Der reichsweite antijüdische Terror erreichte vor 90 Jahren, am 1. April 1933, einen vorläufigen Höhepunkt. Wie viele Christen sich damals anständig verhielten angesichts des schikanösen Boykotts gegen tausende Geschäfte, Anwälte, Ärzte und Apotheker, lässt sich schwer sagen. Wenige Beispiele sind dokumentiert, darunter das Verhalten des Berliner Pfarrers Mähl vom Prenzlauer Berg. Als er an bewusstem Tag an der Minerva-Apotheke in der Schönhauser Allee vorbeikommt, sieht er davor drei bedrohliche SA-Uniformierte stehen. Er geht, so erinnert er sich, spontan auf sie zu. »›Wehe rühren Sie mich an!‹ Dr. Kobylinski stand zufällig an der Tür, ich ging zu ihm hin und sagte zu ihm: Ich komme heute nicht zu Ihnen, um etwas zu kaufen, sondern um Ihnen meine Sympathie auszusprechen. Ich schäme mich heute, evangelischer Geistlicher zu sein.«
Er schämte sich mit vollem Grund. Denn ein kirchenamtliches Wort des Protestes war nicht zu hören, im Gegenteil. Der ranghöchste Geistliche der Kurmark und bekennende Antisemit, Generalsuperintendent Dibelius, rechtfertigte die Regierungsmaßnahme in mehreren Veröffentlichungen, wie der Berliner Historiker Manfred Gailus in seinem jüngst erschienenen Buch über Protestanten im Dritten Reich feststellt (vgl. dazu »Neues aus der Kirchengeschichte« in: Ossietzky Nr. 22/2022, S.770 f.).
Schon in der ersten Woche der Hitler-Papen-Regierung gab es, so Gailus, im großen Berliner Dom eine Art Staatsakt, der die geistige und politische Position kirchlicher Gremien beleuchtete. Geehrt wurde der erschossene NS-Straßenkämpfer Maikowski. In der vordersten Reihe der Kirche saßen Hitler, Göring, Kronprinz Wilhelm aus dem Haus Hohenzollern und zahlreiche deutsch-christliche Pfarrer in Amtstracht. Einer dieser Pfarrer tönte von der Kanzel mit Blick auf den vorm Altar aufgebahrten Anführer des SA-Sturms vulgo Mordsturm 33: »Du warst einer der besten unter uns, gleich Horst Wessel. Du hast mit uns den Acker bearbeitet (…). Ein Sämann durftest du sein, dem Gott in die kleine Menschenhand köstliche Saat gelegt (…).« Möglich geworden war die Zeremonie, weil Oberdomprediger Burghart dem Wunsch der seit kurzem regierenden NSDAP trotz Bedenken stattgegeben hatte.
»Die protestantische Performance der Hitlerzeit war und bleibt eine schwere Hypothek«, resümiert Manfred Gailus (wobei die Performance wohl dem schönen Stabreim mit protestantisch geschuldet ist). Sein Buch enthält die Zusammenfassung von über 30jährigen Forschungen zum evangelischen Christentum in faschistischer Zeit mit dem Schwerpunkt Reichshauptstadt. Eine Skandal-chronik mit wenigen Lichtblicken. Ein solcher Lichtblick war die evangelische Lehrerin Elisabeth Schmitz, gewürdigt in einem eigenen Kapitel. Ihre 1935 verfasste mutige Denkschrift Zur Lage der Nichtarier, die sie mit einem Nachtrag Folgen der Nürnberger Gesetze selbst vervielfältigte und verteilte, um die zur Judenverfolgung schweigende Bekennende Kirche aufzurütteln, blieb wirkungslos. Bereits 1939 ließ sich die Studienrätin frühpensionieren, aus Gründen des Gewissens.
Der Bogen der Darstellung spannt sich von der Garnisonkirche und dem TAG VON POTSDAM über das völkische Deutschchristentum bis zum letzten Kapitel über die langen Schatten der Hitlerzeit in der Nachkriegskirche. Apropos Nachkriegszeit: Berühmt geworden und nach der Befreiung vielfach belobigt ist der Kampf der Bekennenden Kirche (BK), mit dem sich klerikale Kirchenführer in der Restaurationszeit nach 1945 gerne schmückten, dabei nicht selten ihre Widerständigkeit maßlos übertreibend. Gailus vertritt die einleuchtende, von ihm belegte These, dass der Kirchenkampf im Wesentlichen ein »Bruderkampf im eigenen Haus« war, nämlich der Widerstand gegen die Gleichschaltung und Germanisierung der Kirche durch die Bewegung der Deutschen Christen. Diese versuchten mittels Wählermehrheiten und staatlicher Hilfe, teilweise auch mit Brachialgewalt, die Dominanz in Fragen der kirchlichen Posten, der Finanzen und der Lehre zu erlangen. Am Anfang des Konfliktes stand die Gründung des Pfarrer-Notbundes gegen die Versuche, den »Arier-Paragraphen« in der Kirche einzuführen. Der Kampf war grundsätzlich nicht politisch gemeint, eine Gegnerschaft gegen das NS-Regime war das nicht. Die meisten BK-Pfarrer begrüßten Hitlers aggressive Außenpolitik.
Kein Buch ist perfekt, so gibt es auch hier Desiderate. Berlin galt einst als eine Hochburg des religiösen Sozialismus. Im Abschnitt »Berlin vor 1933« würdigt Gailus zwei der im Bund religiöser Sozialisten aktiven Pfarrer, die er »im Kampf mit dem modernen Unglauben« sieht (dies verkennt aber Kern und Motiv ihrer Arbeit). Ab 1933 fehlt im Buch jeder Hinweis auf sie. Was diese Pfarrer von der Menge der deutschnationalen Amtsbrüder unterschied, war das Immunsein gegen Nationalismus, Rassenwahn und Kriegsbejahung, weil das ihrem Wesen und Credo entsprach. Sie bildeten nach 1933 ein widerständiges Netzwerk. Einer der ihren, der Jurist Ernst von Harnack, verdient als Märtyrer erwähnt zu werden. Er leitete einen konspirativen Kreis in Zehlendorf und endete als Verschwörer gegen Hitler am Galgen. Sein Freund war der führende religiöse Sozialist Arthur Rackwitz, Pfarrer in Neukölln, ein Fels, ein rocher de bronze, dessen Haus zur Zuflucht Verfolgter wurde. Er schloss sich (zögerlich) der BK an und kam 1944 ins KZ. Von ihm hörte seine Gemeinde niemals ein Gebet für den Führer oder den Sieg Deutschlands. Wenn beklagt wird, dass recht wenig Predigten aus der NS-Zeit zur Verfügung stehen (Gailus, S. 20), so sei der Hinweis erlaubt, dass Frau Ruth Losinsky – religiös-soziales Gemeindeglied in Neukölln – die Predigten von Rackwitz seit 1937 mitstenographierte, eine noch wenig erschlossene Quelle, veröffentlicht 1982 vom Amtsnachfolger Olaf Meyer.
Manfred Gailus: Im Bann des Nationalsozialismus. Das protestantische Berlin im Dritten Reich, Freiburg im Breisgau (Herder) 2023, 320 S., 30 €.