Auf der Website des Außenministeriums erklärte Bundesaußenministerin Baerbock anlässlich der damals bevorstehenden Feiern zu 75 Jahre Nato: In Washington trifft sich »die erfolgreichste Verteidigungsallianz der Welt, eine Allianz, die, wie Präsident Truman 1949 zur Gründung sagte, vereint sei im ›peaceful way of life‹ – seit 75 Jahren –, um Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit zu schützen.«
Diese Aussage verlangt nach einer evidenzbasierten Überprüfung, und diese hat den gesamten Zeitraum zu umspannen, den Annalena Baerbocks Darstellung berührt, also von 1949 bis in die Gegenwart.
1949 war mit Portugal eine Diktatur unter den Gründungsmitgliedern der Nato, die bis zur sogenannten Nelkenrevolution linker Militärs im April 1974 in den Kolonien, darunter Angola, Mozambique und Guinea-Bissau Massaker, Folter und Vergewaltigungs-Verbrechen exerzierte. Griechenland, das der Nato 1952 beigetreten ist, war von 1967 bis 1974 eine faschistische Diktatur mit einer verdeckten US-amerikanischen Unterstützung. Der Spiegel zitierte dazu noch 2017 ein CIA-Memorandum vom 19. Januar 1968: »Eine politische Säuberung ist auch weiter das Primärziel der Junta-Führung. (…) Die Junta (…) verbot jegliche politische Betätigung; Kommunisten, linke Sympathisanten und sogar bis dato ›respektable‹ konservative Politiker wurden eingesperrt oder unter Hausarrest gestellt.« Der Spiegel dazu weiter: Es »kursieren bis heute Vermutungen, die CIA selbst sei in den Putsch verwickelt gewesen«.
Mit einer solchen Führungsnation kann die Nato keine »Verteidigungsallianz der Demokratie« sein, wie es Baerbock und die gesamte Nato-Lobby darstellt. Es ging der Nato ganz offensichtlich nie wirklich um Werte wie Demokratie, Freiheit oder Menschenrechte. Immer waren geopolitische Machtinteressen vor allem des Nato-Führungsstaates USA leitendes Motiv der Entscheidungen. Geopolitik ist auch der Hintergrund, der dazu führt, dass die USA weltweit circa 800 Militärbasen betreiben, einige davon sind zugleich Nato-Basen, selbst die Ukraine ist ein Staat, in dem US-Soldaten laut Pentagon-Website eine Basis haben.
Die geopolitische Machtpolitik vor allem der USA prägte seit 1949 die Strategie der Nato: Der erste Generalsekretär Lt. Hastings Ismay erklärte damals die Motive, die die USA mit der Nato-Gründung in Europa verbanden: »Keep the Soviet Union out, the Americans in, and the Germans down« (Halte die Sowjets draußen, die USA drinnen und die Deutschen unten).
Diese konfrontative US-Strategie rechtfertigten die Strategen mit ihrer Darstellung, Konflikte seien einseitig von der Sowjetunion verursacht worden, so auch die Berlin-Krise: »Die Sowjetunion, die damals West-Berlin blockiert und ein Jahr zuvor den kommunistischen Umsturz in der Tschechoslowakei unterstützt hat, soll wissen, dass sie für weitere Expansionsversuche einen hohen Preis zu zahlen hat.«
Der spätere US-Botschafter in Moskau und Belgrad, der US-Stratege George F. Kennan wusste es besser: »Die Männer, die im Kreml regierten (…) wollten den Kampf um Deutschland – und ganz Europa – gewinnen, aber nicht durch militärische Aktionen.« Den Hintergrund für George F. Kennans Einschätzung offenbarte eine US-Geheimdienst-Studie, die die Wahrheit für die interne Beratung unverfälscht abbildete: Die Sowjetische Führung sei sich »ihrer ungeheuren Schwäche durch die großen Verluste an Menschen – über 20 Millionen Tote (…) – und an Produktionspotential in der Nachkriegsperiode bewusst« (Joint Intelligence Staff, zitiert von Uli Cremer in: Neue NATO: die ersten Kriege, HH 2009, S. 18).
Die Blockade Westberlins durch die Sowjetunion, die die Nato als imperiale Machtstrategie der Sowjetunion darstellte, erfolgte in Reaktion darauf, dass die westlichen Siegermächte im besetzten Deutschland die Westzonen und die westlichen Sektoren Berlins ökonomisch vom Ostteil des Landes durch die Einführung der D-Mark abtrennten. Die Sowjetunion hatte demgegenüber auf den Absprachen über ein neutrales Gesamtdeutschland beharrt.
In den 1950er Jahren intervenierten die USA gewaltsam – mit Hilfe der Geheimorganisation CIA – unter anderem in Guatemala, im Iran, in Indonesien; dabei wurde neben vielen Gewaltopfern der Iranische Premierminister Mossadegh ermordet, in den 1960er Jahren versuchten die USA mit ihrer gescheiterten Invasion in der kubanischen Schweinebucht, die sozialistische Regierung Fidel Castros zu beseitigen, sie zogen in den Vietnamkrieg mit der Theorie, das Land dürfe nicht dem Kommunismus anheimfallen, sonst würden weitere Staaten mit der Logik von Domino-Steinen verloren gehen, im Kongo führte eine US-Intervention zum Tod des Ministerpräsidenten Patrice Lumumba, in der Folge des Vietnamkriegs operierten der CIA und weitere militärische Kräfte der USA in Laos und Kambodscha. In Süd- und Lateinamerika herrschten damals mit US-Unterstützung Diktaturen. Ein besonders brutaler Putsch war der des CIA mit Beteiligung von US-Konzernen wie ITT und den Kupfer-Industriellen gegen die Regierung Allende in Chile im September 1973.
Diese Kette riss mit dem Ende des Kalten Krieges nicht ab. 1999 bombardierte die Nato mit Belgrad eine Europäische Hauptstadt 78 Tage lang ohne UN-Mandat. Als Legitimation diente unter anderem eine Video-Aufnahme von Bürgerkriegs-Szenen, die die Nato, darunter auch der Bundesverteidigungsminister Scharping als Massaker ausgab. Ein WDR-Team berichtete darüber in dem Beitrag »Es begann mit einer Lüge«.
In den Folgejahren brach die US-Regierung mit dem unprovozierten Angriffskrieg gegen den Irak Völkerrecht und belog die Weltöffentlichkeit mit dem Legitimations-Narrativ, der Irak sei im Besitz von Massenvernichtungswaffen. Danach missbrauchten Nato-Staaten das UN-Mandat für »Schutztruppen in Afghanistan« und dehnten den Krieg im Land aus, die USA mischte ihn mit dem Antiterrorkrieg nach den Anschlägen auf die Twin-Towers in New York am 11.9.2021 und rechtfertigten den Krieg gegen den Staat Afghanistan mit einem Selbstverteidigungsrecht ohne Beweise über die Verantwortung der Angegriffenen für das Attentat. Bundeskanzler Schröder erklärte, er mache ein UN-Mandat nicht zur Bedingung für eine Beteiligung der Bundeswehr an den Kriegshandlungen in Afghanistan. In anderen Worten: Der Regierungs-Chef des Nato-Staates Deutschland übergeht das Völkerrecht.
2002 kündigten die USA einseitig den ABM-Vertrag; er verbot landesweite Systeme zur Raketenabwehr. Die Anzahl erlaubter ABM-Stellungen begrenzte ein Zusatzabkommen von 1974 auf eine ABM-Basis pro Land. 2011 überreizte eine Allianz von Nato-Staaten ein Mandat der UNO zum Schutz der libyschen Bevölkerung so massiv, dass daraus eine Regime-Change-Operation wurde. Die Süddeutsche Zeitung schrieb damals unter der Schlagzeile »Mit Gewalt zum Erfolg«: »Offiziell war es nie das Ziel des Nato-Einsatzes in Libyen, Muammar Gaddafi auszuschalten. Doch hinter den Kulissen wussten die Verantwortlichen: Erst wenn der Diktator tot oder verhaftet ist, würden seine Anhänger aufgeben.«
Drei Jahre später finanzierte die US-Administration den gewaltsamen Staatsstreich in der Ukraine gegen den Neutralitäts-orientierten Regierungs-Chef Janukowitsch mit offiziell fünf Milliarden US-Dollar, wie Victoria Nuland in einem geleakten Telefonat erklärte. Danach eskalierten die Konflikte in der Ukraine immer weiter – bis zum heutigen Tag. Und die Nato-Propaganda verstand es, davon abzulenken und Russland zum Alleinverantwortlichen dafür zu erklären. Sie praktizieren dabei auch beim Einsatz der Waffen aus Nato-Beständen, die in der Ukraine gegen Russland zum Einsatz kommen, eine Doppelmoral, die ihrer gesamten Menschenrechtspropaganda entgegensteht: Das ARD-Magazin Panorama berichtete am 25.7.2024: »Was sie hier abfeuern, ist Streumunition vom US-Typ M864 und M483A1. Geliefert haben sie die USA.« Auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2024 erklärte der ehemalige Nato-Generalsekretär Rasmussen, Krieg sei eben grausam, »aber wenn wir den Ukrainern keine Streumunition geben, verschaffen wir den Russen ungewollt einen Vorteil«. Auch Vitali Klitschko, Bürgermeister von Kiew, rechtfertigte den Einsatz von Streumunition durch die Ukraine so: »Vergesst nicht: Wir verteidigen Europa, wir verteidigen euch alle!« Wer eine geächtete Waffe einsetzt und dies noch bei Kritik rechtfertigt, verliert seine Glaubwürdigkeit und wird zum Zyniker.
Diese unvollständige Kette von Machtpolitik, Doppelzüngigkeit und Manipulation offenbart, wie massiv die Nato und ihre Lobby die Bevölkerung im politischen Westen täuscht. Sie stellt viele Tatsachen auf den Kopf und verkauft ihre Politik der Eskalation als das Gegenteil dessen, was sie ist. Sie macht selbst den Atomkrieg wahrscheinlicher, und ihre Hochrüstung und ihre weltumspannende militärische Machtpolitik bringt die Menschheit dem Zusammenbruch ihrer Lebensgrundlagen mit immer größerem Tempo näher.
Die von führenden Militärs und ihrer Lobby propagierte »Kriegstüchtigkeit« in einer hochindustrialisierten Phase der Geschichte auf einem Planeten mit hochstöranfälliger und teils hochtoxischer Industrie-Technologie ist ein erneuter Ausdruck der Lebensgefahr, die von der Nato ausgeht. Allein die weltweit circa 440 Atomreaktoren, die ununterbrochen gekühlt werden müssen oder die ungezählten Chemieanlagen, die mit Dioxinen, Chloriden und weiteren tödlichen Stoffen arbeiten, erfordern eine Alternative zur Vernichtungsmaschinerie.
Nach dem Vertreter der kritischen Theorie Theodor W. Adorno gibt es kein richtiges Leben im falschen. Dies bedeutet in unserem Zusammenhang, dass die Nato-Propaganda jene, die ihr folgen, unfähig macht, die Probleme unserer Zeit zu lösen. In letzter Konsequenz steigert das die Bedrohlichkeit der Probleme. Die einzig zu verantwortende Antwort auf die Probleme unserer Zeit ist eine umfassende Verbindung aus Diplomatie, Abrüstung und internationaler Kooperation zur Abwendung der globalen Zukunftsgefährdungen. Der Weg dahin beginnt mit einer klugen und flexiblen sowie nachhaltigen Verbindung aus Aufklärung, Friedensengagement, Ökologie, Bildung und Entwicklung sowie einer Infrastruktur der Nachhaltigkeit mit den 17 Zielen der UNO für nachhaltige Entwicklung.