»Wir müssen schnell handeln. Ich glaube, was wir in den nächsten drei bis vier Jahren tun, wird über die Zukunft der Menschheit entscheiden«, sagte Sir David King, der ehemalige wissenschaftliche Chefberater der britischen Regierung im Bereich Klima 2021, und die Kabarettistin Hazel Brugger ergänzte jüngst scherzhaft zu diesem Thema: »Was braucht es, damit Deutschland das Tempolimit einführt? Eine Alien-Invasion?«
Aliens sind auf deutschen Straßen bisher noch nicht gesichtet worden, dafür aber immer häufiger Frauen und Männer der »Letzten Generation«, die sich alienhaft mit spektakulären Aktionen in die mediale und gesellschaftspolitische Debatte um das Thema Klimawandel hineinkatapultiert haben. Der Journalist Jan Heidtmann bringt dieses gesellschaftspolitische Phänomen in der Süddeutschen Zeitung folgendermaßen auf den Punkt: »Innerhalb eines Jahres ist die ›Letzte Generation‹ mit ihren umstrittenen Protesten zum Bürgerschreck geworden – und gewinnt gerade dadurch immer mehr Zulauf.« Das stimmt, denn es vergeht seit Wochen kaum ein Tag, an dem sich die »Letzte Generation« nicht medienwirksam zu Wort meldet: Mit Straßenblockaden, Kartoffelbrei und Suppe auf Kunstgemälden, mit klebenden Händen am Dirigentenpult in der Elbphilharmonie, mit Wissenschaftlern und Studenten im bayerischen Polizeigewahrsam, mit Gregor Gysi als Anwalt vor dem Amtsgericht Tiergarten und immer häufiger als Talkgäste bei Maischberger, Will, Lanz und Co. Das ist beeindruckend und ganz offensichtlich bitter nötig, auch wenn uns nicht vor wenigen Tagen auch noch die letzte UN-Klimakonferenz im ägyptischen Scharm asch-Schaich weitestgehend ergebnislos um die Ohren geflogen wäre.
Worum es der »Letzten Generation« im Kern geht, ist nicht mehr erklärungsbedürftig, aber es hapert noch mit der rechtsstaatlichen Akzeptanz ihrer Aktionen zivilen Ungehorsams, die sie mit folgender Forderung verknüpfen: »Im Angesicht des Klimakollaps brauchen wir jetzt ein Tempolimit von 100 km/h auf deutschen Autobahnen und ein dauerhaftes 9-Euro-Ticket. Ein Tempolimit von 100 km/h würde jährlich bis zu 5,4 Millionen Tonnen CO2 einsparen. Es ist sofort umsetzbar und das nahezu kostenlos. Eine Mehrheit für ein allgemeines Tempolimit gibt es bereits, und wir brauchen jede Treibhausgas-Einsparung, die wir kriegen können. Ein Tempolimit kann sogar ganz direkt Menschenleben retten, weil es zu weniger Verkehrstoten kommt. Bezahlbare Bahnen sind in Zeiten steigender Lebenshaltungskosten nur gerecht! Außerdem würde ein dauerhaftes 9-Euro-Ticket sogar noch mehr CO2 einsparen als ein Tempolimit.«
Bei der strafrechtlichen Auseinandersetzung um die Proteste der »Jungen Generation« geht es meist um den Nötigungsparagraphen (§ 240 StGB), der den Klimaaktivisten infolge ihrer Straßenblockaden zur Last gelegt wird. Vor einigen Jahrzehnten gab es mit dem Nato-Doppelbeschluss und der ihm folgenden Atomwaffenstationierung in Deutschland ein gesellschaftspolitisches Reizthema, was ebenfalls tausende von (Friedens-)Aktivisten landauf und landab in Gerichtssäle geführt hat. Auch damals wurden Sitzblockaden vor Atomwaffenlagern als strafbare Nötigung bewertet, es kam zu unzähligen Strafverfahren, und etwa 200 Menschen saßen ihre Strafe in bundesdeutschen Gefängnissen ab, weil sie sich im Recht fühlten und deshalb nicht bereit waren, die gegen sie verhängten Geldstrafen zu begleichen. Über mehrere Jahre führten Bundesverfassungsgericht und Bundesgerichtshof einen heftigen Streit um die Meinungshoheit zur Frage der Strafbarkeit von gewaltfreien Sitzblockaden, bis im Januar 1995 das Bundesverfassungsgericht die juristische Notbremse zog und folgendes entschied: »Die erweiternde Auslegung des Gewaltbegriffs in § 240 Abs. 1 StGB im Zusammenhang mit Sitzdemonstrationen verstößt gegen Art. 103 Abs. 2 GG« (BVerfGE 92, 1 – Sitzblockaden II). In der Folge mussten tausende von Urteilen aufgehoben werden, die Angeklagten erhielten ihrer bezahlten Geldstrafen zurück, bekamen ihre Anwaltskosten ersetzt, und die Inhaftierten bekamen 20 DM Haftentschädigung für einen Tag verbüßter Ersatzfreiheitsstrafe.
Zuvor war ein erbitterter Kampf um die Rechtmäßigkeit von Sitzblockaden geführt worden, und in den juristischen Begründungen kam es immer wieder zu kafkaesk anmutenden Stilblüten. So begründete das Landratsamt Reutlingen die Rechtmäßigkeit einer Festnahme von drei Sitzblockierern vor dem ehemaligen Atomwaffenlager Großengstingen auf der Schwäbischen Alb mit folgenden Worten: »Dadurch, dass Sie vor dem Tor 1 der Eberhardt-Finck-Kaserne der Bundeswehr in Großengstingen eine Sitzblockade durchführten, war die Funktionsfähigkeit der Streitkräfte der Bundesrepublik Deutschland gestört, da die erforderliche freie Zufahrt nicht mehr jederzeit gewährleistet war.«
Damals wie heute nervten die Sitzblockaden, und damals wie heute waren sie bitter nötig, führten sie doch letztlich zu einer dringend notwendigen Sensibilisierung für den eigentlichen Konfliktgegenstand. So funktioniert Demokratie. Und das ist auch gut so!