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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Nato: Kein richtiges Leben im falschen

Auf der Web­site des Außen­mi­ni­ste­ri­ums erklär­te Bun­des­au­ßen­mi­ni­ste­rin Baer­bock anläss­lich der damals bevor­ste­hen­den Fei­ern zu 75 Jah­re Nato: In Washing­ton trifft sich »die erfolg­reich­ste Ver­tei­di­gungs­al­li­anz der Welt, eine Alli­anz, die, wie Prä­si­dent Tru­man 1949 zur Grün­dung sag­te, ver­eint sei im ›peaceful way of life‹ – seit 75 Jah­ren –, um Demo­kra­tie, Frei­heit und Rechts­staat­lich­keit zu schützen.«

Die­se Aus­sa­ge ver­langt nach einer evi­denz­ba­sier­ten Über­prü­fung, und die­se hat den gesam­ten Zeit­raum zu umspan­nen, den Anna­le­na Baer­bocks Dar­stel­lung berührt, also von 1949 bis in die Gegenwart.

1949 war mit Por­tu­gal eine Dik­ta­tur unter den Grün­dungs­mit­glie­dern der Nato, die bis zur soge­nann­ten Nel­ken­re­vo­lu­ti­on lin­ker Mili­tärs im April 1974 in den Kolo­nien, dar­un­ter Ango­la, Mozam­bi­que und Gui­nea-Bis­sau Mas­sa­ker, Fol­ter und Ver­ge­wal­ti­gungs-Ver­bre­chen exer­zier­te. Grie­chen­land, das der Nato 1952 bei­getre­ten ist, war von 1967 bis 1974 eine faschi­sti­sche Dik­ta­tur mit einer ver­deck­ten US-ame­ri­ka­ni­schen Unter­stüt­zung. Der Spie­gel zitier­te dazu noch 2017 ein CIA-Memo­ran­dum vom 19. Janu­ar 1968: »Eine poli­ti­sche Säu­be­rung ist auch wei­ter das Pri­mär­ziel der Jun­ta-Füh­rung. (…) Die Jun­ta (…) ver­bot jeg­li­che poli­ti­sche Betä­ti­gung; Kom­mu­ni­sten, lin­ke Sym­pa­thi­san­ten und sogar bis dato ›respek­ta­ble‹ kon­ser­va­ti­ve Poli­ti­ker wur­den ein­ge­sperrt oder unter Haus­ar­rest gestellt.« Der Spie­gel dazu wei­ter: Es »kur­sie­ren bis heu­te Ver­mu­tun­gen, die CIA selbst sei in den Putsch ver­wickelt gewesen«.

Mit einer sol­chen Füh­rungs­na­ti­on kann die Nato kei­ne »Ver­tei­di­gungs­al­li­anz der Demo­kra­tie« sein, wie es Baer­bock und die gesam­te Nato-Lob­by dar­stellt. Es ging der Nato ganz offen­sicht­lich nie wirk­lich um Wer­te wie Demo­kra­tie, Frei­heit oder Men­schen­rech­te. Immer waren geo­po­li­ti­sche Macht­in­ter­es­sen vor allem des Nato-Füh­rungs­staa­tes USA lei­ten­des Motiv der Ent­schei­dun­gen. Geo­po­li­tik ist auch der Hin­ter­grund, der dazu führt, dass die USA welt­weit cir­ca 800 Mili­tär­ba­sen betrei­ben, eini­ge davon sind zugleich Nato-Basen, selbst die Ukrai­ne ist ein Staat, in dem US-Sol­da­ten laut Pen­ta­gon-Web­site eine Basis haben.

Die geo­po­li­ti­sche Macht­po­li­tik vor allem der USA präg­te seit 1949 die Stra­te­gie der Nato: Der erste Gene­ral­se­kre­tär Lt. Hastings Ismay erklär­te damals die Moti­ve, die die USA mit der Nato-Grün­dung in Euro­pa ver­ban­den: »Keep the Soviet Uni­on out, the Ame­ri­cans in, and the Ger­mans down« (Hal­te die Sowjets drau­ßen, die USA drin­nen und die Deut­schen unten).

Die­se kon­fron­ta­ti­ve US-Stra­te­gie recht­fer­tig­ten die Stra­te­gen mit ihrer Dar­stel­lung, Kon­flik­te sei­en ein­sei­tig von der Sowjet­uni­on ver­ur­sacht wor­den, so auch die Ber­lin-Kri­se: »Die Sowjet­uni­on, die damals West-Ber­lin blockiert und ein Jahr zuvor den kom­mu­ni­sti­schen Umsturz in der Tsche­cho­slo­wa­kei unter­stützt hat, soll wis­sen, dass sie für wei­te­re Expan­si­ons­ver­su­che einen hohen Preis zu zah­len hat.«

Der spä­te­re US-Bot­schaf­ter in Mos­kau und Bel­grad, der US-Stra­te­ge Geor­ge F. Kennan wuss­te es bes­ser: »Die Män­ner, die im Kreml regier­ten (…) woll­ten den Kampf um Deutsch­land – und ganz Euro­pa – gewin­nen, aber nicht durch mili­tä­ri­sche Aktio­nen.« Den Hin­ter­grund für Geor­ge F. Kenn­ans Ein­schät­zung offen­bar­te eine US-Geheim­dienst-Stu­die, die die Wahr­heit für die inter­ne Bera­tung unver­fälscht abbil­de­te: Die Sowje­ti­sche Füh­rung sei sich »ihrer unge­heu­ren Schwä­che durch die gro­ßen Ver­lu­ste an Men­schen – über 20 Mil­lio­nen Tote (…) – und an Pro­duk­ti­ons­po­ten­ti­al in der Nach­kriegs­pe­ri­ode bewusst« (Joint Intel­li­gence Staff, zitiert von Uli Cremer in: Neue NATO: die ersten Krie­ge, HH 2009, S. 18).

Die Blocka­de West­ber­lins durch die Sowjet­uni­on, die die Nato als impe­ria­le Macht­stra­te­gie der Sowjet­uni­on dar­stell­te, erfolg­te in Reak­ti­on dar­auf, dass die west­li­chen Sie­ger­mäch­te im besetz­ten Deutsch­land die West­zo­nen und die west­li­chen Sek­to­ren Ber­lins öko­no­misch vom Ost­teil des Lan­des durch die Ein­füh­rung der D-Mark abtrenn­ten. Die Sowjet­uni­on hat­te dem­ge­gen­über auf den Abspra­chen über ein neu­tra­les Gesamt­deutsch­land beharrt.

In den 1950er Jah­ren inter­ve­nier­ten die USA gewalt­sam – mit Hil­fe der Geheim­or­ga­ni­sa­ti­on CIA – unter ande­rem in Gua­te­ma­la, im Iran, in Indo­ne­si­en; dabei wur­de neben vie­len Gewalt­op­fern der Ira­ni­sche Pre­mier­mi­ni­ster Mos­sa­degh ermor­det, in den 1960er Jah­ren ver­such­ten die USA mit ihrer geschei­ter­ten Inva­si­on in der kuba­ni­schen Schwei­ne­bucht, die sozia­li­sti­sche Regie­rung Fidel Castros zu besei­ti­gen, sie zogen in den Viet­nam­krieg mit der Theo­rie, das Land dür­fe nicht dem Kom­mu­nis­mus anheim­fal­len, sonst wür­den wei­te­re Staa­ten mit der Logik von Domi­no-Stei­nen ver­lo­ren gehen, im Kon­go führ­te eine US-Inter­ven­ti­on zum Tod des Mini­ster­prä­si­den­ten Patri­ce Lumum­ba, in der Fol­ge des Viet­nam­kriegs ope­rier­ten der CIA und wei­te­re mili­tä­ri­sche Kräf­te der USA in Laos und Kam­bo­dscha. In Süd- und Latein­ame­ri­ka herrsch­ten damals mit US-Unter­stüt­zung Dik­ta­tu­ren. Ein beson­ders bru­ta­ler Putsch war der des CIA mit Betei­li­gung von US-Kon­zer­nen wie ITT und den Kup­fer-Indu­stri­el­len gegen die Regie­rung Allen­de in Chi­le im Sep­tem­ber 1973.

Die­se Ket­te riss mit dem Ende des Kal­ten Krie­ges nicht ab. 1999 bom­bar­dier­te die Nato mit Bel­grad eine Euro­päi­sche Haupt­stadt 78 Tage lang ohne UN-Man­dat. Als Legi­ti­ma­ti­on dien­te unter ande­rem eine Video-Auf­nah­me von Bür­ger­kriegs-Sze­nen, die die Nato, dar­un­ter auch der Bun­des­ver­tei­di­gungs­mi­ni­ster Schar­ping als Mas­sa­ker aus­gab. Ein WDR-Team berich­te­te dar­über in dem Bei­trag »Es begann mit einer Lüge«.

In den Fol­ge­jah­ren brach die US-Regie­rung mit dem unpro­vo­zier­ten Angriffs­krieg gegen den Irak Völ­ker­recht und belog die Welt­öf­fent­lich­keit mit dem Legi­ti­ma­ti­ons-Nar­ra­tiv, der Irak sei im Besitz von Mas­sen­ver­nich­tungs­waf­fen. Danach miss­brauch­ten Nato-Staa­ten das UN-Man­dat für »Schutz­trup­pen in Afgha­ni­stan« und dehn­ten den Krieg im Land aus, die USA misch­te ihn mit dem Anti­ter­ror­krieg nach den Anschlä­gen auf die Twin-Towers in New York am 11.9.2021 und recht­fer­tig­ten den Krieg gegen den Staat Afgha­ni­stan mit einem Selbst­ver­tei­di­gungs­recht ohne Bewei­se über die Ver­ant­wor­tung der Ange­grif­fe­nen für das Atten­tat. Bun­des­kanz­ler Schrö­der erklär­te, er mache ein UN-Man­dat nicht zur Bedin­gung für eine Betei­li­gung der Bun­des­wehr an den Kriegs­hand­lun­gen in Afgha­ni­stan. In ande­ren Wor­ten: Der Regie­rungs-Chef des Nato-Staa­tes Deutsch­land über­geht das Völkerrecht.

2002 kün­dig­ten die USA ein­sei­tig den ABM-Ver­trag; er ver­bot lan­des­wei­te Syste­me zur Rake­ten­ab­wehr. Die Anzahl erlaub­ter ABM-Stel­lun­gen begrenz­te ein Zusatz­ab­kom­men von 1974 auf eine ABM-Basis pro Land. 2011 über­reiz­te eine Alli­anz von Nato-Staa­ten ein Man­dat der UNO zum Schutz der liby­schen Bevöl­ke­rung so mas­siv, dass dar­aus eine Regime-Chan­ge-Ope­ra­ti­on wur­de. Die Süd­deut­sche Zei­tung schrieb damals unter der Schlag­zei­le »Mit Gewalt zum Erfolg«: »Offi­zi­ell war es nie das Ziel des Nato-Ein­sat­zes in Liby­en, Muammar Gad­da­fi aus­zu­schal­ten. Doch hin­ter den Kulis­sen wuss­ten die Ver­ant­wort­li­chen: Erst wenn der Dik­ta­tor tot oder ver­haf­tet ist, wür­den sei­ne Anhän­ger aufgeben.«

Drei Jah­re spä­ter finan­zier­te die US-Admi­ni­stra­ti­on den gewalt­sa­men Staats­streich in der Ukrai­ne gegen den Neu­tra­li­täts-ori­en­tier­ten Regie­rungs-Chef Janu­ko­witsch mit offi­zi­ell fünf Mil­li­ar­den US-Dol­lar, wie Vic­to­ria Nuland in einem gele­ak­ten Tele­fo­nat erklär­te. Danach eska­lier­ten die Kon­flik­te in der Ukrai­ne immer wei­ter – bis zum heu­ti­gen Tag. Und die Nato-Pro­pa­gan­da ver­stand es, davon abzu­len­ken und Russ­land zum Allein­ver­ant­wort­li­chen dafür zu erklä­ren. Sie prak­ti­zie­ren dabei auch beim Ein­satz der Waf­fen aus Nato-Bestän­den, die in der Ukrai­ne gegen Russ­land zum Ein­satz kom­men, eine Dop­pel­mo­ral, die ihrer gesam­ten Men­schen­rechts­pro­pa­gan­da ent­ge­gen­steht: Das ARD-Maga­zin Pan­ora­ma berich­te­te am 25.7.2024: »Was sie hier abfeu­ern, ist Streu­mu­ni­ti­on vom US-Typ M864 und M483A1. Gelie­fert haben sie die USA.« Auf der Münch­ner Sicher­heits­kon­fe­renz im Febru­ar 2024 erklär­te der ehe­ma­li­ge Nato-Gene­ral­se­kre­tär Ras­mus­sen, Krieg sei eben grau­sam, »aber wenn wir den Ukrai­nern kei­ne Streu­mu­ni­ti­on geben, ver­schaf­fen wir den Rus­sen unge­wollt einen Vor­teil«. Auch Vita­li Klit­sch­ko, Bür­ger­mei­ster von Kiew, recht­fer­tig­te den Ein­satz von Streu­mu­ni­ti­on durch die Ukrai­ne so: »Ver­gesst nicht: Wir ver­tei­di­gen Euro­pa, wir ver­tei­di­gen euch alle!« Wer eine geäch­te­te Waf­fe ein­setzt und dies noch bei Kri­tik recht­fer­tigt, ver­liert sei­ne Glaub­wür­dig­keit und wird zum Zyniker.

Die­se unvoll­stän­di­ge Ket­te von Macht­po­li­tik, Dop­pel­zün­gig­keit und Mani­pu­la­ti­on offen­bart, wie mas­siv die Nato und ihre Lob­by die Bevöl­ke­rung im poli­ti­schen Westen täuscht. Sie stellt vie­le Tat­sa­chen auf den Kopf und ver­kauft ihre Poli­tik der Eska­la­ti­on als das Gegen­teil des­sen, was sie ist. Sie macht selbst den Atom­krieg wahr­schein­li­cher, und ihre Hoch­rü­stung und ihre welt­um­span­nen­de mili­tä­ri­sche Macht­po­li­tik bringt die Mensch­heit dem Zusam­men­bruch ihrer Lebens­grund­la­gen mit immer grö­ße­rem Tem­po näher.

Die von füh­ren­den Mili­tärs und ihrer Lob­by pro­pa­gier­te »Kriegs­tüch­tig­keit« in einer hoch­in­du­stria­li­sier­ten Pha­se der Geschich­te auf einem Pla­ne­ten mit hoch­stör­an­fäl­li­ger und teils hoch­to­xi­scher Indu­strie-Tech­no­lo­gie ist ein erneu­ter Aus­druck der Lebens­ge­fahr, die von der Nato aus­geht. Allein die welt­weit cir­ca 440 Atom­re­ak­to­ren, die unun­ter­bro­chen gekühlt wer­den müs­sen oder die unge­zähl­ten Che­mie­an­la­gen, die mit Dioxi­nen, Chlo­ri­den und wei­te­ren töd­li­chen Stof­fen arbei­ten, erfor­dern eine Alter­na­ti­ve zur Vernichtungsmaschinerie.

Nach dem Ver­tre­ter der kri­ti­schen Theo­rie Theo­dor W. Ador­no gibt es kein rich­ti­ges Leben im fal­schen. Dies bedeu­tet in unse­rem Zusam­men­hang, dass die Nato-Pro­pa­gan­da jene, die ihr fol­gen, unfä­hig macht, die Pro­ble­me unse­rer Zeit zu lösen. In letz­ter Kon­se­quenz stei­gert das die Bedroh­lich­keit der Pro­ble­me. Die ein­zig zu ver­ant­wor­ten­de Ant­wort auf die Pro­ble­me unse­rer Zeit ist eine umfas­sen­de Ver­bin­dung aus Diplo­ma­tie, Abrü­stung und inter­na­tio­na­ler Koope­ra­ti­on zur Abwen­dung der glo­ba­len Zukunfts­ge­fähr­dun­gen. Der Weg dahin beginnt mit einer klu­gen und fle­xi­blen sowie nach­hal­ti­gen Ver­bin­dung aus Auf­klä­rung, Frie­dens­en­ga­ge­ment, Öko­lo­gie, Bil­dung und Ent­wick­lung sowie einer Infra­struk­tur der Nach­hal­tig­keit mit den 17 Zie­len der UNO für nach­hal­ti­ge Entwicklung.