Die Wahrheit lässt sich nicht verbrennen. Man kann sie nicht verbieten oder unterdrücken. Sie ist durch nichts zu vernichten. Die Wahrheit ist die Wahrheit. Sie ist einfach da. Sie ist immer gerade da, wo Unwahrheit sich ausbreitet. Sie lässt sich leicht erkennen. Jeder kann sie gewinnen. Für sich und andere. Wer die Wahrheit einmal erkannt hat, auf den wird sie ihren unwiderstehlichen Zauber ausüben. Die Kraft der Überzeugung. Jeder kann sie vertreten und ihr seine Stimme geben. Dazu ist unter Umständen Mut nötig.
Immer gibt es Mächtige, denen die Wahrheit unbequem ist und die andere daran hindern wollen, sie auszusprechen. Manchmal sind es nur Narren und Kinder, die sich das trauen, während alle anderen die Wahrheit feige verleugnen. Seht ihr denn nicht, der Kaiser da, der so großtut und allen etwas vorschwindelt, ist nackt! Am Lachen kann man die Wahrheit erkennen. Am Lächeln, das sich auf den befreiten Gesichtern ausbreitet, wenn einer die Wahrheit ausspricht.
Es kann sein, dass Terror die Menschen hindert, öffentlich zu bekennen, was sie erkannt haben. Angst und Schrecken schüchtern sie ein, machen sie mundtot. Dann werden sie die Wahrheit im Herzen tragen und sie flüsternd weitersagen. Auch wo alle ängstlich oder vorsichtig schweigen, ist die Wahrheit zu hören. Es kann sein, dass Menschen ihre Macht missbrauchen, um andere zu hindern, die Wahrheit auszusprechen. Es kann sein, dass die Wahrheit Angst macht, weil sie unerbittlich Konsequenzen fordert, Bestehendes zu ändern. Es kann sein, dass es manchmal klüger ist, eine Wahrheit für sich zu behalten. Aber es ist das Größte und Schönste, was ein Mensch erreichen kann, die Wahrheit zu erkennen und sie auszusprechen.
Millionenfach wurden die Bücher von Bertha von Suttner und Erich Maria Remarque gelesen. Und plötzlich inszeniert eine militärisch organisierte Terrorbande in aller Öffentlichkeit einen Aufmarsch und verbrennt diese Bücher vor aller Augen. Wo waren da diese Millionen LeserInnen? Wagten sie keinen Einspruch? Erinnerten sich nicht wenigstens einige an Heinrich Heine, der gewarnt hatte, wo man Bücher verbrennt, werde man am Ende auch Menschen verbrennen? Das berühmte Zitat findet sich in der Tragödie Almansor. Ximenes, der Erzbischof von Toledo, hatte den Koran in Granada demonstrativ verbrannt. Und wenn die eingeschüchterten Millionen Leser unter den Beobachtern der Bücherverbrennung von 1933 daran dachten, glaubten sie, es würde sie schon nicht betreffen? Schließlich waren sie keine Moslems oder Juden, gehörten nicht zu denen, gegen die die Reconquista sich richtete? Dabei kennt die Wahrheit keinen Unterschied zwischen Rassen, Klassen, politischen Parteien, Bekenntnissen und Glaubensrichtungen.
Moment mal, was soll das? Fabian von Erich Kästner? Was soll dieses Buch auf dem Scheiterhaufen? Wer hat sich denn diesen Blödsinn ausgedacht? Was steht da noch auf der Liste? Heinrich Manns Der Untertan? Lion Feuchtwangers Roman Erfolg. Sogar Jaroslav Hašeks Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk während des Weltkrieges und Freuds Buch über die Traumdeutung wurden damals verbrannt. Auch Maximilian Hardens Sammlung literarischer Porträts Köpfe landete 1933 auf dem Scheiterhaufen. Als Harden 1927 an den Folgen des Mordanschlags von 1922 starb, bedauerten die Nationalsozialisten, dass ihnen dadurch die Möglichkeit genommen war, auf ihre Weise mit dem Autor abzurechnen. Was sie damit meinten, haben sie durch die brutale Folter und den Mord von Carl von Ossietzky und anderen kritischen Autoren gezeigt. Die Weltbühne gehört auch zu dem Schrifttum, das sie in die Flammen warfen.
Wo war 1933 das stolze Volk der DichterInnen und DenkerInnen geblieben? Warum ließ es sich diese Schmach gefallen, die der Auftakt war zu den größten Verbrechen der Menschheit. So tief geriet es durch sein schweigendes Dulden in den braunen Sumpf, dass es sich aus eigener Kraft nicht daraus befreien konnte.
In Potsdam wurde am 22. Mai dieses Jahres, dem Jahrestag der Bücherverbrennung, ein Gedenkort eingerichtet: Eine kleine, in einer roten Telefonzelle untergebrachte Schaubibliothek von Büchern, die damals verbrannt wurden. Etwa 20 TeilnehmerInnen waren dazu in der Mittagspause auf dem Bassinplatz zusammengekommen, berichteten die PNN. »So wenig?«, fragte mich eine Kollegin, die den Zeitungsbericht gelesen hatte. »Warum wenig?«, fragte ich zurück. »Das ist doch viel! Jeder einzelne zählt.« Viele davon kannte ich persönlich. Wäre die Aktion etwas besser organisiert und vorbereitet worden, wären sicher mehr gekommen. Aber es war eine Aktion von BürgerInnen, die handelten, weil die Politik zögert, einen Gedenkort zu schaffen. Und nun steht in Potsdam eine rot leuchtende Telefonzelle auf dem Bassinplatz zur Erinnerung an die Schande von 1933. Auch ich habe ein paar Bände eingestellt, Werke von Döblin, Feuchtwanger und Arnold Zweig. Natürlich habe ich nur Dubletten ausgewählt. Auch den zweiten Band von Hašeks Schwejk hatte ich doppelt. Die meisten Bücher blieben zu Hause im Regal, weil sie einfach nicht dauerhaft zu entbehren sind. Was damals verbrannt wurde, gehört zu dem Besten, was wir überhaupt haben. Kästners Fabian konnte ich unmöglich hergeben. Nicht mal die gekürzte und etwas entschärfte Fassung von 1931, und schon gar nicht die ursprüngliche Version, die erst 2013 im Atrium-Verlag Zürich erschien.