In das kleine Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, kamen sie hin und wieder: braunhäutige Menschen, die ihre von einem Pferd gezogenen Reisewagen auf einem Anger abstellten. Die Männer boten ihre Dienste an, als Kesselflicker zum Beispiel, denn damals wurden Wasser- und Wäschekessel und Kochtöpfe und Pfannen noch repariert. Die Frauen gingen von Haus zu Haus, auch sie boten ihre Dienste an, vielleicht als Wahrsagerinnen oder als Heilerinnen. Ihre Kinder tollten derweil fröhlich umher. Ein Hauch von Romantik wehte durch das Dorf.
Und dann waren sie wieder weg, so plötzlich wie sie gekommen waren. Zurück blieb die Erinnerung an bunte Tage mit Menschen, von deren Herkunft wir ebenso wenig wussten wie über ihre Vergangenheit oder ihr Schicksal. Wir kannten sie aber aus Liedern, die wir auch in der Schule sangen und deren Melodien bei Dorffesten zu fröhlichem Tanz aufforderten: »Lustig ist das Zigeunerleben, faria fariaho. Brauchen dem Kaiser kein Zins zu geben, faria, fariaho. Lustig ist’s im grünen Wald, wo des Zigeuners Aufenthalt. Faria, faria, faria, faria, faria, fariaho.«
Heute frage ich mich, wie diese Menschen durch die beiden vorhergehenden Jahrzehnte gekommen sind, Menschen, die wir heute Sinti oder Roma nennen, damals aber »Zigeuner« nannten. Dies allerdings mit dem gleichen fehlenden Unrechtsbewusstsein, wie wir schwarzhäutige Menschen »Neger« und die Ureinwohner Amerikas »Indianer« genannt haben. Wir Kinder wussten nicht, dass es sich bei keiner dieser Benennungen um eine Eigenbezeichnung handelte, sondern um einen teils kolonialistisch geprägten abwertenden Begriff der Mehrheitsgesellschaft, »um eine beliebige, rassistische Feindseligkeit, die sich im Verbund mit existierenden Konstruktionen historisch entwickelte« (Susan Arndt, Rassismus; siehe Ossietzky 15/2022). Kurz gesagt: Wir wussten und ahnten nichts von der den Worten innewohnenden »Banalität des Bösen«.
»Bis zu einer halben Million Romanes-sprachige Menschen sind in der Zeit des NS-Faschismus von den Nationalsozialist:innen und ihren Kompliz:innen (Originalschreibweise des Zitats; K.N.) ermordet worden«, schreiben der in Kaiserslautern geborene Romeo Franz und die in Hamburg geborene Publizistin Alexandra Senfft in dem anrührenden Sachbuch »Großonkel Pauls Geigenbogen«. Senfft hat schon mit »Schweigen tut weh« eine andere Familiengeschichte veröffentlicht, und zwar über das NS-Erbe ihrer Familie mütterlicherseits.
Von den ungefähr 30 000 deutschen und 11 000 österreichischen Sinti und Roma sind, so erfahre ich aus dem Buch, etwa 25 000 durch Zwangsarbeit, Totschlag sowie gezielte Morde durch Gas in den Konzentrations- und Vernichtungslagern umgebracht worden. »O Baro Marepen« nennen die Sinti diesen Völkermord, »das große Morden«. Schätzungen zufolge kehrten nur zehn Prozent aller deutschen Sinti wieder nach Hause zurück, »vollkommen mittellos und traumatisiert«. Franz: »Meine Menschen fingen wieder ganz von vorne an, obwohl wir seit dem 15. Jahrhundert in Deutschland sesshaft sind.«
Noch 1976, Romeo Franz ist zehn Jahre alt, lässt die Vergangenheit die Verfolgten nicht los. Es gibt von Romeo geangelten Fisch, und als seine Großmutter den letzten Bissen genossen hatte, wendete sie sich ihm zu und sagt: »Dein Großvater hat gebackene Forellen auch über alles geliebt, weißt du.« Und dann erzählt Ursel-Mami, wie sie gemeinsam vor den Nazis flohen, sie eine gebürtige Berlinerin, er im mecklenburgischen Kreis Wismar zur Welt gekommen. Beide überlebten.
Franz: »Weil Ursula und Alfons Blum Sinti waren, erklärten die Nationalsozialist:innen mit ihrer rassistischen Ideologie sie und meine restliche Familie zu unerwünschten Fremden, zu ›asozialen und kriminellen Elementen‹. Unsere Menschen (…) wurden amtlich erfasst und ausgegrenzt. Wer nicht floh, wurde deportiert, in sogenannte Zigeunerlager gesperrt und umgebracht.«
Eine Bildstrecke zeigt Familienfotos aus hundert Jahren. Stolz präsentiert sich der Ururgroßvater in Uniform und mit Kaiser-Wilhelm-Schnauzbart als Soldat im Ersten Weltkrieg. Auf sieben Kartenseiten sind dann die Fluchtrouten der Familienmitglieder und die KZ-Deportationswege quer durch Europa dargestellt. Hier ist auch der Leidensweg des 1896 geborenen Großonkels Paul Vinko Franz aufgezeichnet: verhaftet im polnischen Chojnice (Konitz), deportiert nach Stettin und dann auf kurzem Weg in die Gaskammern von Auschwitz-Birkenau. Sein wertvoller Geigenbogen bleibt erhalten in der Obhut eines nach Italien fliehenden Familienmitglieds wohlbehütet in einem Geigenkoffer.
Der Musiker Romeo Franz – »Ich bin ein preußischer Sinto« – erbt später den Bogen und macht ihn zum Titel seines im März erschienenen Buches. In ihm schildert er zusammen mit seiner Koautorin Senfft die Generationen lange Verfolgung und Diskriminierung seiner Familie, deren Vorfahren bereits im 17. Jahrhundert in Preußen und Pommern ansässig waren. Er beschreibt, wie sie schon im Kaiserreich schikaniert und abgewertet wurden, wie der NS-Faschismus sie zu vernichten trachtete und wie sie sich trotz aller Diskriminierung und Gängelung in der Bundesrepublik eine neue Existenz aufbauen und zu einem neuen Zueinander finden konnten. Und er erzählt von den inzwischen erreichten Erfolgen. 2018 zog Franz als Nachrücker für seinen Parteikollegen Jan Philipp Albrecht, der in Schleswig-Holstein zum Minister ernannt worden war, als erster deutscher Sinto für die Grünen ins Europäische Parlament ein.
Wenn die Zeit es erlaubt, ist der passionierte Jazzmusiker auch heute noch mit seinem Romeo Franz Ensemble unterwegs wie schon vor Jahren. Eine Episode am Rande (S. 290): »Als ich mit meinem Ensemble auf einem Schloss in Schleswig-Holstein auftrat, lernte ich den ehemaligen Bundesvorsitzenden der SPD, Björn Engholm, kennen. Am Ende der Vorstellung griff er eine unserer Gitarren, spielte ein paar Akkorde und ließ sich mit uns auf der Bühne ablichten.« (Engholm erhielt 2014 die Auszeichnung »Schleswig-Holsteinischer Meilenstein« des Landesverbandes Deutscher Sinti und Roma für sein Engagement für diese Minderheit als Fraktionsvorsitzender im Schleswig-Holsteinischen Landtag und dann als Ministerpräsident.)
Meine Empfehlung: Lesen Sie diese Familienchronik. Ich bin mir sicher, nach der Lektüre werden Sie nie wieder das Zi.-Wort benutzen. Und Sie werden Lokale boykottieren, die noch immer Zi.-Soße oder Zi.-Schnitzel auf ihrer Speisekarte anbieten.
Romeo Franz/Alexandra Senfft: Großonkel Pauls Geigenbogen – Die Familiengeschichte eines preußischen Sinto, Goldmann Verlag, München 2024, 384 Seiten, 24 €.