Nach dem »Wahlstreik« von Millionen Wählern in der Lombardei und im Latium am 12. Februar, als über 60 Prozent der Berechtigten den Wahlurnen ferngeblieben waren, in noch größerem Ausmaß als bei den Parlamentswahlen im September 2022 (siehe Ossietzky 5/23), lagen nach einem weiteren Sieg der Rechten in Mailand und Rom Hoffnungslosigkeit und Resignation in der Luft. Plätze und Straßen blieben leer – ganz im Gegensatz zu Frankreich!
Dagegen raffte sich nur zwei Wochen später (26.2.) über eine Million Bürger auf, um am Tag der sogenannten Primärwahlen zur neuen Führung der Demokraten (PD), nach dem Rücktritt ihres Chefs Enrico Letta, freiwillig ihre Stimme einzubringen. Und stieß damit das Gesamt-Wahlergebnis um – entgegen allen Vorhersagen, bei denen der von der Mehrheit der Parteimitglieder als traditionell favorisierte Stefano Bonaccini mit 54 Prozent vorne lag, vor der unkonventionellen, radikal auftretenden Elly Schlein (35 Prozent). Dieses Ergebnis wurde nun von außen umgekehrt und Schlein mit einer Zustimmung von 54 Prozent zur neuen Parteisekretärin gewählt. Bei diesen Primärwahlen konnten nicht nur Parteigenossen, sondern alle Volljährigen im Lande abstimmen, die 2 € pro Person spendeten. Es gaben zwar wesentlich weniger Menschen als bei früheren Gelegenheiten ihre Stimme ab, Romano Prodi wurde einst noch von 3,5 Mio. zum Parteichef gewählt. Aber das war auch noch ein anderes Italien. Man geht jetzt davon aus, dass die Lastminute-Wähler vor allem zu jenen Linken gehören, die sich längst nicht mehr parteipolitisch vertreten fühlen und doch der desolaten Stimmung in der tief gespaltenen Opposition eine neue Perspektive auf Veränderung geben wollten. Die junge Europäerin Elly Schlein, die schon über 10-jährige Politikerfahrungen in Brüssel und in der Regionalregierung der Emilia Romagna verfügt, als Stellvertreterin von Stefano Bonaccini, dem sie aufgrund seiner Hausmacht inzwischen das Präsidium antrug, muss nun allerdings neue Wege finden, um die Mehrheit der Demokraten mit ihren diversen Seilschaften hinter sich zu bringen, die gegen sie votierte (46 Prozent für Bonaccini). Die Partei liegt eigentlich am Boden, geschwächt durch unterschiedliche Interessen, Narzissmen und politische Leere, und Schlein steht vor einer großen Aufgabe, die ihre 9 Vorgänger in 15 Jahren nicht bewältigten.
Es gilt, dieser Partei endlich eine reale Funktion mit einem politischen Projekt zu geben, das die Millionen Menschen im Lande wieder direkt ansprechen kann, die sich früher einmal durch die KPI repräsentiert fühlten und danach politisch heimatlos wurden. Letzteres gilt praktisch für die Mehrheit aller abhängig Arbeitenden in Italien, deren soziale und wirtschaftliche Situation in einer Weise verschlechtert wurde, die kaum ihresgleichen in der EU hat. Für diesen neoliberalen Abbau der Rechte in den letzten Jahrzehnten ist gerade die PD in hohem Maße direkt mitverantwortlich: Die folgenschwere Lockerung der Arbeitsgesetzgebung durch den sogenannten Jobs Act ging z. B. auf das Konto von Matteo Renzi, der dann über seinen anmaßenden Versuch fiel, gleich auch die italienische Verfassung beschneiden zu wollen, die sich in ihrem ersten Artikel auf »die Arbeit« stützt. Die Liste der erfolgten Anpassungen an die von Brüssel forcierten Spar-Maßnahmen, die insgesamt zum Niedergang der Wirtschaft führten, wäre lang – doch Elly Schlein ist nun erklärtermaßen angetreten, das Ruder herumzureißen. Ob sie dem immer noch dominierenden neoliberalen Mainstream durch Belebung des sozialen Konfliktes Einhalt bieten kann, steht dahin, bisher wendet sie sich vor allem gegen den Abbau ziviler Rechte. Doch sie will der mitte-linken Mehrheit im Lande wieder eine hörbare Stimme und eine Chance geben, die schlechte rechte Regierung von Giorgia Meloni bei nächster Gelegenheit abzulösen.
Schon im nächsten Jahr, bei der Europa-Wahl, soll ein Zeichen gesetzt und das Projekt Melonis zu Fall gebracht werden, die EU über die Stärkung der von ihr seit 2020 angeführten EKR-Fraktion von rechts zu dominieren. Entsprechende Kontakte Melonis zu ihrem EVP-Kollegen Manfred Weber (CSU) und eine Annäherung der beiden Fraktionen gibt es bereits. Das ist eine politische Herausforderung, die nicht allein bewältigt werden kann, bei der viele Kräfte von links mitziehen müssen, nicht nur in Italien. Denn eine wesentlich stärkere Politisierung der EU-Wahlen ist unabdinglich, wenn die überall niedrige Wahlbeteiligung von nur etwa 50 Prozent überwunden werden soll. Die erklärte Feministin Schlein, die sich »für die Frauen« einsetzen will, tritt einer Meloni gegenüber, die nicht nur »als Frau«, sondern vor allem »als Christin«, als »italienische Patriotin« und last, but not least, »als Soldat« auftritt. Gegen deren reaktionären Individualismus, der sich mit der rechten Präsenz im Lande verstärkt hat, stellt Schlein eine kollektive Perspektive, die auch auf die Einbeziehung der vielen sozialen Basisbewegungen im Lande setzt. Zunächst sind die PD-Gremien auf lokaler Ebene gefordert, auch entscheidende Posten in Partei und Parlament besetzte Schlein ganz neu. Für ihre klaren Positionierungen hofft sie auf ausreichende Unterstützung von ihren eigenen, für sie neuen Parteigenossen – sie selbst ist ja erst seit kurzem Mitglied der PD. Erst in den kommenden Wochen und Monaten wird sich also abzeichnen, ob es zu einem weiterführenden Aufbruch wirklich kommt. Nur Einzelne haben die PD bisher wegen des durch Schlein verursachten »Linksrutsches« verlassen, sie werden den Terzo Polo um Matteo Renzi und Enrico Calenda stärken, der sowieso im Zweifel die Rechte unterstützt. Auch das künftige politische Erbe von Berlusconis Forza Italia wird dort verhandelt werden, voraussichtlich zwischen einer dann neuen Partei der rechten Mitte und der Partei Melonis.
Zu den großen Themen, die in Italien zur Bewältigung anstehen, gehören an vorderster Stelle die großen Ungleichheiten, die Millionen Menschen in Armut und an der Peripherie halten, gespeist durch hohe Inflation und ein völlig unzureichendes Lohnniveau, bei extrem hoher Steuerhinterziehung. Auch der skandalöse, wenn auch von der EU mitbedingte Umgang mit zunehmender Migration aus Afrika, oder mit dem – gegen EU-Normen praktizierten – Abbau von Zivilrechten und vieles andere mehr trennt die Politik von rechts und links. Differenzen vor allem über soziale Maßnahmen gibt es auch unter den Oppositionsparteien selbst: So steht die 5-Sterne-Bewegung von Giuseppe Conte mit ihrer Verteidigung des von ihr eingeführten Bürgergeldes, jenen maximal ca. 500 € im Monat, die aber Millionen vor absoluter Armut bewahren, bisher links von der PD, ohne jedoch den Neoliberalismus als Ganzes in Frage zu stellen. Nun macht Schlein mit vielen eher radikal anmutenden Forderungen Conte diese Position gewissermaßen streitig, aber alles Konkurrenzgebaren müssen beide vermeiden, vielmehr in Zukunft programmatische Übereinkünfte entwickeln, die ihnen neuen Zuspruch von Nichtwählern verschaffen und einen Wettstreit um ihre bisherigen Wähler vermeiden. Auch die kleinen Parteien der außerparlamentarischen Restlinken sind herausgefordert, sich entsprechend einzubringen.
Der gravierendste Unterschied zwischen PD und M5S besteht jedoch heute in ihrer Haltung zur militärischen Unterstützung der Ukraine durch den Westen. Solange der Krieg währt, sind soziale Kämpfe jedoch blockiert. Giuseppe Conte hat inzwischen mit seiner Führung des M5S eine zunehmend kritische Haltung zu den immer schwereren Waffenlieferungen der Nato-Länder eingenommen, denn nach einem Jahr massiver Zerstörungen und großer Menschenverluste auf beiden Seiten ist weder ein realistisches Kriegsziel vom Westen benannt, noch ist ein Ausstiegstermin absehbar. Die PD aber stand bisher bei allen Abstimmungen im italienischen Parlament fest zu den Nato-Forderungen, nicht nur für die Ukraine, sondern für alle Kriegsgebiete weltweit. Und Schlein unterstützt die Haltung der Brüsseler PSE, die inzwischen beides, mehr Waffen und mehr Diplomatie, fordert. Doch fast alle linken Kräfte Europas haben sich der Kriegslogik bisher gebeugt und blockieren sich damit selbst. Das kommt fast überall den Rechten zugute. Der für die neue Hochrüstung nötige finanzielle Aufwand stößt in Italien besonders schnell an die engen Grenzen der Erfordernisse selbst des abgemagerten Wohlfahrtsstaates. Auch der nationale Rettungsplan für den Wiederaufbau nach der Covid-Zeit (PNRR) bietet keine finanziellen Auswege, und die bisherige Sparpolitik hat viele Kompetenzen im öffentlichen Sektor abgebaut, die nun für die Ausführung vieler Projekte auf lokaler Ebene fehlen. Information darüber und Austausch mit der betroffenen Bevölkerung fehlen fast ganz. Auch darin manifestiert sich die Entfernung zwischen Institutionen und Wahlbürgern überdeutlich. Meloni war nun wieder in Brüssel vorstellig, denn auch der Staatshaushalt für 2024 gestaltet sich mehr als schwierig, und über all dem schwebt schon bald wieder das durch neue, von der EU-Kommission vorgeschlagene »unabhängige Steueragenturen« nur abgeschwächte Damoklesschwert des besonders von Deutschland favorisierten Stabilitätspaktes.
Alle wissen: Die Zulassung zum inner circle der Regierungsebene ist in Italien, wie in allen EU- und Nato-Staaten, fest an die Einhaltung der Brüsseler Forderungen zur Finanzpolitik und zur Nato gebunden. Das hatte Mario Draghi Giorgia Meloni nämlich vor ihrem Regierungsantritt klargemacht, ebenso wie Elly Schleins Vorgänger Enrico Letta nun auch seiner Nachfolgerin.