Mit Kriminalromanen kann ich nicht viel anfangen. Vielleicht liegt es daran, dass dieses Genre mit der Zeit zu aufdringlich geworden ist. Dem Krimi kann man kaum entkommen, Kriminalromane verkaufen sich prächtig, irgendwo läuft immer Tatort, Mord und andere Verbrechen scheinen mehr denn je zu faszinieren. Nun bin ich auf die Kriminalfälle von Kommissar Rath gestoßen, welche in der unheilschwangeren Zeit zwischen 1927 und 1938 angesiedelt sind. Das Berlin von damals wird wieder lebendig mit seinen Attraktionen, Großbaustellen, seinen Arbeiterkiezen und gutbürgerlichen Bezirken. Man taucht ein in ein Stadtleben, wo es nur wenige Autos gibt, wo selbst die Kriminalpolizei auf Telefonzellen und Fernsprechanschlüsse in Geschäften angewiesen ist, wo noch Bahnsteigkarten gelöst werden. Das Beeindruckende an den Romanen von Volker Kutscher sind weniger die Kriminalfälle (meist Serienmorde) als die Schilderung der gesellschaftlichen Zustände am Ende der Weimarer Republik und die Jahre nach der Machtergreifung der Nazipartei, die akribisch beschrieben werden und eine sehr sorgfältige Recherche ahnen lassen.
Die Fernsehserie »Babylon-Berlin« soll eine Verfilmung des ersten Falls von Kommissar Gereon Rath sein: »Der nasse Fisch«. Diese sehr aufwändig gedrehte Serie wurde für ein möglichst breites Publikum im In- und Ausland produziert und lebt von schnellen Schnitten und möglichst viel »action«, vor allem aber von einer Riege bekannter Schauspieler. Mit dem Roman, dessen Titel eine im Polizeijargon übliche Metapher für einen ungelösten Fall ist, hat die Filmversion eher wenig zu tun.
Gereon Rath, ein aus Köln nach Berlin versetzter Kommissar, arbeitet in der »roten Burg«, dem Polizeipräsidium am Alexanderplatz. Er ist geprägt von seiner katholischen Heimat Köln, für Politik interessiert er sich wenig. Bei seinen Mordermittlungen geht er sehr eigenbrötlerisch vor, heute würde man ihm mangelnde Teamfähigkeit unterstellen. Die politischen Auseinandersetzungen in der Hauptstadt bekommt er auch durch seinen Beruf mit, die brutalen Auseinandersetzungen zwischen Kommunisten und Nazis sieht er als Schwäche der jungen Republik. Erst allmählich wird ihm klar, dass viele Funktionsträger in Polizei, Verwaltung und bei der Reichswehr die politische Linke als die größte Gefahr betrachten und der Republik eher gleichgültig oder feindselig gegenüberstehen. Als am 1. Mai 1929 gegen die Maidemonstration der KPD brutal vorgegangen wird, muss er miterleben, wie zwei unbeteiligte Frauen von der Polizei erschossen werden. Bei Ermittlungen im fernen Ostpreußen wird ihm klar, dass die NSDAP mit ihre SA-Ortsgruppen dort schon 1932 die einflussreichste Partei ist.
Nach Hitlers Machtergreifung geben sich plötzlich viele seiner Kollegen offen als Nazis zu erkennen, nach dem Reichstagsbrand erlebt er die Brutalität einer völlig enthemmten SA, die nun als Hilfspolizei agieren darf. Ehemalige Untergebene werden durch ihr Parteiabzeichen plötzlich zu Vorgesetzten, das Bonmot der »Märzgefallenen« – übrigens auch der Titel des 5. Bandes – macht die Runde, jene, die im März 1933 massenhaft in die braune Partei eintraten, um Karriere zu machen. 1934, bei der Ausschaltung der SA (»Röhmputsch«) wird Rath vorübergehend der politischen Polizei unterstellt und erlebt die schrittweise Entmachtung der republikanischen Polizei durch die neu entstandene SS. Obwohl er 1935 zum Oberkommissar befördert wird, ist ihm klar, dass er als politisch unzuverlässig gilt und nur noch unbedeutende Fälle bearbeiten darf. 1936 ermittelt er im olympischen Dorf als verdeckter Mitarbeiter der SS in der Polizeiwache Elstal. Es geht unter anderem um Wehrmachtsangehörige, die durch merkwürdige Unfälle zu Tode kommen. Nebenbei bekommt der Leser einen Eindruck, wie das Regime durch die Olympiade die Massen zu begeistern versteht.
Natürlich gibt es auch eine Liebesgeschichte. Charlotte Ritter, erst Geliebte, dann Frau von Gereon Rath, hatte bei der Polizei als Stenotypistin angefangen und wollte unbedingt zur Kriminalpolizei, damals eine absolute Männerdomäne. Im Gegensatz zu dem eher unpolitischen Kommissar steht Charlotte für den Typus der emanzipierten, politisch hellsichtigen Frau, die sich über die Konsequenzen der Machtergreifung der Hitlerpartei keine Illusionen macht. Durch die Ehe ist ihr die Laufbahn bei der Polizei versperrt, sie muss als Privatdetektivin arbeiten. Während Kommissar Rath lange die damals sehr verbreitete Meinung vertritt, dass der Nationalsozialismus nur ein kurzer Spuk sein wird, sieht seine Frau die Brutalität der neuen Herrscher als Vorzeichen einer Katastrophe. Am Beispiel von Pflegesohn Fritz, einem ehemaligen Trebegänger, lässt sich nachvollziehen, welche Faszination die NS-Jugendorganisationen damals ausübten. Mitten in der Pubertät, halb Kind, halb erwachsen, erfährt Fritz plötzlich Anerkennung, Gruppenerlebnisse, Abenteuer, den Stolz, einer neuen Elite anzugehören.
Der Autor geizt nicht mit Personen der Zeitgeschichte, die im Leben der Protagonisten eine Rolle spielen: Konrad Adenauer (bis 1933 Oberbürgermeister von Köln), Bernhard Weiss (vor 1933 bei den Nazis verhasster Vize-Polizeipräsident von Berlin, Ernst Gennat (legendärer Berliner Kriminalpolizeirat und Leiter der Mordkommission), Karl Zörgiebel (Polizeipräsident und Verantwortlicher für den »Blutmai« 1929) sowie Reinhard Heydrich (1934 Chef der Sicherheitspolizei). Während des Reichstagsbrandes begegnet Charlotte keinem Geringeren als Hermann Göring. Die Romane sind erlebte, in Krimis verpackte lebensnahe Geschichtsbücher, die es dem Leser erlauben, sich in die damalige Zeit hineinzuversetzen. Es lassen sich auch beunruhigende Parallelen zu heutigen Vorgängen in Polizei und Justiz erkennen.
Zwei Bände sollen noch erscheinen, 1937 und 1938, im letzten Band könnte die Pogromnacht 1938 das Hintergrundthema sein. Der Leser ahnt es schon, der Autor hat es bestätigt: Es kann nicht gut enden für Gereon und Charlotte.