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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Nie wieder Zi.-Soße und -Schnitzel

In das klei­ne Dorf, in dem ich auf­ge­wach­sen bin, kamen sie hin und wie­der: braun­häu­ti­ge Men­schen, die ihre von einem Pferd gezo­ge­nen Rei­se­wa­gen auf einem Anger abstell­ten. Die Män­ner boten ihre Dien­ste an, als Kes­sel­flicker zum Bei­spiel, denn damals wur­den Was­ser- und Wäsche­kes­sel und Koch­töp­fe und Pfan­nen noch repa­riert. Die Frau­en gin­gen von Haus zu Haus, auch sie boten ihre Dien­ste an, viel­leicht als Wahr­sa­ge­rin­nen oder als Hei­le­rin­nen. Ihre Kin­der toll­ten der­weil fröh­lich umher. Ein Hauch von Roman­tik weh­te durch das Dorf.

Und dann waren sie wie­der weg, so plötz­lich wie sie gekom­men waren. Zurück blieb die Erin­ne­rung an bun­te Tage mit Men­schen, von deren Her­kunft wir eben­so wenig wuss­ten wie über ihre Ver­gan­gen­heit oder ihr Schick­sal. Wir kann­ten sie aber aus Lie­dern, die wir auch in der Schu­le san­gen und deren Melo­dien bei Dorf­fe­sten zu fröh­li­chem Tanz auf­for­der­ten: »Lustig ist das Zigeu­nerleben, faria faria­ho. Brau­chen dem Kai­ser kein Zins zu geben, faria, faria­ho. Lustig ist’s im grü­nen Wald, wo des Zigeu­ners Auf­ent­halt. Faria, faria, faria, faria, faria, fariaho.«

Heu­te fra­ge ich mich, wie die­se Men­schen durch die bei­den vor­her­ge­hen­den Jahr­zehn­te gekom­men sind, Men­schen, die wir heu­te Sin­ti oder Roma nen­nen, damals aber »Zigeu­ner« nann­ten. Dies aller­dings mit dem glei­chen feh­len­den Unrechts­be­wusst­sein, wie wir schwarz­häu­ti­ge Men­schen »Neger« und die Urein­woh­ner Ame­ri­kas »India­ner« genannt haben. Wir Kin­der wuss­ten nicht, dass es sich bei kei­ner die­ser Benen­nun­gen um eine Eigen­be­zeich­nung han­del­te, son­dern um einen teils kolo­nia­li­stisch gepräg­ten abwer­ten­den Begriff der Mehr­heits­ge­sell­schaft, »um eine belie­bi­ge, ras­si­sti­sche Feind­se­lig­keit, die sich im Ver­bund mit exi­stie­ren­den Kon­struk­tio­nen histo­risch ent­wickel­te« (Susan Arndt, Ras­sis­mus; sie­he Ossietzky 15/​2022). Kurz gesagt: Wir wuss­ten und ahn­ten nichts von der den Wor­ten inne­woh­nen­den »Bana­li­tät des Bösen«.

»Bis zu einer hal­ben Mil­li­on Roma­nes-spra­chi­ge Men­schen sind in der Zeit des NS-Faschis­mus von den Nationalsozialist:innen und ihren Kompliz:innen (Ori­gi­nal­schreib­wei­se des Zitats; K.N.) ermor­det wor­den«, schrei­ben der in Kai­sers­lau­tern gebo­re­ne Romeo Franz und die in Ham­burg gebo­re­ne Publi­zi­stin Alex­an­dra Senfft in dem anrüh­ren­den Sach­buch »Groß­on­kel Pauls Gei­gen­bo­gen«. Senfft hat schon mit »Schwei­gen tut weh« eine ande­re Fami­li­en­ge­schich­te ver­öf­fent­licht, und zwar über das NS-Erbe ihrer Fami­lie mütterlicherseits.

Von den unge­fähr 30 000 deut­schen und 11 000 öster­rei­chi­schen Sin­ti und Roma sind, so erfah­re ich aus dem Buch, etwa 25 000 durch Zwangs­ar­beit, Tot­schlag sowie geziel­te Mor­de durch Gas in den Kon­zen­tra­ti­ons- und Ver­nich­tungs­la­gern umge­bracht wor­den. »O Baro Mar­epen« nen­nen die Sin­ti die­sen Völ­ker­mord, »das gro­ße Mor­den«. Schät­zun­gen zufol­ge kehr­ten nur zehn Pro­zent aller deut­schen Sin­ti wie­der nach Hau­se zurück, »voll­kom­men mit­tel­los und trau­ma­ti­siert«. Franz: »Mei­ne Men­schen fin­gen wie­der ganz von vor­ne an, obwohl wir seit dem 15. Jahr­hun­dert in Deutsch­land sess­haft sind.«

Noch 1976, Romeo Franz ist zehn Jah­re alt, lässt die Ver­gan­gen­heit die Ver­folg­ten nicht los. Es gibt von Romeo gean­gel­ten Fisch, und als sei­ne Groß­mutter den letz­ten Bis­sen genos­sen hat­te, wen­de­te sie sich ihm zu und sagt: »Dein Groß­va­ter hat gebacke­ne Forel­len auch über alles geliebt, weißt du.« Und dann erzählt Ursel-Mami, wie sie gemein­sam vor den Nazis flo­hen, sie eine gebür­ti­ge Ber­li­ne­rin, er im meck­len­bur­gi­schen Kreis Wis­mar zur Welt gekom­men. Bei­de überlebten.

Franz: »Weil Ursu­la und Alfons Blum Sin­ti waren, erklär­ten die Nationalsozialist:innen mit ihrer ras­si­sti­schen Ideo­lo­gie sie und mei­ne rest­li­che Fami­lie zu uner­wünsch­ten Frem­den, zu ›aso­zia­len und kri­mi­nel­len Ele­men­ten‹. Unse­re Men­schen (…) wur­den amt­lich erfasst und aus­ge­grenzt. Wer nicht floh, wur­de depor­tiert, in soge­nann­te Zigeu­nerlager gesperrt und umgebracht.«

Eine Bild­strecke zeigt Fami­li­en­fo­tos aus hun­dert Jah­ren. Stolz prä­sen­tiert sich der Urur­groß­va­ter in Uni­form und mit Kai­ser-Wil­helm-Schnauz­bart als Sol­dat im Ersten Welt­krieg. Auf sie­ben Kar­ten­sei­ten sind dann die Flucht­rou­ten der Fami­li­en­mit­glie­der und die KZ-Depor­ta­ti­ons­we­ge quer durch Euro­pa dar­ge­stellt. Hier ist auch der Lei­dens­weg des 1896 gebo­re­nen Groß­on­kels Paul Vin­ko Franz auf­ge­zeich­net: ver­haf­tet im pol­ni­schen Cho­j­nice (Konitz), depor­tiert nach Stet­tin und dann auf kur­zem Weg in die Gas­kam­mern von Ausch­witz-Bir­ken­au. Sein wert­vol­ler Gei­gen­bo­gen bleibt erhal­ten in der Obhut eines nach Ita­li­en flie­hen­den Fami­li­en­mit­glieds wohl­be­hü­tet in einem Geigenkoffer.

Der Musi­ker Romeo Franz – »Ich bin ein preu­ßi­scher Sin­to« – erbt spä­ter den Bogen und macht ihn zum Titel sei­nes im März erschie­ne­nen Buches. In ihm schil­dert er zusam­men mit sei­ner Koau­to­rin Senfft die Gene­ra­tio­nen lan­ge Ver­fol­gung und Dis­kri­mi­nie­rung sei­ner Fami­lie, deren Vor­fah­ren bereits im 17. Jahr­hun­dert in Preu­ßen und Pom­mern ansäs­sig waren. Er beschreibt, wie sie schon im Kai­ser­reich schi­ka­niert und abge­wer­tet wur­den, wie der NS-Faschis­mus sie zu ver­nich­ten trach­te­te und wie sie sich trotz aller Dis­kri­mi­nie­rung und Gän­ge­lung in der Bun­des­re­pu­blik eine neue Exi­stenz auf­bau­en und zu einem neu­en Zuein­an­der fin­den konn­ten. Und er erzählt von den inzwi­schen erreich­ten Erfol­gen. 2018 zog Franz als Nach­rücker für sei­nen Par­tei­kol­le­gen Jan Phil­ipp Albrecht, der in Schles­wig-Hol­stein zum Mini­ster ernannt wor­den war, als erster deut­scher Sin­to für die Grü­nen ins Euro­päi­sche Par­la­ment ein.

Wenn die Zeit es erlaubt, ist der pas­sio­nier­te Jazz­mu­si­ker auch heu­te noch mit sei­nem Romeo Franz Ensem­ble unter­wegs wie schon vor Jah­ren. Eine Epi­so­de am Ran­de (S. 290): »Als ich mit mei­nem Ensem­ble auf einem Schloss in Schles­wig-Hol­stein auf­trat, lern­te ich den ehe­ma­li­gen Bun­des­vor­sit­zen­den der SPD, Björn Eng­holm, ken­nen. Am Ende der Vor­stel­lung griff er eine unse­rer Gitar­ren, spiel­te ein paar Akkor­de und ließ sich mit uns auf der Büh­ne ablich­ten.« (Eng­holm erhielt 2014 die Aus­zeich­nung »Schles­wig-Hol­stei­ni­scher Mei­len­stein« des Lan­des­ver­ban­des Deut­scher Sin­ti und Roma für sein Enga­ge­ment für die­se Min­der­heit als Frak­ti­ons­vor­sit­zen­der im Schles­wig-Hol­stei­ni­schen Land­tag und dann als Ministerpräsident.)

Mei­ne Emp­feh­lung: Lesen Sie die­se Fami­li­en­chro­nik. Ich bin mir sicher, nach der Lek­tü­re wer­den Sie nie wie­der das Zi.-Wort benut­zen. Und Sie wer­den Loka­le boy­kot­tie­ren, die noch immer Zi.-Soße oder Zi.-Schnitzel auf ihrer Spei­se­kar­te anbieten.

Romeo Franz/​Alexandra Senfft: Groß­on­kel Pauls Gei­gen­bo­gen – Die Fami­li­en­ge­schich­te eines preu­ßi­schen Sin­to, Gold­mann Ver­lag, Mün­chen 2024, 384 Sei­ten, 24 €.