Gerade 25 Jahre alt war Gottfried Ludewig, der damalige Vorsitzende des CDU-nahen Studentenverbandes RCDS, also er 2008 eine Idee hatte und ein Papier mit »Drei Thesen zur Stärkung der Leistungsträger« vorlegte. Darin forderte er: »Diejenigen, die den deutschen Wohlfahrtsstaat finanzieren und stützen, müssen in diesem Land wieder mehr Einfluss bekommen. Die Lösung könnte ein doppeltes Wahl- und Stimmrecht sein.« Da allein mit »Hartz IV-Beziehern und Rentnern« der soziale Ausgleich in Deutschland nicht funktionieren könne, sei es sinnvoll, die Stimmrechte von Rentnern und Arbeitslosen bei Bundestags- und Landtagswahlen zu halbieren. Schließlich müsse das, was umverteilt werde, erst erarbeitet werden.
Erst zwei Jahre ist es her, dass die damalige taz-Redakteurin Johanna Roth einen ähnlichen Geistesblitz hatte und in der taz schrieb: »Liebe Mitwählende über 60, wir unter 30 hätten ja auch gern was vom Wohlstand, nicht zuletzt weil wir schon jetzt ärmer sind, als unsere Elterngeneration es je war, uns von Befristung zu Befristung hangeln und eigentlich nie so richtig freihaben, weil wir unsere Wochenenden damit verbringen, die letzte noch bezahlbare Wohnung zu finden (eure Renten finanzieren wir natürlich trotzdem gerne).« Die Schlussfolgerung von Frau Roth: »Was wir brauchen, ist eine Epistokratie der Jugend: das Wahlalter herabsenken und nach oben begrenzen – oder zumindest deutliche Anreize dafür setzen, die eigene Stimme an Jüngere zu delegieren.« Zugespitzt hieße das, Unschuldige vor einer in fundamentalen Fragen inkompetenten Wählerklientel zu schützen. »Das kann man jetzt demokratiefeindlich finden, ich finde es nur vernünftig, sich darüber zumindest mal Gedanken zu machen. (…) Ich mach’s also kurz: Führerscheine sollte man im Alter abgeben. Warum nicht auch das Wahlrecht?«
Frau Roth wollte durch ihren Vorstoß übrigens mehr Stimmen für die Grünen erreichen. Wahrscheinlich kein Zufall: Eine Partei mit überdurchschnittlich vielen Wählern aus einem wohlhabenden Milieu, die einst Seite an Seite mit der Schröder-SPD Hartz IV durchsetzte.
Beide, Herr Ludewig und Frau Roth, haben sich mit ihren Ideen noch nicht durchgesetzt. Doch die Grünen-Anhängerin Roth und der CDU-Mann Ludewig sind sich mindestens in einem Punkt einig: Kein Wahlrecht mehr für die Alten. Wenn alles gut geht, werden die Schwarzen und die Grünen nach der Bundestagswahl ihr neues Klassenwahlrecht in einen Koalitionsvertrag gießen können. Wir sollten uns vorbereiten. Denn die Leistungsträger oder die Jungen werden in Zukunft kaum noch für die Renten der materiell wie geistig nutzlosen Alten sorgen, für die wahlstimmlosen Greise. Mein Rat: Wenn schon ohne Wahlrecht, dann wenigstens mit ein paar Millionen auf dem Konto. Sowieso: Ein ganzes Heft über Armut – da braucht es zwischendurch eine Abwechslung. Und endlich einen Plan zum Reichwerden.
Sicher wollen Sie sich auch endlich einen SUV (das Lieblingsauto der Grünen) kaufen können. Oder eine schicke Eigentumswohnung. (Die meisten Grünen-Wähler finden sich in den gentrifizierten Edel-Altbaustadtteilen von Berlin, München, Köln oder Düsseldorf.) Sie wollen Ihre Kinder, weit weg von Volkan oder Aysche, von Mandy oder Justin, auf Privatschulen schicken und von der bildungsfernen Unterschicht separieren. (Rund 3.600 Schulen in privater Trägerschaft gibt es derzeit in Deutschland, eins von zehn schulpflichtigen Kindern ist dort angemeldet. Es sind vor allem Eltern mit besserer Bildung und höheren Einkommen, die ihre Kinder auf private Schulen schicken.) Sie wollen nicht mehr auf jedes Bioladen-Preisschild achten müssen; Sie wollen statt Dosenbier endlich auch mal einen frisch beatmeten Rotwein trinken; Sie wollen sich nicht mehr von billigem Schweinefleisch der Haltungsstufe II ernähren, sondern mit Lammrücken in Schoko-Olivenölsauce. Das macht auch gleich einen besseren Charakter. Und vor allem: Sie wollen dem ganzen Pflegeelend entkommen. Trotz des noch für Rentner existierenden Wahlrechts setzen die Wahlprogramme von CDU und Grünen ungerührt vor allem auf schöne Worte und berührungslose Digitalisierung.
Also reich werden! Im Netz finden Sie zahllose Tipps. Meist formuliert mit einem motivierenden »Du«. Gelernt habe ich schon: Ob Immobilienkäufe oder Spekulationen, ob Influencer-Karriere oder Politikerlaufbahn – Du brauchst ein Training Deines Mindsets. (Für Anfänger: Mit dem Mindset sind jene Denk- und Verhaltensweisen gemeint, mit denen Du Dich unbeirrt Deinen Aufgaben zuwendest.) Du musst das Mindset der Reichen und Schönen und Mächtigen verinnerlichen. Das heißt, Du musst zunächst um jeden Preis reich werden wollen. Du brauchst außerdem geregelte Arbeitszeiten, Du musst früh aufstehen (»Der frühe Vogel fängt den Wurm«), Du musst Dich regelmäßig selbst belohnen: Du hast den ganzen Tag geschuftet und zum Beispiel an der Börse einen Haufen Geld mit Lebensmittelspekulationen verdient. Geh gut essen, gönne Dir etwas, was Dir wirklich Freude macht: »Die ausgeschütteten Endorphine verschaffen Dir ein Glücksgefühl und nach einer Weile wirst Du unbewusst versuchen, mehr davon zu bekommen und dadurch mehr erreichen.« Besonders wichtig: »Suche Dir eine Aufgabe, die Dir Spaß macht! Das ist sehr wichtig, denn nur so bleibst Du interessiert, motiviert und wissbegierig.« Ein weiterer Tipp: »Wer sich selbst nicht liebt, den liebt auch kein anderer. Dazu gehört, dass Du Dich in Deiner Haut wohlfühlst. Achte auf passende Kleidung und Accessoires, um selbstbewusst aufzutreten. Nur wenn Du zufrieden mit Dir selbst bist, strahlst Du Autorität und Vertrauen auf Deine Mitmenschen, Kollegen und potenziellen Partner aus.« Ebenfalls zu beachten: »Umgib Dich nicht mit Menschen, die Dich herunterziehen. Wenn Du in Deinem Umfeld hingegen nur erfolgreiche und positive Menschen hast, kannst Du Dir gut etwas von diesen abgucken.«
Wir wissen doch: Wer arm bleibt, ist selber schuld. Ich bin mir also sicher: Sobald Sie Ihr Mindset trainiert haben, kommen die Millionen ganz von selbst. So hört es sich im Netz jedenfalls an. Für die Kulturbeflissenen unter uns: 100prozentige Tipps fürs Reichwerden gibt es ebenfalls zwischen Buchdeckeln. Sie müssen kein Minderleister bleiben, kein Klotz am Bein des Sozialstaates. Und bis zum Erfolg sollten wir uns auf keinen Fall von der traurigen Realität herunterziehen lassen:
Die Altersarmut steigt und steigt. Das zeigen Zahlen zum Bezug der Grundsicherung in Deutschland. 2020 waren so viele Senioren auf diese Leistung angewiesen wie noch nie. Mehr als 564.110 Menschen in Deutschland erhielten Ende des vergangenen Jahres Grundsicherung.
Ein Rekordwert seit der Einführung der (Sozial-)Leistung im Jahr 2003. Damals waren es 258.000 Menschen.
Auf Grundsicherung angewiesen sind vor allem Frauen. So erhielten laut Statistischem Bundesamt Ende 2020 knapp 315.000 Frauen und 249.000 Männer die Leistung. Ihnen sollte das Wahlrecht sofort entzogen werden. Mit diesen »Schmarotzern« (Guido Westerwelle) kann der soziale Ausgleich wahrlich nicht funktionieren. Ich bete für die schwarz-grüne Koalition.
- Es ist erst 100 Jahre her, dass das Dreiklassenwahlrecht in Preußen abgeschafft wurde.