Die Stadt Perleberg, auf halbem Weg zwischen Berlin und Hamburg am Flüsschen Stepenitz gelegen, war bis 1809 wenigen Briten bekannt. Das änderte sich, nachdem der Londoner außerordentliche Gesandte Benjamin Bathurst dort spurlos verschwand. Von Wien kommend reiste Lord Bathurst als Kaufmann Koch inkognito mit Sekretär und Diener und falschem Pass. Er war in geheimer, antifranzösischer Mission am österreichischen Kaiserhof tätig gewesen, schon vor seiner Heimreise voll Sorge um seine Sicherheit. England war nämlich im Krieg mit Frankreich, gegenüber Vertrauten äußerte er, dass Napoleon ihm wohl persönlich zürne. Unterwegs prüfte er mehrmals seine zwei geladenen Pistolen, wie Zeugen berichten, und fragte nach französischen Truppen. An einem kalten Samstag im November verließ er Berlin in Richtung Hamburg, machte gegen Mittag an der Post-Station Perleberg Rast zum Pferdewechsel und überlebte diesen Tag wahrscheinlich nicht.
Die am Geschehen beteiligten Personen bieten wahren Stoff für einen Kriminalroman, oder besser für einen Detektivroman; denn ersterer befasst sich mit der Geschichte eines Verbrechens, letzterer mit seiner Aufklärung. Die Hauptperson Sir Benjamin mit seiner Entourage wurde bereits vorgestellt. Neben diesen gab es vor Ort den Postwagenmeister Schmidt mit seinem übel beleumdeten Sohn (einem Trinker, bei dem später der Pelzmantel des Gesandten gefunden wurde); und es gab den Wirt des Gasthauses »Zum Weißen Schwan«, Herrn Leger mit seinem Hausknecht Mertens, welche zwei den Lord als letzte hinterm abfahrbereiten Reisewagen ins abendliche Dunkel gehen sahen.
Hinzukommen als Akteure: Der örtliche Garnisonskommandant, der eine Kürassiereinheit befehligte und der dem Diplomaten – auf dessen Wunsch hin – vor dem Gasthof eine Sauvegarde, einen Doppelposten Kürassiere bewilligte. Und der Perleberger Bürgermeister, der den örtlichen Magistrat leitete und der bei seinen Ermittlungen vom Garnisonschef ausgebremst wurde. Von ganz oben kam nämlich eine Order, wonach der Rittmeister Friedrich von Klitzing allein »mit Vermeidung aller Publicität« in diesem Fall ermitteln solle. Merkwürdig.
Über den Verlauf des fraglichen Tages ist so viel überliefert: Nach dem Ausspannen der Pferde nahm der Diplomat ein Zimmer im genannten Gasthaus nahe der Post-Station, Am Hohen Ende 25, und speiste mit seiner Begleitung zu Mittag. Kurz vor oder nach dem Essen suchte er den Kommandanten auf. Die dortige Hausdame wusste später zu berichten, dass der Fremde sehr fröstelte, eine heiße Tasse Tee erbat und die Befürchtung erkennen ließ, es könnten französische Agenten nach seinem Leben trachten. Sie schilderte den Gast als stattlichen Mann mit sympathischen Gesichtszügen. Nicht ihr, aber dem Kommandanten muss er wohl seine wahre Identität offenbart haben, andernfalls hätte er nicht ohne weiteres die erbetene Schutzwache erhalten.
Im Laufe des Nachmittags soll er viel geschrieben und einige Papiere verbrannt haben. Nachdem er mehrmals an- und wieder abspannen ließ, legte er die Abfahrtzeit schließlich auf 9 Uhr abends fest. Für diese Zeit stellte der Wagenmeister die Kutsche vorm Haus »Zum Weißen Schwan« bereit.
Mehrere Männer hatten neben der gepackten Reisekutsche des Kaufmanns Koch – seinen wahren Namen kannte allein der Kommandant – im Schein der Wagenlaterne gewartet, dann nach dem Verschwundenen gerufen und gesucht, vergebens. Schließlich machte Diener Hilbert dem Rittmeister Meldung, dass der Kaufmann vermisst werde. Klitzing forderte die Perleberger Bezirksvorsteher umgehend zu Nachforschungen auf, die in der Nacht begannen. Seit der preußischen Städtereform von 1808 übten die Vorsteher zusammen mit dem Bürgermeister die kommunale Polizeigewalt aus. Noch am selben Abend, dem 25. November, beschlagnahmte Klitzing den Reisewagen des Kaufmanns und quartierte dessen Sekretär und Gehilfen unter militärischer Bewachung im abgelegeneren Gasthof »Zur Krone« ein.
Am folgenden Sonntag gab der Rittmeister bekannt, er werde bis Mitternacht abwesend sein, man möge inzwischen auch nach dem teuren Pelzmantel des Kaufmanns forschen, weil der beim Gepäck fehle. Also begaben sich zwei Bezirksvorsteher zur »Krone«, vernahmen Kochs Diener, sodann die Magd des Postmeisters, der sie 5 Taler versprachen, und wurden durch deren Angaben schließlich fündig im Schmidtschen Holzkeller. Schmidt Junior gestand. Im folgenden Januar wurde er verurteilt, aber begnadigt.
Erst am Montagabend kam Klitzing zurück (niemand erfuhr Ziel und Zweck seiner Reise), über den gemeldeten Erfolg zeigte er sich befremdlicherweise nicht erfreut. Vielmehr beschwerte er sich beim Magistrat über die eigenmächtige Vernehmung Hilberts in der »Krone«, verlangte auch das aufgenommene Protokoll in originali. (Das Protokoll ist seitdem verschollen.)
Den Perlebergern wurde der wahre Name des Verschwundenen erst durch eine Zeitungsmeldung des Pariser Blattes Moniteur vom 10. Dezember 1809 bekannt. Sie besagte, bei Perleberg habe sich ein englischer Gesandter ums Leben gebracht, nachdem er bei seiner Reise durch Berlin schon Symptome des Wahnsinns gezeigt habe. War die Quelle dafür Berlin oder Paris? Wir wissen es nicht. Wir wissen aber, dass Berlin fortan auf Selbstmord als Todesursache bestand und bei anderen Meldungen Zensur ausübte. Verdächtig war Folgendes: Bürgermeister Bernhard Stappenbeck las, nachdem Bathursts Sekretär abgereist war, im Fremdenanzeiger Berlins, dass dort ein Kaufmann Krüger aus Perleberg eingetroffen sei. Stappenbeck meldete nach Berlin, das müsse ein Betrüger sein, denn in Perleberg lebe kein Krüger. Berlins Polizeipräsident Gruner antwortete ihm umgehend und höchstpersönlich, dass Kaufmann Krüger eine Bescheinigung des Kommandanten von Klitzing vorgelegt und somit alles seine Richtigkeit habe. Des Bürgermeisters Sohn meint in seinen Erinnerungen: »Welch unglaubliche Tätigkeit auch mein Vater und die von ihm organisierte Polizei entwickeln mochte: Keine Spur war zu entdecken (…). Die Anstrengungen meines Vaters und seiner Gehülfen (wären) doch endlich von einem Erfolg gekrönt worden, wenn dieselben nicht plötzlich höheren Orts aus politischen Gründen inhibiert worden wären.« Alles habe, schreibt er, für den Bürgermeister auf ein französisches Komplott hingedeutet.
Viele Jahrzehnte später ein Fund: Beim Abriss eines Perleberger Hauses an der Hamburger Chaussee wurde ein Skelett mit tiefer Schlagverletzung im Hinterkopf gefunden. Das Haus gehörte bis 1828 dem gottesfürchtigen Bürger Mertens. Man erinnerte sich jetzt, dass er seinen beiden Töchtern eine ungewöhnlich hohe Mitgift gab, obwohl er zeitlebens nur Hausknecht im »Weißen Schwan« gewesen war … Was so alles geredet wird.
In der englischen Presse hielt man von vornherein französische Agenten für die Täter. Sir Benjamins Ehefrau, Lady Phillida, reiste persönlich nach Paris und wurde von Kaiser Napoleon empfangen. Der versicherte ihr mit seinem Ehrenwort feierlich, dass er vom Verbleib des Vermissten nichts wüsste. Er versprach und gewährte ihr Unterstützung bei ihren Nachforschungen in Perleberg.
Freilich ist es denkbar, dass Napoleon aufrichtig gesprochen, das heißt, mit reinem Gewissen der Witwe Auskunft gegeben hat, in Unkenntnis dessen, was untere Chargen taten. Sein umtriebiger und in halb Europa spionierender Polizeiminister Joseph Fouché befolgte vielleicht damals schon das Prinzip der »plausible deniability«, das heißt der glaubwürdigen Abstreitbarkeit. Eines Prinzips, welches erst in den 50er Jahren des folgenden Jahrhunderts durch die CIA ausformuliert wurde. Es besagt, dass der oberste Chef, das Staatsoberhaupt, vor jeder Verantwortung für eine aufgedeckte Geheimoperation zu schützen sei und nicht jene Sachen wissen müsse, die gegen Gesetz und Moral (wenn auch in seinem Interesse) ausgeführt werden: Mord, Erpressung, Sabotage.
Tipp: Museum Perleberg, Am Mönchort 7, Di-Fr 10-16 h, So 11-16 h. Über Lord Bathurst, der im März vor 240 Jahren geboren wurde, ist dort einiges zu erfahren.