Das Urteil des Amtsgerichts Cochem fiel schlicht aus: Zwei Zäune hatten die Atomtod-GegnerInnen am 30. April 2019 zerschnitten, unberechtigt waren sie dann in das militärische Sperrgebiet der Luftwaffenbasis Büchel spaziert, wo deutsche Kampfpiloten tagtäglich den Zielabwurf von mutmaßlich 20 dort lagernden US-amerikanischen Atombomben üben. Ausführlich rechtfertigten die angeklagten FriedensaktivistInnen der Gruppe »Büchel 17« ihr Vorgehen als einen Akt zivilen Ungehorsams, als Aufforderung, endlich den fraktionsübergreifenden Beschluss des Bundestages von 2010 umzusetzen und alle US-Nuklearwaffen aus Deutschland abzuziehen. Das Gericht hörte ihnen geduldig zu, als sie auf die wachsende Gefahr eines Atomkrieges, auf dessen fürchterliche Folgen und auf das Völkerrecht hinwiesen, das bereits die Lagerung von Atomwaffen verbietet und der »nuklearen Teilhabe« Deutschlands jede rechtliche Basis entzieht.
Doch obwohl laut Grundgesetz das Völkerrecht in Deutschland unmittelbar gilt, zeigte sich Amtsrichter Zimmermann unbeeindruckt. Auch dem Beweisantrag, einen wissenschaftlichen Experten zu laden, um diesen zum gefährlichen Zusammenhang zwischen Digitalisierung und einem aus Versehen ausgelösten Atomkrieg zu befragen, erteilte er eine Absage und urteilte am 19. und 24. Juni 2020 schlicht: »Hausfriedensbruch«!
Für dieses Delikt sollen die FriedensaktivistInnen jeweils unterschiedlich teure Strafen zahlen in Höhe von 30 bis 60 Tagessätzen. Zimmermann mochte mit seinen Urteilen auch nicht auf das Bundesverfassungsgericht warten, das demnächst über die Beschwerde gegen einen ähnlich einfältigen Beschluss des Oberlandesgerichts Koblenz vom 9. April 2020 entscheiden muss. »Das Urteil hat nichts damit zur tun, ob hier Atomwaffen lagern oder nicht«, erklärte Zimmermann. Zuvor hatte er sich auf das Koblenzer Obergericht bezogen und gesagt, auf einen »rechtfertigenden Notstand« könnten sich die Angeklagten nicht berufen, schließlich sei die Gefahr eines Atomkrieges »nicht gegenwärtig«.
Diese Aussage ignoriert gefährliche Vorgänge.
Nicht nur die verurteilten Atomtod-Gegnerinnen sehen die Gefahr eines mit Nuklearwaffen geführten Krieges dramatisch akuter als das Gericht. So haben die Wissenschaftler der US-Organisation Atomic Bulletin, darunter 13 Nobelpreisträger, am 23. Januar dieses Jahres die Weltuntergangsuhr »Doomsday clock« auf nur noch 100 Sekunden vor 24 Uhr gestellt – und damit so dicht vor Mitternacht wie noch nie seit ihrer Gründung im Jahr 1947:
»Die Menschheit ist weiterhin zwei existenziellen Gefahren ausgesetzt – Atomkrieg und Klimawandel –, die durch einen Bedrohungsmultiplikator, einen cyberfähigen Informationskrieg, verstärkt werden, der die Reaktionsfähigkeit der Gesellschaft untergräbt. Die internationale Sicherheitslage ist schlimm, nicht nur, weil diese Bedrohungen bestehen, sondern weil die Staats- und Regierungschefs der Welt die internationale politische Infrastruktur für ihre Verwaltung erodiert haben«, heißt es in der Erklärung des Atomic Bulletin. Ergänzend betonte Jerry Brown, der Vorstandsvorsitzende des Bulletin: »Gefährliche Rivalität und Feindseligkeit unter den Supermächten erhöhen die Wahrscheinlichkeit eines nuklearen Fehlers. Der Klimawandel verschärft nur die Krise. Wenn es jemals Zeit gibt aufzuwachen, ist es jetzt.«
Doch der Weckruf blieb folgenlos. »Ich unterstütze jede Initiative, wenn es darum geht, dass wir irgendwann eine Welt ohne Atomwaffen haben«, erklärte Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) am 22. April im Interview mit der Süddeutschen Zeitung – um im Weiteren dann ungeniert mit orwellschem Neusprech für den Kauf von atombombenfähigen F-18-Kampfflugzeugen zu werben und die illegale nukleare Teilhabe Deutschlands als »realistische Vorsorge für unsere Sicherheit« zu verklären.
Ähnlich doppelzüngig agiert Außenminister Heiko Maas (SPD). Auch er schwadroniert häufig über nukleare Abrüstung, hat aber der Forderung von SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich und SPD-Chef Norbert Walter-Borjans nach Abzug der US-Atombomben aus Deutschland zusammen mit Angela Merkel postwendend eine Absage erteilt. Merkel hatte bereits die 2010 vom Bundestag fraktionsübergreifend beschlossene Forderung nach Abzug der US-Atombomben ins Leere laufen lassen, indem sie beharrte, nur gemeinsam mit allen NATO-Verbündeten über den Abzug zu verhandeln.
Nur scheinbar hoffnungsvoll meldet der aktuelle Jahresbericht, den das Stockholmer Internationale Friedensforschungsinstitut (SIPRI) im Juni vorgestellt hat, dass die Atommächte die Zahl ihrer nuklearen Sprengköpfe 2019 um etwa 3,5 Prozent auf schätzungsweise 13.400 verringert haben. Doch gleichzeitig, so SIPRI sorgenvoll, werde den Atomwaffenarsenalen eine wachsende militärische Bedeutung zugemessen. Alle Atommächte seien dabei, ihre nuklearen Waffen weiter zu modernisieren. So sollen demnächst auch die Bomben in Büchel durch modernisierte Nuklearsprengköpfe ersetzt werden.
Entgegen der im Atomwaffensperrvertrag verankerten Pflicht der Atommächte zur nuklearen Abrüstung sehe es so aus, dass alle neun Atomwaffenstaaten an ihren Arsenalen auf unbestimmte Zeit festhalten wollen, erläuterte SIPRI-Experte Shannon Kile. Die USA und Russland, die beide gemeinsam über mehr als 90 Prozent der Sprengköpfe verfügen, hätten Atomwaffen in ihren militärischen Planungen neue und größere Rollen eingeräumt, was einem Trendwechsel im Vergleich zur Zeit nach dem Kalten Krieg entspreche. »Was uns insgesamt beunruhigt, ist die wachsende Bedeutung von Atomwaffen«, sagte Kile.
In dieses erschreckende Bild passt ein Bericht der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 18. Juni über eine NATO-Tagung. Brüssel-Korrespondent Thomas Gutschker berichtet darin über bisher geheim gehaltene Pläne des westlichen Kriegsbündnisses, die kurz zuvor beim Treffen der NATO-Verteidigungsminister besprochen worden seien. Danach wird die Allianz künftig bei etwaigen bewaffneten Auseinandersetzungen mit Russland »früher als bisher mit nuklearer Vergeltung drohen« können. Zudem werde es möglich sein, konventionell bewaffnete Raketen von mittlerer Reichweite, die die NATO in Europa zu stationieren erwäge, im Spannungsfall nuklear aufzurüsten.
Offiziell hat die NATO nach der Ministertagung nur verlautbart, sie wolle ihre »nukleare Abschreckung anpassen«. Man habe sich darauf geeinigt, zusätzliche Schritte zu unternehmen, um eine »sichere und effektive Abschreckung zu gewährleisten«, sagte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg, ohne Details zu nennen.
Das Internetportal german-foreign-policy verweist in dem Zusammenhang auf die geltende US-Nukleardoktrin aus dem Jahr 2018. Danach setzen die US-Militärplaner darauf, mit Atomwaffen geringerer Sprengkraft einen »begrenzten« Atomkrieg führen zu können, der nach Lage der Dinge in Europa stattfinden und den Kontinent zerstören würde.
Schon 2016 hatte der US-General Philip M. Breedlove, er war damals Oberkommandierender der US-Streitkräfte in Europa und Oberbefehlshaber der NATO, bei einer Anhörung vor dem US-Kongress erklärt: »Die USA sind bereit, gegen Russland in Europa zu kämpfen und es zu besiegen.« Mit dem Großmanöver »Defender Europe 2020«, haben die USA und die NATO Anfang 2020 eine Art Testmobilmachung gegen Russland geprobt, die dann wegen Covid-19 etwas kleiner als geplant ausgefallen ist (zur Zeit aber mit Schießübungen von US-Truppen auf dem Truppenübungsplatz Bergen in der Lüneburger Heide fortgesetzt wird, ausgerechnet dort, wo schon die Panzertruppe der Nazis ihren Barbarossa-Feldzug trainierte).
Mitte Dezember 2019, wenige Tage vor dem Beginn des Defender-Manövers meldete sich der russische Generalstabschef Waleri Gerassimow zu Wort. Vor ausländischen Militärattachés warnte er in Moskau, die NATO bereite zielbewusst einen großen Militärkonflikt vor: »In den baltischen Staaten und in Polen, im Schwarzen Meer und in der Ostsee nehmen die Militäraktivitäten und die Intensität der Militärübungen des Bündnisses zu. Ihre Szenarien weisen darauf hin, dass sich die NATO zielbewusst darauf vorbereitet, ihre Truppen an einem großen Militärkonflikt einzusetzen«, beschrieb Gerassimow die Lage.
Er machte auch auf den Beschluss des NATO-Gipfels von Anfang Dezember 2019 aufmerksam, einen Teil der Truppen an die Ostflanke des Bündnisses zu verlegen – näher an die Grenze zu Russland. Und er referierte, die NATO-Länder hätten seit dem Jahr 2016 ihre Militärausgaben insgesamt um 130 Milliarden US-Dollar aufgestockt. Bis zum Jahr 2024 sollten es um 400 Milliarden US-Dollar mehr sein.
Im Jahr 2018 hatte die NATO die Formel »vier mal dreißig« entwickelt, wonach das Militärbündnis innerhalb von 30 Tagen 30 Heeresbataillone, 30 Kampfschiffe und 30 Flugzeuge verlegen können soll. Gerassimow wörtlich: »Die Handlungen der Allianz steigern die Spannungen und senken das Niveau der Sicherheit auf der Kontaktlinie Russland – NATO. Das Risiko gefährlicher Vorfälle im Militärbereich zu verringern soll die wichtigste Richtung im Dialog zwischen Russland einerseits und den USA und der NATO andererseits bleiben.«
Dieser Dialog ist seit dem Staatsstreich in der Ukraine und der Sezession der Krim erheblich gestört. Immerhin reden beide Atomsupermächte nun seit dem 22. Juni über eine eventuelle Verlängerung des New-Start-Vertrages, der die Begrenzung der strategischen Atomwaffenarsenale beider Länder beinhaltet. Wenn es keine Einigung gibt, läuft der Vertrag im Februar kommenden Jahres ersatzlos aus; es wäre das Ende des letzten großen Rüstungskontrollvertrages zwischen Russland und den USA. US-Präsident Donald Trump (»Wenn wir Atomwaffen
haben, warum setzen wir sie nicht ein?«) hat bereits den INF-Vertrag von 1987 gekündigt, der landgestützte Mittelstreckenraketen in Europa verboten hatte. Ebenso hat er den Austritt der USA aus dem Open-Skies-Abkommen erklärt, mit dem 1992 die Staaten der NATO und des inzwischen aufgelösten Warschauer Vertrages geregelt hatten, gegenseitig ihre Territorien auf festgelegten Routen zu überfliegen, um per Foto, Radar oder Infrarot eine militärische Kontrollüberwachung zu ermöglichen. Diese vertrauensfördernde Maßnahme hat Washington nun beendet. Unterdessen hat die Washington Post berichtet, bei einem Geheimtreffen am 15. Mai hätten US-Regierungsvertreter über eine Wiederaufnahme der amerikanischen Atombombentests beraten. In diesem Fall müsste Trump vorher aus keinem Abkommen austreten, denn die USA haben im Gegensatz zu Russland und 163 anderen Ländern den Comprehensive Nuclear-Test-Ban Treaty (Kernwaffenteststopp-Vertrag) aus dem Jahr 1996 nie ratifiziert.
Mit 20 Aktionswochen vor dem Fliegerhorst Büchel hatte die Friedensbewegung auch in diesem Jahr ihre Kampagne für eine atomwaffenfreie Welt fortsetzen wollen. Wegen der Covid-19-Pandemie mussten aber bis Ende Juni alle Aktionen abgesagt werden. Die Internationalen Ärzte gegen den Atomkrieg (IPPNW) zeigten vom 3. bis 5. Juli vor dem Militärstützpunkt Flagge; etlichen Schikanen der Behörden trotzend feierten sie mit vielen jungen Leuten öffentlich Geburtstag: die Verabschiedung des UN-Vertrages für das weltweite Verbot von Atomwaffen vor drei Jahren, das zu ratifizieren alle Atommächte und auch die deutsche Regierung verweigern. Weitere Anti-Atomtod-Aktivitäten werden in Büchel und anderswo anlässlich des 75. Jahrestages der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki folgen. Denn nicht nur die frühere irische Präsidentin und ehemalige UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Mary Robinson, sieht die Welt inzwischen in »der gefährlichsten Situation, mit der die Menschheit jemals konfrontiert war«.