Finis Africae. Das »Ende von Afrika« liegt in einem siebeneckigen Raum in der Mitte des Südturms der labyrinthischen Bibliothek des Klosters. Um ihn herum zieht sich die Zone »Leones«, der Löwen, in der die Autoren Afrikas versammelt sind. Wir befinden uns, Sie haben es vielleicht schon bemerkt, mitten in dem Roman »Der Name der Rose«. In diese klösterliche Irrwelt machen sich der Mönch William von Baskerville und sein Adlatus Adson von Melk auf, um die vielen Rätsel zu lösen, die Umberto Eco für seine Leserinnen und Leser zurechtgebastelt hat: das Rätsel des Labyrinths, der vielen Todesfälle und auch des Unbekannten hinter »dem Ende von Afrika«.
Die beiden Protagonisten des Romans versuchen wenigstens, zu erfahren, was nach dem ihnen bekannten Bereich folgt. Die »weißen Männer in Khaki«, die sich »am verschneiten Nachmittag des 15. November 1884« zur Berliner Konferenz an einem hufeisenförmigen Tisch in der Wilhelmstraße 77, dem Amtssitz des Reichskanzlers Otto von Bismarck, versammelt hatten, versuchten das nicht einmal. Sie waren nicht nach Berlin gekommen, »um sich Wissen anzueignen«. Und was die Karte angeht, die über dem Konferenztisch prangte, »groß und falsch; beeindruckend und ungenau« so »hatten sie keine wirkliche Ahnung davon, was sie sich ansahen«: »Der Höhe nach waren es knapp fünf Meter topografischen Unsinns, skizziert von Männern, die nie einen Fuß auf 90 Prozent des Landes, das sie abzubilden behaupteten, gesetzt hatten.«
Afrika zum Zweiten. Nach der Globalgeschichte von Howard W. French (Ossietzky 13/2023) jetzt »die temperamentvolle Kritik einer jahrhundertelangen Falschdarstellung« (Publishers Weekly) des in Chicago geborenen und in Nigerias Hauptstadt Lagos aufgewachsenen Journalisten Dipo Faloyin. Das informative Buch ist unter dem Titel »Afrika ist kein Land« in diesem Frühjahr erschienen.
Na klar, werden Sie sagen, Afrika ist kein Land. Afrika ist ein Kontinent. Aber was wissen wir über diesen Erdteil mit seinen mehr als 1,4 Milliarden Menschen, seinen 54 Ländern – Wie viele könnten wir aufzählen samt ihren Hauptstädten? – und seinen über 2000 Sprachen? Wie blicken wir auf den Kontinent Afrika, für dessen Bewohner/innen wir noch immer die Bezeichnung »Afrikaner« verwenden, so wie wir die vielen Völker und Stämme der indigenen Bevölkerung der beiden amerikanischen Kontinente immer noch »Indianer« nennen. Was unterscheidet uns da von den Römern, die alle Volksstämme, die vom Norden an das Römische Reich angrenzten, »Germani« nannten?
Die Teilnehmer an der Zusammenkunft in Berlin, später auch Kongo-Konferenz genannt – es waren nur Männer: Minister, Staatssekretäre, Legationsräte, Kammerherrn, Botschafter –, repräsentierten »mehrere schwergewichtige Nationen aus dem Zeitalter der sich formenden Imperien«, 14 an der Zahl: Großbritannien, Frankreich, Portugal, die Niederlande, Dänemark, Spanien, Italien, Belgien, Österreich-Ungarn, Russland, Schweden-Norwegen, das Osmanische Reich, die Vereinigten Staaten von Amerika und Deutschland. Kein afrikanischer Herrscher war informiert worden, geschweige eingeladen.
»80 Prozent von Afrika waren noch frei, als sich Bismarck am ersten Tag der Konferenz gegen 14 Uhr erhob und vor dieser Karte stand. Von diesem Moment an würden innerhalb der nächsten 30 Jahre 90 Prozent Afrikas von Europa kontrolliert werden.« Das Zeitalter des Kolonialismus nahm Fahrt auf.
Was sie taten, schreibt Faloyin, »war illegal, und sie alle wussten das. Sosehr sie es auch als humanitären oder christlichen Versuch kleideten, die afrikanische Urbevölkerung von ihrer sogenannten angeborenen Rückständigkeit zu befreien, war es nach den Maßstäben von damals – und heute – grob illegal und ethisch unanständig.«
Und was taten die Abgesandten der 14 Staaten? In monatelangem Feilschen entwarfen sie eine Generalakte, die – außer von den USA, aus innenpolitischen Gründen, wie es heißt – von allen Teilnehmern unterzeichnet wurde und die »das Ende von Afrikas Selbstbestimmung festschrieb und den Ansturm, alles auf dem Kontinent zu verschlingen, bis er sauber abgepflückt war, beschleunigte«. Mit Konsequenzen, »die über Jahre hinweg nachhallen würden und bis heute spürbar sind«. Ländergrenzen wurden einfach mit dem Lineal gezogen, ohne Rücksicht auf bestehende Grenzen und auf geografische oder ethnische Realitäten.
Faloyin zeichnet »mit Biss und Tempo« (Zitat aus dem Klappentext) neben dem historischen Hintergrund ein zeitgemäßes Porträt des urbanen Lebens in Lagos, des erfolgreichen Kampfes um Demokratisierung, die Geschichte der Demokratie(versuche) in sieben Diktaturen – Nigeria, Somalia, Ghana, Rhodesien, Ruanda, Algerien, Äquatorialguinea. Er schreibt über lebendige zivilgesellschaftliche Bewegungen und die einzigartige Rolle der Aunties – der Tanten – im Großfamiliengefüge. Herausragend ist das Kapitel über »Die Geburt des Bildes vom weißen Retter oder Wie man kein weißer Retter ist und dennoch etwas verändern kann«. Thema: die Kehrseite der Charity-Industrie. Erhellend. Ein weiteres Kapitel behandelt die Plünderungen und den Raub von Artefakten: Manches Museum wäre, würde es auch nur die Hälfte seiner geraubten Objekte zurückgeben, »in jeder Hinsicht ein sehr kleines Museum«.
Speziell zu Deutschland steht zu lesen: »Deutschlands koloniale Präsenz in Afrika war vielleicht nicht so umfangreich wie die Frankreichs oder Großbritanniens, aber ihr Boxenstopp auf dem Kontinent, bevor sie im Ersten Weltkrieg alles verloren, war verheerend für Millionen von Menschen, die in ihre Fänge gerieten.« Stichwort: Deutsch-Südwestafrika und die Rebellion der Herero und Nama. Die Niederschlagung des Aufstands wird als erster Völkermord des 20. Jahrhunderts gewertet und wurde von der UNO 1985 als eines der schlimmsten Massaker der Geschichte bezeichnet.
Wer das Buch liest, wird sicherlich verblüfft feststellen, wie sehr Afrika auch heute noch eine Terra incognita ist, ein »dunkler Kontinent« zwischen »Armut oder Safari«. Dipo Faloyin bringt Licht ins Dunkel, »mit leichter Hand«, wie eine Rezensentin schrieb. In früheren Zeiten bebilderten die Kartenzeichner mangels besseren Wissens unbekannte Meere mit Seeungeheuern oder Drachen und schrieben dazu: »Hic sunt Dragones«. Und wenn es sich um unbekanntes Land handelte, waren Löwen gefragt: »Hic sunt Leones«. Faloyin hat mit seinem Buch die Löwen verjagt.
Dipo Faloyin: Afrika ist kein Land. Aus dem Englischen übersetzt von Jessica Agoku. Suhrkamp Verlag 2023, 399 S., 20 €.