Skip to content

Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

Menu
Menu

Noch immer Terra incognita

Finis Afri­cae. Das »Ende von Afri­ka« liegt in einem sie­ben­ecki­gen Raum in der Mit­te des Süd­turms der laby­rin­thi­schen Biblio­thek des Klo­sters. Um ihn her­um zieht sich die Zone »Leo­nes«, der Löwen, in der die Autoren Afri­kas ver­sam­melt sind. Wir befin­den uns, Sie haben es viel­leicht schon bemerkt, mit­ten in dem Roman »Der Name der Rose«. In die­se klö­ster­li­che Irr­welt machen sich der Mönch Wil­liam von Bas­ker­ville und sein Adla­tus Adson von Melk auf, um die vie­len Rät­sel zu lösen, die Umber­to Eco für sei­ne Lese­rin­nen und Leser zurecht­ge­ba­stelt hat: das Rät­sel des Laby­rinths, der vie­len Todes­fäl­le und auch des Unbe­kann­ten hin­ter »dem Ende von Afrika«.

Die bei­den Prot­ago­ni­sten des Romans ver­su­chen wenig­stens, zu erfah­ren, was nach dem ihnen bekann­ten Bereich folgt. Die »wei­ßen Män­ner in Kha­ki«, die sich »am ver­schnei­ten Nach­mit­tag des 15. Novem­ber 1884« zur Ber­li­ner Kon­fe­renz an einem huf­ei­sen­för­mi­gen Tisch in der Wil­helm­stra­ße 77, dem Amts­sitz des Reichs­kanz­lers Otto von Bis­marck, ver­sam­melt hat­ten, ver­such­ten das nicht ein­mal. Sie waren nicht nach Ber­lin gekom­men, »um sich Wis­sen anzu­eig­nen«. Und was die Kar­te angeht, die über dem Kon­fe­renz­tisch prang­te, »groß und falsch; beein­druckend und unge­nau« so »hat­ten sie kei­ne wirk­li­che Ahnung davon, was sie sich ansa­hen«: »Der Höhe nach waren es knapp fünf Meter topo­gra­fi­schen Unsinns, skiz­ziert von Män­nern, die nie einen Fuß auf 90 Pro­zent des Lan­des, das sie abzu­bil­den behaup­te­ten, gesetzt hatten.«

Afri­ka zum Zwei­ten. Nach der Glo­bal­ge­schich­te von Howard W. French (Ossietzky 13/​2023) jetzt »die tem­pe­ra­ment­vol­le Kri­tik einer jahr­hun­der­te­lan­gen Falsch­dar­stel­lung« (Publishers Weekly) des in Chi­ca­go gebo­re­nen und in Nige­ri­as Haupt­stadt Lagos auf­ge­wach­se­nen Jour­na­li­sten Dipo Faloyin. Das infor­ma­ti­ve Buch ist unter dem Titel »Afri­ka ist kein Land« in die­sem Früh­jahr erschienen.

Na klar, wer­den Sie sagen, Afri­ka ist kein Land. Afri­ka ist ein Kon­ti­nent. Aber was wis­sen wir über die­sen Erd­teil mit sei­nen mehr als 1,4 Mil­li­ar­den Men­schen, sei­nen 54 Län­dern – Wie vie­le könn­ten wir auf­zäh­len samt ihren Haupt­städ­ten? – und sei­nen über 2000 Spra­chen? Wie blicken wir auf den Kon­ti­nent Afri­ka, für des­sen Bewohner/​innen wir noch immer die Bezeich­nung »Afri­ka­ner« ver­wen­den, so wie wir die vie­len Völ­ker und Stäm­me der indi­ge­nen Bevöl­ke­rung der bei­den ame­ri­ka­ni­schen Kon­ti­nen­te immer noch »India­ner« nen­nen. Was unter­schei­det uns da von den Römern, die alle Volks­stäm­me, die vom Nor­den an das Römi­sche Reich angrenz­ten, »Ger­ma­ni« nannten?

Die Teil­neh­mer an der Zusam­men­kunft in Ber­lin, spä­ter auch Kon­go-Kon­fe­renz genannt – es waren nur Män­ner: Mini­ster, Staats­se­kre­tä­re, Lega­ti­ons­rä­te, Kam­mer­herrn, Bot­schaf­ter –, reprä­sen­tier­ten »meh­re­re schwer­ge­wich­ti­ge Natio­nen aus dem Zeit­al­ter der sich for­men­den Impe­ri­en«, 14 an der Zahl: Groß­bri­tan­ni­en, Frank­reich, Por­tu­gal, die Nie­der­lan­de, Däne­mark, Spa­ni­en, Ita­li­en, Bel­gi­en, Öster­reich-Ungarn, Russ­land, Schwe­den-Nor­we­gen, das Osma­ni­sche Reich, die Ver­ei­nig­ten Staa­ten von Ame­ri­ka und Deutsch­land. Kein afri­ka­ni­scher Herr­scher war infor­miert wor­den, geschwei­ge eingeladen.

»80 Pro­zent von Afri­ka waren noch frei, als sich Bis­marck am ersten Tag der Kon­fe­renz gegen 14 Uhr erhob und vor die­ser Kar­te stand. Von die­sem Moment an wür­den inner­halb der näch­sten 30 Jah­re 90 Pro­zent Afri­kas von Euro­pa kon­trol­liert wer­den.« Das Zeit­al­ter des Kolo­nia­lis­mus nahm Fahrt auf.

Was sie taten, schreibt Faloyin, »war ille­gal, und sie alle wuss­ten das. Sosehr sie es auch als huma­ni­tä­ren oder christ­li­chen Ver­such klei­de­ten, die afri­ka­ni­sche Urbe­völ­ke­rung von ihrer soge­nann­ten ange­bo­re­nen Rück­stän­dig­keit zu befrei­en, war es nach den Maß­stä­ben von damals – und heu­te – grob ille­gal und ethisch unanständig.«

Und was taten die Abge­sand­ten der 14 Staa­ten? In mona­te­lan­gem Feil­schen ent­war­fen sie eine Gene­ral­ak­te, die – außer von den USA, aus innen­po­li­ti­schen Grün­den, wie es heißt – von allen Teil­neh­mern unter­zeich­net wur­de und die »das Ende von Afri­kas Selbst­be­stim­mung fest­schrieb und den Ansturm, alles auf dem Kon­ti­nent zu ver­schlin­gen, bis er sau­ber abge­pflückt war, beschleu­nig­te«. Mit Kon­se­quen­zen, »die über Jah­re hin­weg nach­hal­len wür­den und bis heu­te spür­bar sind«. Län­der­gren­zen wur­den ein­fach mit dem Line­al gezo­gen, ohne Rück­sicht auf bestehen­de Gren­zen und auf geo­gra­fi­sche oder eth­ni­sche Realitäten.

Faloyin zeich­net »mit Biss und Tem­po« (Zitat aus dem Klap­pen­text) neben dem histo­ri­schen Hin­ter­grund ein zeit­ge­mä­ßes Por­trät des urba­nen Lebens in Lagos, des erfolg­rei­chen Kamp­fes um Demo­kra­ti­sie­rung, die Geschich­te der Demokratie(versuche) in sie­ben Dik­ta­tu­ren – Nige­ria, Soma­lia, Gha­na, Rho­de­si­en, Ruan­da, Alge­ri­en, Äqua­to­ri­al­gui­nea. Er schreibt über leben­di­ge zivil­ge­sell­schaft­li­che Bewe­gun­gen und die ein­zig­ar­ti­ge Rol­le der Aun­ties – der Tan­ten – im Groß­fa­mi­li­en­ge­fü­ge. Her­aus­ra­gend ist das Kapi­tel über »Die Geburt des Bil­des vom wei­ßen Ret­ter oder Wie man kein wei­ßer Ret­ter ist und den­noch etwas ver­än­dern kann«. The­ma: die Kehr­sei­te der Cha­ri­ty-Indu­strie. Erhel­lend. Ein wei­te­res Kapi­tel behan­delt die Plün­de­run­gen und den Raub von Arte­fak­ten: Man­ches Muse­um wäre, wür­de es auch nur die Hälf­te sei­ner geraub­ten Objek­te zurück­ge­ben, »in jeder Hin­sicht ein sehr klei­nes Museum«.

Spe­zi­ell zu Deutsch­land steht zu lesen: »Deutsch­lands kolo­nia­le Prä­senz in Afri­ka war viel­leicht nicht so umfang­reich wie die Frank­reichs oder Groß­bri­tan­ni­ens, aber ihr Boxen­stopp auf dem Kon­ti­nent, bevor sie im Ersten Welt­krieg alles ver­lo­ren, war ver­hee­rend für Mil­lio­nen von Men­schen, die in ihre Fän­ge gerie­ten.« Stich­wort: Deutsch-Süd­west­afri­ka und die Rebel­li­on der Here­ro und Nama. Die Nie­der­schla­gung des Auf­stands wird als erster Völ­ker­mord des 20. Jahr­hun­derts gewer­tet und wur­de von der UNO 1985 als eines der schlimm­sten Mas­sa­ker der Geschich­te bezeichnet.

Wer das Buch liest, wird sicher­lich ver­blüfft fest­stel­len, wie sehr Afri­ka auch heu­te noch eine Ter­ra inco­gni­ta ist, ein »dunk­ler Kon­ti­nent« zwi­schen »Armut oder Safa­ri«. Dipo Faloyin bringt Licht ins Dun­kel, »mit leich­ter Hand«, wie eine Rezen­sen­tin schrieb. In frü­he­ren Zei­ten bebil­der­ten die Kar­ten­zeich­ner man­gels bes­se­ren Wis­sens unbe­kann­te Mee­re mit See­unge­heu­ern oder Dra­chen und schrie­ben dazu: »Hic sunt Dra­go­nes«. Und wenn es sich um unbe­kann­tes Land han­del­te, waren Löwen gefragt: »Hic sunt Leo­nes«. Faloyin hat mit sei­nem Buch die Löwen verjagt.

 Dipo Faloyin: Afri­ka ist kein Land. Aus dem Eng­li­schen über­setzt von Jes­si­ca Ago­ku. Suhr­kamp Ver­lag 2023, 399 S., 20 €.