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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Nanjings Vergangenheit

Das Gesicht ist der wich­tig­ste Kör­per­teil in Asi­en. Sein Ver­lust schmerzt mehr als alles ande­re. Des­halb darf man es nie ver­lie­ren. Zum Bei­spiel, so mein­ten die Chi­ne­sen lan­ge Zeit, hät­ten sie das Gesicht ver­lo­ren, wenn sie die mili­tä­ri­sche Nie­der­la­ge in Nan­jing ein­ge­stan­den hät­ten. Die Haupt­stadt der 1912 ent­stan­de­nen Repu­blik Chi­na war im Dezem­ber 1937 gefal­len. Und danach hat­ten die japa­ni­schen Okku­pan­ten bin­nen sechs Wochen etwa drei­hun­dert­tau­send Zivi­li­sten mas­sa­kriert. Mög­li­cher­wei­se han­del­te es sich um den größ­ten Mas­sen­mord in der Geschich­te. Doch es ver­gin­gen Jahr­zehn­te, ehe sich die Volks­re­pu­blik zu die­ser Demü­ti­gung erklär­te. Wegen des ver­meint­li­chen Gesichts­ver­lu­stes. Das öffent­li­che Bekennt­nis hing, so mei­nen Histo­ri­ker heu­te, kau­sal mit der gewach­se­nen öko­no­mi­schen Stär­ke zusam­men, die sich in natio­na­lem Selbst­be­wusst­sein nie­der­schlug. Als glo­ba­le Groß­macht konn­te man sich nun auch sou­ve­rän zu die­sem fin­ste­ren Kapi­tel der eige­nen Ver­gan­gen­heit beken­nen. Abend­län­di­sche Logik ist das nicht: Hier gilt es kei­nes­wegs als Schmach und Schan­de, wenn mili­tä­risch über­le­ge­ne Inva­so­ren tem­po­rä­re Sie­ge errin­gen, die­se beschweigt man nach dem Ende des Gemet­zels nicht. Am Ende über­strahlt das sieg­rei­che Fina­le alles. Aber in Asi­en ist eben vie­les anders.

In Nan­jing, der Metro­po­le am Jang­tse, begann man sich erst in den acht­zi­ger Jah­ren des The­mas anzu­neh­men. Nach der 1978 durch Deng erfolg­ten Öff­nung des Lan­des. In der Erin­ne­rung der Ein­woh­ner­schaft war das kol­lek­ti­ve Ver­bre­chen immer prä­sent, weil fast jede Fami­lie – sofern sie nicht in Gän­ze aus­ge­löscht wor­den war – dar­un­ter gelit­ten hat­te. Es gab zudem Fotos von Lei­chen, die auf dem Fluss trie­ben, von Hin­rich­tun­gen, von abge­schla­ge­nen Köp­fen, die für japa­ni­sche Kame­ras in Sze­ne gesetzt wor­den waren, von zer­schmet­ter­ten Men­schen­lei­bern, es lagen Opfer­be­rich­te von Mas­sen­ver­ge­wal­ti­gun­gen vor, eini­ge Zeu­gen erzähl­ten von ihren Beob­ach­tun­gen. Aber offi­zi­ell wur­de dar­an nicht erin­nert. Bis man den Gra­ben für eine städ­ti­sche Was­ser­lei­tung ver­leg­te und dabei mensch­li­che Gebei­ne zuta­ge för­der­te. Die Stadt­ver­wal­tung über­dach­te die frei­ge­leg­ten Ske­let­te, ließ wei­ter gra­ben, errich­te­te eine Gedenk­stät­te und erin­ner­te somit an das Blut­bad, an die Stun­de der Nie­der­la­ge. In den fol­gen­den Jah­ren kam ein archi­tek­to­nisch auf­fäl­li­ges Muse­ums­ge­bäu­de mit fast drei­tau­send Qua­drat­me­tern Aus­stel­lungs­flä­che hin­zu, ergänzt von einer Viel­zahl an Kunst­wer­ken und ande­ren Objek­ten. Inzwi­schen erstreckt sich das Are­al über fast drei Hekt­ar. Kno­chen fin­det man übri­gens in der Stadt noch immer.

Im Jahr besu­chen mehr als fünf Mil­lio­nen Men­schen die­sen Ort. Chi­ne­sen, Japa­ner und ande­re Aus­län­der. Min­de­stens zwei Drit­tel der Besu­cher sei­en Schü­ler und Stu­den­ten, Lehr­lin­ge und ande­re Her­an­wach­sen­de, sagt man uns, jun­ge Leu­te also. Und die­se kämen mehr­heit­lich nicht, weil sie es müss­ten und der Ein­tritt frei sei. Wenn man in die ern­sten Gesich­ter blickt, wie sie die Fotos und Doku­men­te stu­die­ren, auf die Vide­os und Instal­la­tio­nen schau­en, dann spürt man das inne­re Inter­es­se an der Ver­gan­gen­heit. Wo kom­men wir her? Und die­ser Fra­ge schließt sich zwangs­läu­fig die näch­ste an: Wohin gehen wir? Denn das scheint ange­sichts der fort­schrei­ten­den Kom­mer­zia­li­sie­rung der chi­ne­si­schen Gesell­schaft – trotz aller küh­nen Absichts­er­klä­run­gen und Plä­ne der Par­tei – kei­nes­wegs schon abschlie­ßend entschieden.

Mit mei­nem Sohn sah ich mitt­ler­wei­le sie­ben Muse­en in ver­schie­de­nen Gegen­den Chi­nas, die den histo­ri­schen Kon­flikt mit Japan zum Gegen­stand haben. (Seit Jah­ren, als er in Hiro­shi­ma stu­dier­te und auf die dort auf einer Insel ehe­mals erfolg­te Gift­gas­pro­duk­ti­on stieß, recher­chiert er zu Japans che­mi­scher Krieg­füh­rung für ein Buch­pro­jekt.) Japans Krieg gegen Chi­na währ­te von 1932 bis 1945. Geschätzt koste­te er etwa 35 Mil­lio­nen Men­schen­le­ben, was in Euro­pa kaum bekannt ist. Dafür gibt es meh­re­re Erklä­run­gen, eine lau­tet: Wäh­rend der Hit­ler­staat ver­nich­tet wur­de, über­leb­te in Asi­en der Aggres­sor. Kai­ser Hiro­hi­to, der Haupt­kriegs­ver­bre­cher, wur­de nicht ein­mal als Zeu­ge vor das inter­na­tio­na­le Mili­tär­tri­bu­nal gela­den. Er blieb bis 1989 auf dem Thron und unan­ge­ta­stet. Japan wur­de nach dem hei­ßen Krieg – und nicht zuletzt wegen des Kal­ten Krie­ges – als Staat von den USA mas­siv pro­te­giert. So stieg das Kai­ser­reich zur stärk­sten Wirt­schafts­macht in Asi­en auf, mit der es sich die Nach­barn nicht ver­der­ben woll­ten. Des­halb spra­chen sie in Süd­ko­rea, Chi­na, Viet­nam, Tai­wan, den Phil­ip­pi­nen usw. nicht über die Ver­gan­gen­heit, son­dern lie­ßen lan­ge Gras über die unfass­ba­ren Kriegs­ver­bre­chen wach­sen und die poli­ti­schen Lei­chen im Kel­ler ruhen. Die Ruhe schwand aller­dings in dem Maße, wie die öko­no­mi­sche Potenz Japans schwand und die der Nach­barn, ins­be­son­de­re Chi­nas, zunahm. Und nicht zu ver­ges­sen: Auch in Japan selbst wur­de kri­tisch die eige­ne Ver­gan­gen­heit befragt. Ehe­ma­li­ge Sol­da­ten berich­te­ten über die Ver­bre­chen etwa in Chi­na, an denen sie betei­ligt waren, womit sie sich den Zorn ihrer rück­wärts­ge­wand­ten Lands­leu­te zuzo­gen. Die ehr­ten im Tokio­ter Yas­uku­ni-Schrein näm­lich nicht nur die Kriegs­to­ten, son­dern unge­niert auch die ver­ur­teil­ten Kriegs­ver­bre­cher. Als 2005 in japa­ni­schen Lehr­bü­chern erst­mals das Nan­jing-Mas­sa­ker über­haupt Erwäh­nung fand – ver­harm­lo­send als »Zwi­schen­fall« bezeich­net –, reg­te sich hef­ti­ger Wider­stand gegen die ver­meint­li­che chi­ne­si­sche Pro­pa­gan­da. Inzwi­schen räumt man zwar for­mell ein, dass es da was in Nan­jing gege­ben habe, aber Anlass für eine Ent­schul­di­gung ist das so wenig, wie man den Zah­len der Opfer zustimmt.

Dass es sich bei dem Muse­um in Nan­jing um zweck­dien­li­che Pro­pa­gan­da han­delt, kann ich nun gar nicht bestä­ti­gen. Bei ande­ren ver­gleich­ba­ren Ein­rich­tun­gen will ich nicht in Abre­de stel­len, dass es eine gewis­se patrio­ti­sche Über­hö­hung bei der Dar­stel­lung des anti­ja­pa­ni­schen Wider­stan­des gibt. Aber ist das nicht legi­tim? Ein von Kolo­ni­al­mäch­ten aus­ge­plün­der­tes Land, das sich seit den zwan­zi­ger Jah­ren in einem blu­ti­gen Bür­ger­krieg zer­fleisch­te, um sich dann – zumin­dest zeit­wei­se – gegen den gemein­sa­men Feind zu ver­ei­nen, darf sich mit Stolz auch zu sei­nen heroi­schen Abwehr­schlach­ten beken­nen und sei­nen Prot­ago­ni­sten ideel­le Lor­beer­krän­ze flech­ten, auch wenn der Feind zunächst tri­um­phier­te. (Mit­un­ter wur­de ich an Dar­stel­lun­gen in sowje­ti­schen Fil­men erin­nert, bei denen deut­sche Faschi­sten gera­de­zu kari­kiert wur­den, was die Fra­ge pro­vo­zier­te: Wie war es mög­lich, dass sol­che Idio­ten bis Mos­kau und Sta­lin­grad kamen? Hier sind es die Inva­so­ren, die beim Anblick einer roten Fah­ne Panik­at­tacken bekamen.)

Die Aus­stel­lung in Nan­jing ehrt die Opfer ange­mes­sen und wür­digt sach­lich den Wider­stand. Die Kom­men­ta­re sind kurz und beschrän­ken sich aufs Wesent­li­che. Das ist zugleich ihr punk­tu­el­les Man­ko. Der Blick rich­tet sich aus­schließ­lich auf das Mas­sa­ker in Nan­jing und deren nach­ma­li­ge Rezep­ti­on ein­schließ­lich der juri­sti­schen und publi­zi­sti­schen Auf­ar­bei­tung. Der glo­ba­le Kon­text, in wel­chem die japa­ni­sche Expan­si­on erfolg­te, wird nicht gezeigt. Etwa dass zeit­gleich die Spa­ni­sche Repu­blik sich gegen die ver­ein­ten euro­päi­schen Faschi­sten zur Wehr setz­te, wel­che von den »west­li­chen Demo­kra­tien« durch deren Appease­ment­po­li­tik ermu­tigt wur­de. Kein Hin­weis auf die ita­lie­ni­sche Aggres­si­on in Ost­afri­ka (bei der, wie von den Japa­nern, Gift­gas ein­ge­setzt wur­de und mehr als eine hal­be Mil­lio­nen Men­schen star­ben), nichts zu dem 1936 zwi­schen Nazi­deutsch­land und Japan geschlos­se­nen Anti­kom­in­tern­pakt, dem sich Ita­li­en 1937 anschloss, kei­ne Sil­be über die soge­nann­te Qua­ran­tä­ne-Rede des US-Prä­si­den­ten im Okto­ber 1937, mit dem die­ser den Anspruch der Ver­ei­nig­ten Staa­ten for­mu­lier­te, künf­tig an der Gestal­tung einer neu­en Welt­ord­nung mehr als nur ein Wört­chen mit­re­den zu wollen.

Ja, auch John Rabe bekommt hier brei­ten Raum. Der Deut­sche ret­te­te eini­ge Hun­dert Chi­ne­sen auf dem Sie­mens-Anwe­sen in der Innen­stadt vor der blut­rün­sti­gen Sol­da­tes­ka. Er wird für sei­ne zutiefst mensch­li­che Hal­tung in der Volks­re­pu­blik als Oskar Schind­ler Chi­nas sehr ver­ehrt. Hier­zu­lan­de ist er zwar bekannt, aber ein deut­scher Kino­film über ihn lief nur mit mäßi­gem Erfolg und ver­hin­der­te, dass Rabe so popu­lär wur­de wie Schind­ler: Der Regis­seur war eben nicht Ste­ven Spiel­berg. Oder wie die FAZ im April 2009 zutref­fend bemerk­te: Eine gute Geschich­te macht noch lan­ge kei­nen guten Film.

Viel­leicht aber lag es auch am wider­sprüch­li­chen Cha­rak­ter Rabes, der als gläu­bi­ges NSDAP-Mit­glied sei­nem Füh­rer über die Gräu­el­ta­ten berich­te­te und die­sen bat, mäßi­gend auf sei­ne Tokio­ter Bun­des­ge­nos­sen einzuwirken.

Ob der 1950 in Ber­lin ver­stor­be­ne John Rabe ein Naiv­ling war, woll­ten wir bei Liu Hai­ning erfah­ren. Er ist der ver­mut­lich beste Ken­ner Rabes in Chi­na: Der Ger­ma­nist hat des­sen sechs Tage­bü­cher über­setzt und arbei­tet gegen­wär­tig an einer kom­men­tier­ten Ausgabe.

Aber das ist bereits eine ande­re Geschichte.