Um zu begreifen, wie tiefgreifend, dramatisch und rasant sich gegenwärtig die Kräfteverhältnisse auf unserem Globus verschieben, kann man linke Publikationen wie Ossietzky lesen – man muss es aber noch nicht einmal. Nehmen wir die FAZ vom 8. Dezember 2023. Dort lesen wir auf Seite 1 die Schlagzeile »Biden: Republikaner beschenken Putin«, der über den Streit im US-amerikanischen Senat über eine weitere Milliardenhilfen für die militärisch gerade scheiternden ukrainischen Operationen gegen Russland berichtet. Auf S. 12 derselben Ausgabe kommentiert Nikolas Busse unter der Überschrift »Überdehnte USA« diesen Vorgang mit den Worten, dies sei »ein Signal des Prioritätenwechsels und der strategischen Erschöpfung einer seit langem überdehnten Weltmacht. In Berlin glauben noch viele, dass Amerikas Beistand auf alle Ewigkeiten gesichert sei. Aber wir leben nicht mehr im kalten Krieg. (…) Auch in Deutschland müssen sich die Prioritäten ändern. Es will keiner hören, aber hier wird man bald zwischen Sozialstaat und Verteidigung wählen müssen.«
Unter dem erwähnten Artikel auf Seite eins lesen wir die Schlagzeile »EU hält China unfairen Wettbewerb vor« und werden verwiesen auf einen Bericht des FAZ-Reporters Jochen Stahnke aus Peking, der gemeinsam mit seinem Brüsseler Kollegen Thomas Gutschker fast schon herzergreifend über das Martyrium der Spitzen der EU, Ratspräsident Charles Michel und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, bei ihrem Besuch in der chinesischen Hauptstadt berichten. Empfangen worden seien sie vom chinesischen Präsidenten Xi Jinping nicht wie bei Staatsbesuchen üblich in der »Großen Halle des Volkes«, sondern im »Staatsgästehaus Diaoyutai«, und Xi hätte für sie beim üblichen Foto noch nicht mal ein Lächeln übriggehabt. Wie sehr die Dinge ins Rutschen gekommen sind, macht nicht nur das Protokoll, sondern noch mehr eine Zahl deutlich, die in der Reportage erwähnt wird: »Da ist zum einen das gigantische Handelsdefizit, das sich in den vergangenen Jahren auf 400 Milliarden Euro verdoppelt hat.« Statt sich selbstkritisch zu fragen, was dazu führt, dass die 450 Millionen Menschen im europäischen Westzipfel zunehmend chinesische Waren – viele davon High-Tech-Produkte wie Laptops oder E-Autos – kaufen, aber die in China angebotenen Produkte von Unternehmen des alten Kontinents bei den 1,4 Milliarden Menschen dort auf so wenig Gegenliebe stoßen, jammert die Erbin alter Kolonialherren: »›Die europäischen Anführer werden es politisch nicht tolerieren können, dass unsere Industriebasis durch unfairen Wettbewerb untergraben wird‹, sagte von der Leyen am Ende des Tages. Sie sei froh, ›dass wir darin übereinstimmen, dass Handel ausgewogen sein sollte‹. (…) Europa verlangt von Peking, dass es staatliche Subventionen vermindert und vor allem seine Überkapazitäten abbaut.« Diese Worte muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: Die EU-Präsidenten will, dass die Volksrepublik China ihre eigenen Fabriken verkleinert, damit die in Europa wieder wie vor 150, 100 oder 50 Jahren aufblühen und ihre Produkte in der ganzen Welt zu Geld machen können. Geträumt wird immer noch davon, dass China nicht von »europäischer Hochtechnologie (…) abgeschnitten werden wolle«, obwohl die vorurteilsfreie Lektüre der eigenen Zeitung die beiden FAZ-Journalisten davon überzeugen würde, dass die chinesische Hochtechnologie von E-Autos über Solarzellen bis zu Wärmepumpen und von der Weltraumtechnologie bis zu Windkrafträdern der europäischen inzwischen um Jahre nicht mehr hinterher, sondern voraus ist – was die erwähnten 400 Milliarden Euro Handelsdefizit zum erheblichen Teil erklärt.
Wie sehr das einstige Zentrum des Imperialismus inzwischen mit dem Rücken an der Wand steht, macht auch das ängstliche, abwehrende Starren auf die ausgestreckte Hand des chinesischen Staatsoberhauptes deutlich. Der nämlich »warb für Kooperationen in ganz anderen Bereichen, die weit außerhalb der Brüsseler Vorstellungskraft liegen dürften. So wolle China zur Künstlichen Intelligenz mit der EU zusammenarbeiten, sagte Xi. Hier entgegnete von der Leyen, man sehe die Möglichkeiten, doch auch die ›großen Risiken‹. Das Thema dürfte auf ebenso große Skepsis der EU wie Xis Vorschlag stoßen, dass China sein strategisches
Infrastrukturprojekt der Seidenstraße doch mit dem europäischen ›Global Gateway‹-Projekt verknüpfen könnte. Tatsächlich ist ›Global Gateway‹ das europäische Gegenprogramm zur Seidenstraße, aus dem nun auch Italien als letztes großes EU-Land ausgestiegen ist.«
Bei so viel Unterlegenheit, protokollarischer Demütigung und angsterfüllter Defensive hilft nur noch drohendes Knurren von unten: Man habe »deutlich gemacht«, wird Michel referiert, »wie wichtig es sei, dass China Russland nicht bei der Umgehung von Sanktionen helfe. Die EU habe eine Liste verdächtiger Unternehmen zusammengestellt – sie wurde der chinesischen Seite übergeben und soll etwa ein Dutzend Unternehmen enthalten. Es sei wichtig, ›dass sie handeln, nachdem wir ihnen die Beweise vorgelegt haben‹, sagte von der Leyen. Andernfalls könnte die Europäische Union im zwölften Sanktionspaket gegen Russland erstmals auch Handelssperren gegen Unternehmen aus Festland-China verhängen.«
Ob diese Brandfackel gegen China geworfen wird, von der jeder vernünftige Mensch weiß, dass sie wahrscheinlich zurückprallt und die eigene Hütte in Brand setzt, wird sich zeigen.
Aber unübersehbar ist, wer hier gerade weltpolitisch die Initiative verliert. Und wer sie gewinnt.