Skip to content

Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

Menu
Menu

Niedergang des Wertewestens

Um zu begrei­fen, wie tief­grei­fend, dra­ma­tisch und rasant sich gegen­wär­tig die Kräf­te­ver­hält­nis­se auf unse­rem Glo­bus ver­schie­ben, kann man lin­ke Publi­ka­tio­nen wie Ossietzky lesen – man muss es aber noch nicht ein­mal. Neh­men wir die FAZ vom 8. Dezem­ber 2023. Dort lesen wir auf Sei­te 1 die Schlag­zei­le »Biden: Repu­bli­ka­ner beschen­ken Putin«, der über den Streit im US-ame­ri­ka­ni­schen Senat über eine wei­te­re Mil­li­ar­den­hil­fen für die mili­tä­risch gera­de schei­tern­den ukrai­ni­schen Ope­ra­tio­nen gegen Russ­land berich­tet. Auf S. 12 der­sel­ben Aus­ga­be kom­men­tiert Niko­las Bus­se unter der Über­schrift »Über­dehn­te USA« die­sen Vor­gang mit den Wor­ten, dies sei »ein Signal des Prio­ri­tä­ten­wech­sels und der stra­te­gi­schen Erschöp­fung einer seit lan­gem über­dehn­ten Welt­macht. In Ber­lin glau­ben noch vie­le, dass Ame­ri­kas Bei­stand auf alle Ewig­kei­ten gesi­chert sei. Aber wir leben nicht mehr im kal­ten Krieg. (…) Auch in Deutsch­land müs­sen sich die Prio­ri­tä­ten ändern. Es will kei­ner hören, aber hier wird man bald zwi­schen Sozi­al­staat und Ver­tei­di­gung wäh­len müssen.«

Unter dem erwähn­ten Arti­kel auf Sei­te eins lesen wir die Schlag­zei­le »EU hält Chi­na unfai­ren Wett­be­werb vor« und wer­den ver­wie­sen auf einen Bericht des FAZ-Repor­ters Jochen Stahn­ke aus Peking, der gemein­sam mit sei­nem Brüs­se­ler Kol­le­gen Tho­mas Gutsch­ker fast schon herz­er­grei­fend über das Mar­ty­ri­um der Spit­zen der EU, Rats­prä­si­dent Charles Michel und EU-Kom­mis­si­ons­prä­si­den­tin Ursu­la von der Ley­en, bei ihrem Besuch in der chi­ne­si­schen Haupt­stadt berich­ten. Emp­fan­gen wor­den sei­en sie vom chi­ne­si­schen Prä­si­den­ten Xi Jin­ping nicht wie bei Staats­be­su­chen üblich in der »Gro­ßen Hal­le des Vol­kes«, son­dern im »Staats­gä­ste­haus Dia­oyutai«, und Xi hät­te für sie beim übli­chen Foto noch nicht mal ein Lächeln übrig­ge­habt. Wie sehr die Din­ge ins Rut­schen gekom­men sind, macht nicht nur das Pro­to­koll, son­dern noch mehr eine Zahl deut­lich, die in der Repor­ta­ge erwähnt wird: »Da ist zum einen das gigan­ti­sche Han­dels­de­fi­zit, das sich in den ver­gan­ge­nen Jah­ren auf 400 Mil­li­ar­den Euro ver­dop­pelt hat.« Statt sich selbst­kri­tisch zu fra­gen, was dazu führt, dass die 450 Mil­lio­nen Men­schen im euro­päi­schen West­zip­fel zuneh­mend chi­ne­si­sche Waren – vie­le davon High-Tech-Pro­duk­te wie Lap­tops oder E-Autos – kau­fen, aber die in Chi­na ange­bo­te­nen Pro­duk­te von Unter­neh­men des alten Kon­ti­nents bei den 1,4 Mil­li­ar­den Men­schen dort auf so wenig Gegen­lie­be sto­ßen, jam­mert die Erbin alter Kolo­ni­al­her­ren: »›Die euro­päi­schen Anfüh­rer wer­den es poli­tisch nicht tole­rie­ren kön­nen, dass unse­re Indu­strie­ba­sis durch unfai­ren Wett­be­werb unter­gra­ben wird‹, sag­te von der Ley­en am Ende des Tages. Sie sei froh, ›dass wir dar­in über­ein­stim­men, dass Han­del aus­ge­wo­gen sein soll­te‹. (…) Euro­pa ver­langt von Peking, dass es staat­li­che Sub­ven­tio­nen ver­min­dert und vor allem sei­ne Über­ka­pa­zi­tä­ten abbaut.« Die­se Wor­te muss man sich auf der Zun­ge zer­ge­hen las­sen: Die EU-Prä­si­den­ten will, dass die Volks­re­pu­blik Chi­na ihre eige­nen Fabri­ken ver­klei­nert, damit die in Euro­pa wie­der wie vor 150, 100 oder 50 Jah­ren auf­blü­hen und ihre Pro­duk­te in der gan­zen Welt zu Geld machen kön­nen. Geträumt wird immer noch davon, dass Chi­na nicht von »euro­päi­scher Hoch­tech­no­lo­gie (…) abge­schnit­ten wer­den wol­le«, obwohl die vor­ur­teils­freie Lek­tü­re der eige­nen Zei­tung die bei­den FAZ-Jour­na­li­sten davon über­zeu­gen wür­de, dass die chi­ne­si­sche Hoch­tech­no­lo­gie von E-Autos über Solar­zel­len bis zu Wär­me­pum­pen und von der Welt­raum­tech­no­lo­gie bis zu Wind­kraft­rä­dern der euro­päi­schen inzwi­schen um Jah­re nicht mehr hin­ter­her, son­dern vor­aus ist – was die erwähn­ten 400 Mil­li­ar­den Euro Han­dels­de­fi­zit zum erheb­li­chen Teil erklärt.

Wie sehr das ein­sti­ge Zen­trum des Impe­ria­lis­mus inzwi­schen mit dem Rücken an der Wand steht, macht auch das ängst­li­che, abweh­ren­de Star­ren auf die aus­ge­streck­te Hand des chi­ne­si­schen Staats­ober­haup­tes deut­lich. Der näm­lich »warb für Koope­ra­tio­nen in ganz ande­ren Berei­chen, die weit außer­halb der Brüs­se­ler Vor­stel­lungs­kraft lie­gen dürf­ten. So wol­le Chi­na zur Künst­li­chen Intel­li­genz mit der EU zusam­men­ar­bei­ten, sag­te Xi. Hier ent­geg­ne­te von der Ley­en, man sehe die Mög­lich­kei­ten, doch auch die ›gro­ßen Risi­ken‹. Das The­ma dürf­te auf eben­so gro­ße Skep­sis der EU wie Xis Vor­schlag sto­ßen, dass Chi­na sein strategisches
Infra­struk­tur­pro­jekt der Sei­den­stra­ße doch mit dem euro­päi­schen ›Glo­bal Gateway‹-Projekt ver­knüp­fen könn­te. Tat­säch­lich ist ›Glo­bal Gate­way‹ das euro­päi­sche Gegen­pro­gramm zur Sei­den­stra­ße, aus dem nun auch Ita­li­en als letz­tes gro­ßes EU-Land aus­ge­stie­gen ist.«

Bei so viel Unter­le­gen­heit, pro­to­kol­la­ri­scher Demü­ti­gung und angst­er­füll­ter Defen­si­ve hilft nur noch dro­hen­des Knur­ren von unten: Man habe »deut­lich gemacht«, wird Michel refe­riert, »wie wich­tig es sei, dass Chi­na Russ­land nicht bei der Umge­hung von Sank­tio­nen hel­fe. Die EU habe eine Liste ver­däch­ti­ger Unter­neh­men zusam­men­ge­stellt – sie wur­de der chi­ne­si­schen Sei­te über­ge­ben und soll etwa ein Dut­zend Unter­neh­men ent­hal­ten. Es sei wich­tig, ›dass sie han­deln, nach­dem wir ihnen die Bewei­se vor­ge­legt haben‹, sag­te von der Ley­en. Andern­falls könn­te die Euro­päi­sche Uni­on im zwölf­ten Sank­ti­ons­pa­ket gegen Russ­land erst­mals auch Han­dels­sper­ren gegen Unter­neh­men aus Fest­land-Chi­na verhängen.«

Ob die­se Brand­fackel gegen Chi­na gewor­fen wird, von der jeder ver­nünf­ti­ge Mensch weiß, dass sie wahr­schein­lich zurück­prallt und die eige­ne Hüt­te in Brand setzt, wird sich zeigen.

Aber unüber­seh­bar ist, wer hier gera­de welt­po­li­tisch die Initia­ti­ve ver­liert. Und wer sie gewinnt.