Skip to content

Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

Menu
Menu

Nützliche Sündenböcke

Fried­rich Merz gab den Trump: Am ersten Tag sei­ner Kanz­ler­schaft wer­de er anwei­sen, »die deut­schen Staats­gren­zen zu allen unse­ren Nach­barn dau­er­haft zu kon­trol­lie­ren und aus­nahms­los alle Ver­su­che der ille­ga­len Ein­rei­se zurück­zu­wei­sen«. Auch Bay­erns Mini­ster­prä­si­dent Söder sprach sich für »null Tole­ranz, null Kom­pro­miss« in der Migra­ti­ons­po­li­tik aus. Nach schreck­li­chen Atten­ta­ten erleb­ten wir vor der Bun­des­tags­wahl einen wah­ren Über­bie­tungs­wett­be­werb an star­ken Sprü­chen gegen Migran­ten. Alle Par­tei­en – mit Aus­nah­me der Links­par­tei – nutz­ten die töd­li­chen Taten für Stim­mungs­ma­che gegen Flücht­lin­ge. Hat­te ein Jahr zuvor die »Remigrations«-Rede des Iden­ti­tä­ren Mar­tin Sell­ner zu Mas­sen­de­mon­stra­tio­nen gegen Rechts und gegen die Miss­ach­tung der Men­schen­wür­de geführt, rück­te jetzt die selbst­er­nann­te poli­ti­sche Mit­te immer wei­ter nach rechts und hau­te extre­me For­de­run­gen raus, egal wie men­schen­ver­ach­tend sie waren. Ein Erstar­ken der rech­ten AfD haben sie damit nicht ver­hin­dert, ganz im Gegenteil.

Als Erfolg konn­te die­se Größt­ko­ali­ti­on ver­bu­chen, dass die wirk­li­chen Pro­ble­me der Bevöl­ke­rung, die exi­sten­zi­el­len The­men wie Armuts­ren­te, Woh­nungs­not, Pfle­ge- und Gesund­heits­not­stand, Kli­ma­ka­ta­stro­phe und natür­lich Krieg und Frie­den nicht auf die Tages­ord­nung gesetzt wer­den muss­ten; nur das BSW bezog klar Stel­lung gegen Auf­rü­stung und Kriegs­het­ze. Nach Mario Neu­mann von med­ico inter­na­tio­nal hat man in einer Art deutsch­land­wei­ter Stamm­tisch­de­bat­te sug­ge­riert, »dass Frie­den und Sicher­heit in Euro­pa eine Fra­ge des Grenz­schut­zes sei­en«. So haben sich CDU/​CSU, SPD und Grü­ne (mit ver­schäm­ter Bil­li­gung der Links­par­tei) in höchst unde­mo­kra­ti­scher Wei­se freie Hand ver­schafft, durch eine Grund­ge­setz­än­de­rung Kriegs­kre­di­te in schier unvor­stell­ba­rer Höhe zu gene­rie­ren: über tau­send Mil­li­ar­den Euro für Kriegs­vor­be­rei­tung plus acht­hun­dert Mil­li­ar­den der als Frie­dens­macht geadel­ten EU für den­sel­ben Zweck! »Wir müs­sen unser Den­ken in Euro­pa jetzt auf Kriegs­wirt­schaft umstel­len«, sagt Man­fred Weber, Frak­ti­ons­vor­sit­zen­der der EVP im Euro­pa­par­la­ment. Die Fol­gen für Men­schen, Umwelt, Gesell­schaft, see­li­sche Ver­fas­sung und inter­na­tio­na­le Bezie­hun­gen wer­den wir alle zu spü­ren krie­gen: Zunah­me von Ver­ro­hung, Gewalt und Repres­si­on, von Armut, inter­na­tio­na­len Kon­flik­ten und Kriegen.

Statt auf Frie­dens­ver­hand­lun­gen und Inter­es­sen­aus­gleich setzt Euro­pa auf Auf­rü­stung. Die euro­päi­schen Waf­fen­im­por­te sind laut dem Frie­dens­for­schungs­in­sti­tuts Sipri zwi­schen 2020 und 2024 um 155 Pro­zent gestie­gen. Die Ukrai­ne ist größ­ter Waf­fen­im­por­teur der Welt. Die deut­schen Rüstungs­expor­te erreich­ten 2024 mit 13 Mil­li­ar­den Euro einen neu­en Höchst­stand. Mehr als die Hälf­te der Geneh­mi­gun­gen ent­fiel auf die Ukrai­ne. Die deut­schen Waf­fen­ex­por­te nach Isra­el haben sich seit dem Kriegs­be­ginn ver­viel­facht – Bei­hil­fe zu Kriegs­ver­bre­chen oder Geno­zid? Der Gene­ral­bun­des­an­walt scheint nicht gewillt, Ermitt­lun­gen auf­zu­neh­men. Die Züch­tung von Kriegs­men­ta­li­tät hier­zu­lan­de und die Bereit­stel­lung unge­heu­rer Kriegs­kre­di­te ist eng mit dem The­ma Flucht­ur­sa­chen ver­knüpft. Die herr­schen­de Kriegs­lo­gik ver­drängt und ver­leug­net, was nach Anga­ben der UN-Flücht­lings­or­ga­ni­sa­ti­on UNHCR 123 Mil­lio­nen Men­schen welt­weit in die Flucht getrie­ben hat. Sie sind auf der Flucht aus und in Län­dern, die unter Krie­gen und ihren Fol­gen zu lei­den haben: Afgha­ni­stan, Syri­en, Ukrai­ne, Vene­zue­la, Sudan, Irak. In allen die­sen Län­dern hat der Westen wesent­lich dazu bei­getra­gen, dass die Men­schen in stän­di­ger Angst vor Gewalt und Tod leben.

Die poli­tisch Ver­ant­wort­li­chen und die Leit­me­di­en klam­mern die­ses The­ma fast voll­stän­dig aus. Statt die Hin­ter­grün­de zu ana­ly­sie­ren und Kon­se­quen­zen zu zie­hen, baut man die EU zur Festung aus, um die Elen­den abzu­weh­ren: Abschot­tung gegen die Opfer die­ser Poli­tik. Und so tau­chen die Mil­lio­nen Flücht­lin­ge und die Zehn­tau­sen­den, die im Mit­tel­meer ertrun­ken oder in der Saha­ra ver­dur­stet sind, in den Wahl­kämp­fen nur als abzu­weh­ren­de Para­si­ten auf. Die Medi­en lei­sten täti­ge Bei­hil­fe: Sozia­le Situa­ti­on und Geschich­te der Atten­tä­ter und Trau­ma­ta der Opfer blie­ben unbe­ach­tet. War ein Täter kein Asyl­be­wer­ber, ver­lo­ren sie schnell das Inter­es­se an dem Fall. Neu­mann beob­ach­tet eine Eth­ni­sie­rung gesell­schaft­li­cher Pro­ble­me in der deut­schen Debat­te. In der neu­en auto­ri­tä­ren poli­ti­schen Kul­tur wür­den die rea­len Pro­ble­me der Migra­ti­on ange­la­stet: Sün­den­böcke für Kri­sen. Die Sprü­che der Poli­ti­ker sind so derb wie ver­roht. Der als klug und sen­si­bel gel­ten­de grü­ne Mini­ster Habeck will die »Ket­ten­sä­ge anwer­fen und das gan­ze Ding weg­bol­zen«. Das gan­ze Ding ist das Lie­fer­ket­ten­ge­setz, für das Men­schen­rechts­or­ga­ni­sa­tio­nen jah­re­lang gekämpft haben, um die Pro­duk­ti­on von Kon­zer­nen im glo­ba­len Süden nicht als Aus­beu­tung mit oft töd­li­chen Fol­gen lau­fen zu las­sen. Auch Chri­sti­an Lind­ner (FDP) woll­te noch im letz­ten Dezem­ber »mehr Milei oder Musk wagen« – sei­ne Zunei­gung zu den neo­li­be­ra­len Extre­mi­sten hat ihm immer­hin den Ein­zug in den Bun­des­tag verwehrt.

Natür­lich war die Zunah­me der Flücht­lings­zah­len abzu­se­hen, zumal die Ursa­chen lan­ge bekannt sind: Den Tod Zehn­tau­sen­der nimmt die kapi­ta­li­sti­sche Wer­te­ge­mein­schaft bil­li­gend in Kauf. Schon vor Jah­ren stell­te der dama­li­ge CSU-Mini­ster für wirt­schaft­li­che Zusam­men­ar­beit Gerd Mül­ler fest: »Wir haben unse­ren Wohl­stand auf dem Rücken der Ent­wick­lungs­län­der auf­ge­baut. Das wird nicht mehr lan­ge gut gehen. (…) Dann ist egal, was wir hier fest­le­gen. Die Men­schen wer­den uns nicht fra­gen, ob sie kom­men kön­nen.« In den Ver­tei­di­gungs­po­li­ti­schen Richt­li­ni­en der der Bun­des­wehr von 2011 lesen wir: »Aus­brei­tung von Wüsten-, Was­ser- und Boden­ver­knap­pung (…), erheb­li­che Wohl­stands­un­ter­schie­de, ver­bun­den mit sozia­len Dis­pa­ri­tä­ten füh­ren zu welt­wei­ten Migra­ti­ons­strö­men.« Und das Insti­tut der Euro­päi­schen Uni­on für Sicher­heits­stu­di­en EUISS pro­gno­sti­zier­te im glei­chen Jahr: »Abschot­tungs­ein­sät­ze – Schutz der Rei­chen die­ser Welt vor den Span­nun­gen und Pro­ble­men der Armen. Da der Anteil der armen, fru­strier­ten Welt­be­völ­ke­rung wei­ter­hin sehr hoch sein wird, wer­den sich die Span­nun­gen zwi­schen die­ser Welt und der Welt der Rei­chen wei­ter ver­schär­fen – mit ent­spre­chen­den Konsequenzen.«

Der Zustrom von Flüch­ten­den nach Euro­pa schafft Pro­ble­me. Da kom­men Kriegs­trau­ma­ti­sier­te, Kin­der ohne Eltern, jun­ge Män­ner ohne Per­spek­ti­ve, Müt­ter, die wäh­rend ihrer Odys­see Gewalt und Miss­brauch erlebt haben. Und sie tref­fen auf eine Gesell­schaft, die sie ablehnt und aus­grenzt – nein, das ist nur die hal­be Wahr­heit. Sie erfah­ren auch Anteil­nah­me und Unter­stüt­zung. Unzäh­li­ge Ver­ei­ne und Fami­li­en enga­gie­ren sich und schen­ken das knap­pe Gut Mit­mensch­lich­keit. Auch die kri­ti­sche, abweh­ren­de Hal­tung vie­ler Ein­hei­mi­scher ist nicht per se zu ver­dam­men, denn sie resul­tiert meist aus einer Angst; denn der all­täg­li­che Über­le­bens­kampf ist schon auf­rei­bend genug, bei der Suche nach bezahl­ba­rem Wohn­raum oder bei Pro­ble­men der Kin­der in Klas­sen mit ver­schie­de­nen ande­ren Mut­ter­spra­chen. Tole­ranz und Will­kom­mens­kul­tur fal­len denen leich­ter, die weder im Wohn­vier­tel noch in der Schu­le oder im Beruf Kon­kur­renz fürch­ten oder Armut und Benach­tei­li­gung erle­ben müssen.

Wird die sich abzeich­nen­de Poli­tik der neu­en Bun­des­re­gie­rung umge­setzt, mit den abseh­ba­ren Fol­gen von sozia­len Span­nun­gen, Kriegs­wirt­schaft und Kriegs­men­ta­li­tät ein­schließ­lich den Ansprü­chen Deutsch­lands auf Füh­rung in der neu zu for­mie­ren­den waf­fen­star­ren­den EU, sehen wir Zustän­de auf uns zukom­men, die Zer­stö­rung und Hass in sich tra­gen. Kriegs­men­ta­li­tät ver­trägt sich nicht mit Mensch­lich­keit. Nein, wir kön­nen nicht alle Pro­ble­me der Welt lösen und alle Flücht­lin­ge hier auf­neh­men. Es genügt, wenn Deutsch­land Men­schen und Natur nicht als Objek­te der Aus­beu­tung behan­delt, Inter­es­sen­kon­flik­te diplo­ma­tisch löst, statt sie durch Expan­si­on und Miss­ach­tung der Sicher­heits­be­dürf­nis­se ande­rer anzu­hei­zen. UN-Char­ta und das Frie­dens­ge­bot im Grund­ge­setz bil­den eine gute Grund­la­ge für inter­na­tio­na­le Koope­ra­ti­on und Abrü­stung: »Dass die Völ­ker nicht erblei­chen wie vor einer Räu­be­rin, son­dern ihre Hän­de rei­chen uns wie andern Völ­kern hin« (Kin­der­hym­ne, B. Brecht).