Die Nachricht löste eine heftige Diskussion in der Redaktion aus, die vor geraumer Zeit ihren Titel auf zwei Buchstaben verkürzt und die Unterzeile »Sozialistische Tageszeitung« gleich mit getilgt hatte. Sie feierte soeben ihren 75. Geburtstag, offenbar wollten sich doch noch einige ihrer Wurzeln erinnern. Die Kontroverse hatte sich an der Frage entzündet, ob man der Leserschaft mitteilen müsse, dass Professor M. M. 98-jährig in Berlin verstorben sei und man ihm einige ehrende Worte im Blatt nachrufen sollte. Die jüngeren Redakteure waren dagegen, und eine Kollegin – so um die vierzig, die den Namen offenbar noch nie gehört und sich darum per Google kundig gemacht hatte – begründete ihre kategorische Ablehnung mit der Bemerkung, der sei doch nur ein Urologe, der zudem seit über dreißig Jahren nicht mehr praktiziert habe. Da genüge ein Schulterzucken.
In dieser Debatte wurde einmal mehr offenbar, wie mit der Zeit die kollektive Erinnerung verblasst und das kollektive Unwissen wächst, weil auch das World Wide Web weite Maschen hat.
Natürlich war M. M. ein Urologe, der in Moskau sein Medizinstudium fortgesetzt hatte, nachdem er es hatte unterbrechen müssen – nach dem Überfall seiner Landsleute, die ihn und seine jüdische Familie bereits Anfang der dreißiger Jahre aus Deutschland vertrieben hatten. Er meldete sich damals freiwillig zur Roten Armee und erlebte seine Feuertaufe Ende 1941 an der Wolokolamsker Chaussee. Dreißig Kilometer vor Moskau brachte die Rote Armee die Wehrmacht zum Stehen. Das war die überhaupt erste Niederlage der faschistischen Armeen seit dem 1. September 1939.
M.M. kämpfte bis 1945 an der Front und rettete die Ehre Deutschlands insofern, als auch er bewies, dass nicht alle Deutschen Nazis waren. Allerdings muss man einräumen, dass er damit zu einer verschwindenden Minderheit gehörte.
Im Juni 1945 sah der nunmehrige Gardeoberleutnant die Trümmer Dresdens. Er war auf der Durchreise. Das Ende des Krieges hatte er in Mähren erlebt, nun wurde er nach Asien umgesetzt, um – das hatte Stalin Roosevelt zugesichert – den USA bei der Niederringung des japanischen Faschismus beizustehen. M. M. kam mit der 53. Armee in die Mongolei und im November 1945 per Befehl zur Militärverwaltung in die sowjetisch besetzte Zone in Deutschland. Dort war er zwei Jahre lang in der Politischen Abteilung im Regierungsbezirk Halle-Merseburg tätig.
24-jährig kehrte er im Frühjahr 1947 nach Moskau zurück. Es folgten die Fortsetzung des Studiums und Promotion und schließlich Ende der fünfziger Jahre die Übersiedlung in die DDR. Als Urologe arbeitete M. M. in der Berliner Charité. Als Mediziner machte er sich in der Nieren-Forschung einen Namen, er war eine Koryphäe. Er gehörte der Akademie der Wissenschaften der DDR und der UdSSR und nach deren Ende auch der Russischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften an.
Aber M. M. war eben nicht nur Wissenschaftler, sondern zeitlebens auch ein politisch aktiver Mensch. So leitete er beispielsweise die DDR-Sektion der International Physicians for the Prevention of Nuclear War (IPPNW), der Ärzte gegen den Atomkrieg. Seit Beginn der siebziger Jahre saß er im Zentralkomitee der SED. Berühmt wurde er mit seinem dortigen Auftritt am 18. Oktober 1989. Er hatte als Einziger der mehr als zweihundert anwesenden Mitglieder und Kandidaten des ZK nach dem Sturz Honeckers und der Wahl von Krenz selbstkritisch von seinem Platz aus erklärt, dass er den Mut, den er einst vor dem Feind bewiesen hätte, hier habe vermissen lassen. Er habe geschwiegen und trage darum die volle Verantwortung für das Scheitern mit.
In den neunziger Jahren schloss sich M. M. jenen Persönlichkeiten an, die einen Ältestenrat ins Leben riefen, welcher die PDS-Führung beraten sollte. Seine in fast fünfzig Jahren als Mitglied der KPdSU und der SED gemachten Erfahrungen legten es nahe, ein Gremium zu schaffen, das der Selbstgefälligkeit und Selbstüberschätzung, zu der Parteiführungen neigen, aktiv entgegenwirken sollte.
Wir sahen uns oft auf Veranstaltungen in der russischen Vertretung, die die Veteranen des Großen Vaterländischen Krieges regelmäßig einlud. Ihre Reihen lichteten sich mit den Jahren. Unsere letzte Begegnung fand in seiner Wohnung am Märkischen Ufer statt, in der er seit 2015, seit dem Tod seiner Frau Sonja, allein lebte. Wir sprachen über seinen Beitrag für eine zum Druck vorbereitete Biografie seines ehemaligen Chefs, des sowjetischen Kulturoffiziers Sergej Tulpanow, einer bis heute unterschätzten Schlüsselfigur der sowjetischen Nachkriegspolitik in Deutschland, einem Juden und feinsinnigen, kultivierten Kommunisten, wie er selbst einer war. Unser mehrstündiges Gespräch kam immer wieder auf die Mutfrage zurück – Mut vorm Feind und Mut vorm Freund, also Zivilcourage. Ein sehr akutes Thema, wie er fand.
Ende April ist Moritz Mebel verstorben.
Von wegen: Urologe, der nicht mehr praktiziert und uns nichts zu sagen hatte.