Friedrich Merz gab den Trump: Am ersten Tag seiner Kanzlerschaft werde er anweisen, »die deutschen Staatsgrenzen zu allen unseren Nachbarn dauerhaft zu kontrollieren und ausnahmslos alle Versuche der illegalen Einreise zurückzuweisen«. Auch Bayerns Ministerpräsident Söder sprach sich für »null Toleranz, null Kompromiss« in der Migrationspolitik aus. Nach schrecklichen Attentaten erlebten wir vor der Bundestagswahl einen wahren Überbietungswettbewerb an starken Sprüchen gegen Migranten. Alle Parteien – mit Ausnahme der Linkspartei – nutzten die tödlichen Taten für Stimmungsmache gegen Flüchtlinge. Hatte ein Jahr zuvor die »Remigrations«-Rede des Identitären Martin Sellner zu Massendemonstrationen gegen Rechts und gegen die Missachtung der Menschenwürde geführt, rückte jetzt die selbsternannte politische Mitte immer weiter nach rechts und haute extreme Forderungen raus, egal wie menschenverachtend sie waren. Ein Erstarken der rechten AfD haben sie damit nicht verhindert, ganz im Gegenteil.
Als Erfolg konnte diese Größtkoalition verbuchen, dass die wirklichen Probleme der Bevölkerung, die existenziellen Themen wie Armutsrente, Wohnungsnot, Pflege- und Gesundheitsnotstand, Klimakatastrophe und natürlich Krieg und Frieden nicht auf die Tagesordnung gesetzt werden mussten; nur das BSW bezog klar Stellung gegen Aufrüstung und Kriegshetze. Nach Mario Neumann von medico international hat man in einer Art deutschlandweiter Stammtischdebatte suggeriert, »dass Frieden und Sicherheit in Europa eine Frage des Grenzschutzes seien«. So haben sich CDU/CSU, SPD und Grüne (mit verschämter Billigung der Linkspartei) in höchst undemokratischer Weise freie Hand verschafft, durch eine Grundgesetzänderung Kriegskredite in schier unvorstellbarer Höhe zu generieren: über tausend Milliarden Euro für Kriegsvorbereitung plus achthundert Milliarden der als Friedensmacht geadelten EU für denselben Zweck! »Wir müssen unser Denken in Europa jetzt auf Kriegswirtschaft umstellen«, sagt Manfred Weber, Fraktionsvorsitzender der EVP im Europaparlament. Die Folgen für Menschen, Umwelt, Gesellschaft, seelische Verfassung und internationale Beziehungen werden wir alle zu spüren kriegen: Zunahme von Verrohung, Gewalt und Repression, von Armut, internationalen Konflikten und Kriegen.
Statt auf Friedensverhandlungen und Interessenausgleich setzt Europa auf Aufrüstung. Die europäischen Waffenimporte sind laut dem Friedensforschungsinstituts Sipri zwischen 2020 und 2024 um 155 Prozent gestiegen. Die Ukraine ist größter Waffenimporteur der Welt. Die deutschen Rüstungsexporte erreichten 2024 mit 13 Milliarden Euro einen neuen Höchststand. Mehr als die Hälfte der Genehmigungen entfiel auf die Ukraine. Die deutschen Waffenexporte nach Israel haben sich seit dem Kriegsbeginn vervielfacht – Beihilfe zu Kriegsverbrechen oder Genozid? Der Generalbundesanwalt scheint nicht gewillt, Ermittlungen aufzunehmen. Die Züchtung von Kriegsmentalität hierzulande und die Bereitstellung ungeheurer Kriegskredite ist eng mit dem Thema Fluchtursachen verknüpft. Die herrschende Kriegslogik verdrängt und verleugnet, was nach Angaben der UN-Flüchtlingsorganisation UNHCR 123 Millionen Menschen weltweit in die Flucht getrieben hat. Sie sind auf der Flucht aus und in Ländern, die unter Kriegen und ihren Folgen zu leiden haben: Afghanistan, Syrien, Ukraine, Venezuela, Sudan, Irak. In allen diesen Ländern hat der Westen wesentlich dazu beigetragen, dass die Menschen in ständiger Angst vor Gewalt und Tod leben.
Die politisch Verantwortlichen und die Leitmedien klammern dieses Thema fast vollständig aus. Statt die Hintergründe zu analysieren und Konsequenzen zu ziehen, baut man die EU zur Festung aus, um die Elenden abzuwehren: Abschottung gegen die Opfer dieser Politik. Und so tauchen die Millionen Flüchtlinge und die Zehntausenden, die im Mittelmeer ertrunken oder in der Sahara verdurstet sind, in den Wahlkämpfen nur als abzuwehrende Parasiten auf. Die Medien leisten tätige Beihilfe: Soziale Situation und Geschichte der Attentäter und Traumata der Opfer blieben unbeachtet. War ein Täter kein Asylbewerber, verloren sie schnell das Interesse an dem Fall. Neumann beobachtet eine Ethnisierung gesellschaftlicher Probleme in der deutschen Debatte. In der neuen autoritären politischen Kultur würden die realen Probleme der Migration angelastet: Sündenböcke für Krisen. Die Sprüche der Politiker sind so derb wie verroht. Der als klug und sensibel geltende grüne Minister Habeck will die »Kettensäge anwerfen und das ganze Ding wegbolzen«. Das ganze Ding ist das Lieferkettengesetz, für das Menschenrechtsorganisationen jahrelang gekämpft haben, um die Produktion von Konzernen im globalen Süden nicht als Ausbeutung mit oft tödlichen Folgen laufen zu lassen. Auch Christian Lindner (FDP) wollte noch im letzten Dezember »mehr Milei oder Musk wagen« – seine Zuneigung zu den neoliberalen Extremisten hat ihm immerhin den Einzug in den Bundestag verwehrt.
Natürlich war die Zunahme der Flüchtlingszahlen abzusehen, zumal die Ursachen lange bekannt sind: Den Tod Zehntausender nimmt die kapitalistische Wertegemeinschaft billigend in Kauf. Schon vor Jahren stellte der damalige CSU-Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit Gerd Müller fest: »Wir haben unseren Wohlstand auf dem Rücken der Entwicklungsländer aufgebaut. Das wird nicht mehr lange gut gehen. (…) Dann ist egal, was wir hier festlegen. Die Menschen werden uns nicht fragen, ob sie kommen können.« In den Verteidigungspolitischen Richtlinien der der Bundeswehr von 2011 lesen wir: »Ausbreitung von Wüsten-, Wasser- und Bodenverknappung (…), erhebliche Wohlstandsunterschiede, verbunden mit sozialen Disparitäten führen zu weltweiten Migrationsströmen.« Und das Institut der Europäischen Union für Sicherheitsstudien EUISS prognostizierte im gleichen Jahr: »Abschottungseinsätze – Schutz der Reichen dieser Welt vor den Spannungen und Problemen der Armen. Da der Anteil der armen, frustrierten Weltbevölkerung weiterhin sehr hoch sein wird, werden sich die Spannungen zwischen dieser Welt und der Welt der Reichen weiter verschärfen – mit entsprechenden Konsequenzen.«
Der Zustrom von Flüchtenden nach Europa schafft Probleme. Da kommen Kriegstraumatisierte, Kinder ohne Eltern, junge Männer ohne Perspektive, Mütter, die während ihrer Odyssee Gewalt und Missbrauch erlebt haben. Und sie treffen auf eine Gesellschaft, die sie ablehnt und ausgrenzt – nein, das ist nur die halbe Wahrheit. Sie erfahren auch Anteilnahme und Unterstützung. Unzählige Vereine und Familien engagieren sich und schenken das knappe Gut Mitmenschlichkeit. Auch die kritische, abwehrende Haltung vieler Einheimischer ist nicht per se zu verdammen, denn sie resultiert meist aus einer Angst; denn der alltägliche Überlebenskampf ist schon aufreibend genug, bei der Suche nach bezahlbarem Wohnraum oder bei Problemen der Kinder in Klassen mit verschiedenen anderen Muttersprachen. Toleranz und Willkommenskultur fallen denen leichter, die weder im Wohnviertel noch in der Schule oder im Beruf Konkurrenz fürchten oder Armut und Benachteiligung erleben müssen.
Wird die sich abzeichnende Politik der neuen Bundesregierung umgesetzt, mit den absehbaren Folgen von sozialen Spannungen, Kriegswirtschaft und Kriegsmentalität einschließlich den Ansprüchen Deutschlands auf Führung in der neu zu formierenden waffenstarrenden EU, sehen wir Zustände auf uns zukommen, die Zerstörung und Hass in sich tragen. Kriegsmentalität verträgt sich nicht mit Menschlichkeit. Nein, wir können nicht alle Probleme der Welt lösen und alle Flüchtlinge hier aufnehmen. Es genügt, wenn Deutschland Menschen und Natur nicht als Objekte der Ausbeutung behandelt, Interessenkonflikte diplomatisch löst, statt sie durch Expansion und Missachtung der Sicherheitsbedürfnisse anderer anzuheizen. UN-Charta und das Friedensgebot im Grundgesetz bilden eine gute Grundlage für internationale Kooperation und Abrüstung: »Dass die Völker nicht erbleichen wie vor einer Räuberin, sondern ihre Hände reichen uns wie andern Völkern hin« (Kinderhymne, B. Brecht).