In diesen Tagen las ich in der jungen Welt, dass Mitte Mai ein junger Mann als Angeklagter vor dem Amtsgericht Dannenberg sitzen musste, weil er ein Wahlplakat von Bündnis 90/Die Grünen mit einem Spruch gegen den Krieg bemalt hatte. Während des Wahlkampfes zum Niedersächsischen Landtag hatte er die antimilitaristische Aussage »Wir zahlen nicht für eure Kriege – can›t – won›t pay!« auf einem Wahlplakat dieser Partei angebracht. Daraufhin erging gegen ihn ein Strafbefehl, gegen den er Einspruch einlegte, weil er die Kriminalisierung dieser Handlung für unbegründet hielt. So kam es zu einer Hauptverhandlung, in deren Folge er dann letztlich doch verurteilt wurde. In dieser hatte er vergeblich darauf hingewiesen, dass die Gefahr der Eskalation des Krieges zu einem Weltkrieg besteht und kriminell doch eher diejenigen seien, die die Kriege führen, mit ihnen Menschenleben gefährden und daran verdienen.
Mich erinnerte das an einen anderen Prozess, der 63 Jahre früher im damaligen Westberlin stattgefunden hat. Dort stand im Januar 1960 ebenfalls ein junger Mann vor Gericht. Ihm wurde Beleidigung des amtierenden Bundeskanzlers Adenauer vorgeworfen. Der junge Mann stammte aus einem antifaschistischen Elternhaus und nahm an einer Demonstration der FDJ in Berlin-Neukölln teil. »Da hatten sie Plakate mit einer Karikatur des britischen Daily Express hochgehalten: Darauf trocknete sich Kanzler Adenauer mit einem Hakenkreuztuch die Krokodilstränen, während aus seinen Rockschößen sein Kanzleramtschef Globke und sein Minister Oberländer purzelten.«
Globke hatte einst die Nürnberger Rassegesetze der Nazis in einem juristischen Kommentar inhaltlich ausgelegt. Seit 1953 war er die rechte Hand Adenauers. Oberländer konnte ebenso auf eine nazistische Vergangenheit zurückblicken und war inzwischen Vertriebenenminister in Bonn. Letzterer war dann der Meinung, er müsse den jungen Mann anzeigen, was sich am Ende als Bumerang erwies. Die damit zugleich angestoßene öffentliche Diskussion über seine frühere Tätigkeit im faschistischen Staat führte dazu, dass er als Minister Anfang Mai 1960 zurücktreten musste.
Globke war klüger und äußerte sich nicht. Trotz der Tatsache, dass auch über seine Vergangenheit längst eine öffentliche Auseinandersetzung im Gange war, konnte er sich bis zur Beendigung von Adenauers Amtszeit halten und ging dann zusammen mit seinem Chef in Pension.
Der Angeklagte junge Demonstrant Klaus Walter – sein Name wurde damals sowohl in westdeutschen als auch DDR-Zeitungen genannt – erhielt zwei Monate Haft wegen Beleidigung. Da er sich in der Sache in Untersuchungshaft befunden hatte, waren diese bei Urteilsverkündung bereits verbüßt.
Beide Prozesse zeigen deutliche Parallelen trotz der mehr als sechs Jahrzehnte zeitlichem Unterschied. Der Volksmund sagt: Wer die Wahrheit äußert, braucht ein verdammt schnelles Pferd. Wird er trotzdem gefasst, ist eine Kriminalisierung leider noch immer nicht ausgeschlossen.