noch deut­li­cher wur­de der Kurs­wech­sel, als der der­zeit amtie­ren­de Papst Fran­zis­kus im Jahr 2017 von der Auf­fas­sung sei­nes Amts­vor­gän­gers abrück­te und bei einer Anspra­che an die Teil­neh­mer am inter­na­tio­na­len Sym­po­si­um zum The­ma Abrü­stung im Novem­ber 2017 klar­stell­te, dass schon der Besitz von Atom­waf­fen unmo­ra­lisch sei.

Ein Jahr spä­ter, im Novem­ber 2018, hat der Papst dann aus­drück­lich begrüßt, dass durch die am 7. Juli 2017 von der UN-Gene­ral­ver­samm­lung erfolg­te Ver­ab­schie­dung des Atom­waf­fen­ver­bots­ver­trags fest­ge­stellt wur­de, »dass Atom­waf­fen nicht nur als unmo­ra­lisch, son­dern auch als ille­gi­ti­mes Mit­tel der Kriegs­füh­rung zu betrach­ten sind«. Ein Jahr spä­ter, wäh­rend einer Apo­sto­li­schen Rei­se nach Japan im Novem­ber 2019, bekräf­tig­te er sodann an den Orten der bei­den Atom­bom­ben­ab­wür­fe im August 1945, Hiro­shi­ma und Naga­sa­ki, sei­ne päpst­li­che Frie­dens­ethik vor der gesam­ten Welt­öf­fent­lich­keit. Wört­lich bekun­de­te er in Hiro­shi­ma: »Aus tie­fer Über­zeu­gung möch­te ich bekräf­ti­gen, dass der Ein­satz von Atom­ener­gie zu Kriegs­zwecken heu­te mehr denn je ein Ver­bre­chen ist, nicht nur gegen den Men­schen und sei­ne Wür­de, son­dern auch gegen jede Zukunfts­mög­lich­keit in unse­rem gemein­sa­men Haus.«

In der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land hat die katho­li­sche Kir­che die vom Vati­kan vor­ge­ge­be­ne Lehr­mei­nung zur Nukle­ar­waf­fen­pro­ble­ma­tik stets loy­al mit­ge­tra­gen. Augen­fäl­lig kommt dies unter ande­rem im Hir­ten­wort »Gerech­tig­keit schafft Frie­den« von 1983 zum Aus­druck, in dem die Deut­sche Bischofs­kon­fe­renz zu dem Urteil gelang­te, die Abschreckung las­se sich als Kriegs­ver­hü­tungs­stra­te­gie mora­lisch ver­tre­ten, vor­aus­ge­setzt, die durch sie – gleich­sam – erkauf­te Zeit wer­de poli­tisch genutzt, um das »Gleich­ge­wicht des Schreckens« zu über­win­den. Vor dem Hin­ter­grund der aktu­el­len poli­ti­schen Ent­wick­lun­gen und neue­rer päpst­li­cher Äuße­run­gen hat nun­mehr auch die Deut­sche Kom­mis­si­on Justi­tia et Pax die­se Posi­ti­on einer kri­ti­schen Über­prü­fung unter­zo­gen. Sie gelangt dabei zu dem Schluss, »dass die bis­he­ri­ge mora­li­sche Dul­dung der Stra­te­gie der nuklea­ren Abschreckung als Kon­zept der Kriegs­ver­hü­tung auf­ge­ge­ben wer­den muss«. Als Grün­de hier­für nen­nen die Autoren des Posi­ti­ons­pa­piers: die »unüber­wind­ba­re Insta­bi­li­tät des Abschreckungs­sy­stems«, die »unauf­heb­ba­re Wider­sprüch­lich­keit der Abschreckungs­stra­te­gie«, die »Illu­si­on der Wir­kungs­kon­trol­le« sowie die »Illu­si­on der Eskalationskontrolle«.

In der im Ver­gleich zur katho­li­schen Kir­che weit­aus weni­ger zen­tra­li­stisch-hier­ar­chisch struk­tu­rier­ten pro­te­stan­ti­schen Kir­che stell­te und stellt sich die mora­lisch-ethi­sche Posi­tio­nie­rung zur Nukle­ar­waf­fen­pro­ble­ma­tik weit­aus ambi­va­len­ter dar. Wäh­rend einer­seits im Rah­men der Öku­me­ne die ato­ma­re Abschreckung abge­lehnt wird, seit die VI. Voll­ver­samm­lung des Öku­me­ni­schen Rates der Kir­chen in Van­cou­ver 1983 und den fol­gen­den Voll­ver­samm­lun­gen, zuletzt in Busan 2013, sich dar­auf ver­stän­digt hat­te, dass das »Kon­zept der Abschreckung, des­sen Glaub­wür­dig­keit von der Mög­lich­keit des Ein­sat­zes von Atom­waf­fen abhängt, (…) aus mora­li­schen Grün­den abzu­leh­nen und nicht geeig­net [ist], Frie­den und Sicher­heit lang­fri­stig zu sichern«, modu­liert die Evan­ge­li­sche Kir­che in Deutsch­land (EKD) grosso modo ledig­lich ihre im Jahr 1959 in den »Hei­del­ber­ger The­sen« for­mu­lier­te Posi­ti­on. Damals bereits wird der seit­dem in Per­ma­nenz auf­ge­führ­te »ethisch-mora­li­sche Eier­tanz« nur all­zu deut­lich, wenn es dort etwa heißt:

  • »Wir müs­sen ver­su­chen, die ver­schie­de­nen im Dilem­ma der Atom­waf­fen getrof­fe­nen Gewis­sens­ent­schei­dun­gen als kom­ple­men­tä­res Han­deln zu ver­ste­hen« (The­se 6);
  • »Die Kir­che muss die Betei­li­gung an dem Ver­such, durch das Dasein von Atom­waf­fen einen Frie­den in Frei­heit zu sichern, als eine heu­te noch mög­li­che christ­li­che Hand­lungs­wei­se aner­ken­nen« (The­se 8) oder
  • »Für den Sol­da­ten einer ato­mar bewaff­ne­ten Armee gilt: Wer A gesagt hat, muss damit rech­nen, B sagen zu müs­sen; aber wehe den Leicht­fer­ti­gen!« (The­se 9).

Von der­ar­ti­gen theo­so­phi­schen Aberra­tio­nen ist die 12. Syn­ode der EKD mit ihrer am 13. Novem­ber 2019 beschlos­se­nen Kund­ge­bung »Auf dem Weg zu einer Kir­che der Gerech­tig­keit und des Frie­dens« inso­fern deut­lich abge­rückt, als sie sich dar­in sowohl an den oben dar­ge­leg­ten unzwei­deu­ti­gen Fest­le­gun­gen ihrer katho­li­schen Glau­bens­brü­der ori­en­tiert als auch dem in der Gene­ral­ver­samm­lung der Ver­ein­ten Natio­nen ver­ab­schie­de­ten Kon­sens einer völ­ker­recht­li­chen Äch­tung der Atom­waf­fen anschließt: »Atom­waf­fen sind Mas­sen­ver­nich­tungs­waf­fen und eine exi­sten­ti­el­le Bedro­hung des gesam­ten mensch­li­chen Lebens­raums. Schon die Frie­dens­denk­schrift von 2007 betont, dass die ›Dro­hung mit Nukle­ar­waf­fen nicht mehr als Mit­tel legi­ti­mer Selbst­ver­tei­di­gung‹ betrach­tet wer­den kann. Poli­ti­sches Ziel bleibt des­halb ein Glo­bal Zero: eine Welt ohne Atom­waf­fen. Wäh­rend die­ses Ziel brei­ter Kon­sens ist, ist der Weg dort­hin umstrit­ten. Den­noch erscheint uns heu­te ange­sichts einer man­geln­den Abrü­stung, der Moder­ni­sie­rung und der Ver­brei­tung der Atom­waf­fen die Ein­sicht unaus­weich­lich, dass nur die völ­ker­recht­li­che Äch­tung und das Ver­bot von Atom­waf­fen den not­wen­di­gen Druck auf­baut, die­se Waf­fen gänz­lich aus der Welt zu verbannen.«

Dem­entspre­chend erfolgt die Auf­for­de­rung an die Bun­des­re­gie­rung, kon­kre­te Schrit­te zur Unter­zeich­nung des Atom­waf­fen­ver­bots­ver­tra­ges ein­zu­lei­ten. Zwar tritt die Syn­ode der EKD mit ihrer Kund­ge­bung nun­mehr expres­sis ver­bis für ein völ­ker­recht­lich kodi­fi­zier­tes Atom­waf­fen­ver­bot ein, den­noch impli­ziert die­se Erklä­rung inso­fern einen gewis­sen Rück­schritt, als dar­in die Pro­ble­ma­tik der nuklea­ren Abschreckung nicht ein­mal erwähnt wird, obwohl der Rat der EKD in sei­ner bereits 2007 ent­stan­de­nen Denk­schrift »Aus Got­tes Frie­den leben – für gerech­ten Frie­den sor­gen« geur­teilt hat­te: »Die Taug­lich­keit der Stra­te­gie der nuklea­ren Abschreckung ist jedoch in der Gegen­wart über­haupt frag­lich gewor­den. Aus der Sicht evan­ge­li­scher Frie­dens­ethik kann die Dro­hung mit Nukle­ar­waf­fen heu­te nicht mehr als Mit­tel legi­ti­mer Selbst­ver­tei­di­gung betrach­tet werden.«

Als Fazit der Ana­ly­se der Nukle­ar­waf­fen­pro­ble­ma­tik aus Sicht der kan­ti­schen Moral­phi­lo­so­phie sowie der christ­li­chen Ethik lässt sich an die­ser Stel­le fest­hal­ten: Eine sicher­heits­po­li­ti­sche Stra­te­gie, wel­che die poten­ti­el­le Ver­nich­tung gan­zer Gesell­schaf­ten oder der mensch­li­chen Zivi­li­sa­ti­on ins­ge­samt in Kauf nimmt, ver­mag kein legi­ti­mes Mit­tel zur Bewah­rung von Frei­heit und Frie­den dar­zu­stel­len. Und jeder, der zur Stüt­zung des gegen­wär­ti­gen Systems nuklea­rer Abschreckung auf der Basis wech­sel­sei­tig gesi­cher­ter Ver­nich­tungs­fä­hig­keit in irgend­ei­ner Form bei­trägt – sei es der Poli­ti­ker, der Sol­dat, der Wis­sen­schaft­ler, der Jour­na­list, der Steu­er­zah­ler – macht sich schul­dig dadurch, dass er gegen die fun­da­men­ta­len Prin­zi­pi­en mensch­li­chen respek­ti­ve men­schen­wür­di­gen Mit­ein­an­ders und gegen die Moral­prin­zi­pi­en der prak­ti­schen Ver­nunft verstößt.