Das Gesicht ist der wichtigste Körperteil in Asien. Sein Verlust schmerzt mehr als alles andere. Deshalb darf man es nie verlieren. Zum Beispiel, so meinten die Chinesen lange Zeit, hätten sie das Gesicht verloren, wenn sie die militärische Niederlage in Nanjing eingestanden hätten. Die Hauptstadt der 1912 entstandenen Republik China war im Dezember 1937 gefallen. Und danach hatten die japanischen Okkupanten binnen sechs Wochen etwa dreihunderttausend Zivilisten massakriert. Möglicherweise handelte es sich um den größten Massenmord in der Geschichte. Doch es vergingen Jahrzehnte, ehe sich die Volksrepublik zu dieser Demütigung erklärte. Wegen des vermeintlichen Gesichtsverlustes. Das öffentliche Bekenntnis hing, so meinen Historiker heute, kausal mit der gewachsenen ökonomischen Stärke zusammen, die sich in nationalem Selbstbewusstsein niederschlug. Als globale Großmacht konnte man sich nun auch souverän zu diesem finsteren Kapitel der eigenen Vergangenheit bekennen. Abendländische Logik ist das nicht: Hier gilt es keineswegs als Schmach und Schande, wenn militärisch überlegene Invasoren temporäre Siege erringen, diese beschweigt man nach dem Ende des Gemetzels nicht. Am Ende überstrahlt das siegreiche Finale alles. Aber in Asien ist eben vieles anders.
In Nanjing, der Metropole am Jangtse, begann man sich erst in den achtziger Jahren des Themas anzunehmen. Nach der 1978 durch Deng erfolgten Öffnung des Landes. In der Erinnerung der Einwohnerschaft war das kollektive Verbrechen immer präsent, weil fast jede Familie – sofern sie nicht in Gänze ausgelöscht worden war – darunter gelitten hatte. Es gab zudem Fotos von Leichen, die auf dem Fluss trieben, von Hinrichtungen, von abgeschlagenen Köpfen, die für japanische Kameras in Szene gesetzt worden waren, von zerschmetterten Menschenleibern, es lagen Opferberichte von Massenvergewaltigungen vor, einige Zeugen erzählten von ihren Beobachtungen. Aber offiziell wurde daran nicht erinnert. Bis man den Graben für eine städtische Wasserleitung verlegte und dabei menschliche Gebeine zutage förderte. Die Stadtverwaltung überdachte die freigelegten Skelette, ließ weiter graben, errichtete eine Gedenkstätte und erinnerte somit an das Blutbad, an die Stunde der Niederlage. In den folgenden Jahren kam ein architektonisch auffälliges Museumsgebäude mit fast dreitausend Quadratmetern Ausstellungsfläche hinzu, ergänzt von einer Vielzahl an Kunstwerken und anderen Objekten. Inzwischen erstreckt sich das Areal über fast drei Hektar. Knochen findet man übrigens in der Stadt noch immer.
Im Jahr besuchen mehr als fünf Millionen Menschen diesen Ort. Chinesen, Japaner und andere Ausländer. Mindestens zwei Drittel der Besucher seien Schüler und Studenten, Lehrlinge und andere Heranwachsende, sagt man uns, junge Leute also. Und diese kämen mehrheitlich nicht, weil sie es müssten und der Eintritt frei sei. Wenn man in die ernsten Gesichter blickt, wie sie die Fotos und Dokumente studieren, auf die Videos und Installationen schauen, dann spürt man das innere Interesse an der Vergangenheit. Wo kommen wir her? Und dieser Frage schließt sich zwangsläufig die nächste an: Wohin gehen wir? Denn das scheint angesichts der fortschreitenden Kommerzialisierung der chinesischen Gesellschaft – trotz aller kühnen Absichtserklärungen und Pläne der Partei – keineswegs schon abschließend entschieden.
Mit meinem Sohn sah ich mittlerweile sieben Museen in verschiedenen Gegenden Chinas, die den historischen Konflikt mit Japan zum Gegenstand haben. (Seit Jahren, als er in Hiroshima studierte und auf die dort auf einer Insel ehemals erfolgte Giftgasproduktion stieß, recherchiert er zu Japans chemischer Kriegführung für ein Buchprojekt.) Japans Krieg gegen China währte von 1932 bis 1945. Geschätzt kostete er etwa 35 Millionen Menschenleben, was in Europa kaum bekannt ist. Dafür gibt es mehrere Erklärungen, eine lautet: Während der Hitlerstaat vernichtet wurde, überlebte in Asien der Aggressor. Kaiser Hirohito, der Hauptkriegsverbrecher, wurde nicht einmal als Zeuge vor das internationale Militärtribunal geladen. Er blieb bis 1989 auf dem Thron und unangetastet. Japan wurde nach dem heißen Krieg – und nicht zuletzt wegen des Kalten Krieges – als Staat von den USA massiv protegiert. So stieg das Kaiserreich zur stärksten Wirtschaftsmacht in Asien auf, mit der es sich die Nachbarn nicht verderben wollten. Deshalb sprachen sie in Südkorea, China, Vietnam, Taiwan, den Philippinen usw. nicht über die Vergangenheit, sondern ließen lange Gras über die unfassbaren Kriegsverbrechen wachsen und die politischen Leichen im Keller ruhen. Die Ruhe schwand allerdings in dem Maße, wie die ökonomische Potenz Japans schwand und die der Nachbarn, insbesondere Chinas, zunahm. Und nicht zu vergessen: Auch in Japan selbst wurde kritisch die eigene Vergangenheit befragt. Ehemalige Soldaten berichteten über die Verbrechen etwa in China, an denen sie beteiligt waren, womit sie sich den Zorn ihrer rückwärtsgewandten Landsleute zuzogen. Die ehrten im Tokioter Yasukuni-Schrein nämlich nicht nur die Kriegstoten, sondern ungeniert auch die verurteilten Kriegsverbrecher. Als 2005 in japanischen Lehrbüchern erstmals das Nanjing-Massaker überhaupt Erwähnung fand – verharmlosend als »Zwischenfall« bezeichnet –, regte sich heftiger Widerstand gegen die vermeintliche chinesische Propaganda. Inzwischen räumt man zwar formell ein, dass es da was in Nanjing gegeben habe, aber Anlass für eine Entschuldigung ist das so wenig, wie man den Zahlen der Opfer zustimmt.
Dass es sich bei dem Museum in Nanjing um zweckdienliche Propaganda handelt, kann ich nun gar nicht bestätigen. Bei anderen vergleichbaren Einrichtungen will ich nicht in Abrede stellen, dass es eine gewisse patriotische Überhöhung bei der Darstellung des antijapanischen Widerstandes gibt. Aber ist das nicht legitim? Ein von Kolonialmächten ausgeplündertes Land, das sich seit den zwanziger Jahren in einem blutigen Bürgerkrieg zerfleischte, um sich dann – zumindest zeitweise – gegen den gemeinsamen Feind zu vereinen, darf sich mit Stolz auch zu seinen heroischen Abwehrschlachten bekennen und seinen Protagonisten ideelle Lorbeerkränze flechten, auch wenn der Feind zunächst triumphierte. (Mitunter wurde ich an Darstellungen in sowjetischen Filmen erinnert, bei denen deutsche Faschisten geradezu karikiert wurden, was die Frage provozierte: Wie war es möglich, dass solche Idioten bis Moskau und Stalingrad kamen? Hier sind es die Invasoren, die beim Anblick einer roten Fahne Panikattacken bekamen.)
Die Ausstellung in Nanjing ehrt die Opfer angemessen und würdigt sachlich den Widerstand. Die Kommentare sind kurz und beschränken sich aufs Wesentliche. Das ist zugleich ihr punktuelles Manko. Der Blick richtet sich ausschließlich auf das Massaker in Nanjing und deren nachmalige Rezeption einschließlich der juristischen und publizistischen Aufarbeitung. Der globale Kontext, in welchem die japanische Expansion erfolgte, wird nicht gezeigt. Etwa dass zeitgleich die Spanische Republik sich gegen die vereinten europäischen Faschisten zur Wehr setzte, welche von den »westlichen Demokratien« durch deren Appeasementpolitik ermutigt wurde. Kein Hinweis auf die italienische Aggression in Ostafrika (bei der, wie von den Japanern, Giftgas eingesetzt wurde und mehr als eine halbe Millionen Menschen starben), nichts zu dem 1936 zwischen Nazideutschland und Japan geschlossenen Antikominternpakt, dem sich Italien 1937 anschloss, keine Silbe über die sogenannte Quarantäne-Rede des US-Präsidenten im Oktober 1937, mit dem dieser den Anspruch der Vereinigten Staaten formulierte, künftig an der Gestaltung einer neuen Weltordnung mehr als nur ein Wörtchen mitreden zu wollen.
Ja, auch John Rabe bekommt hier breiten Raum. Der Deutsche rettete einige Hundert Chinesen auf dem Siemens-Anwesen in der Innenstadt vor der blutrünstigen Soldateska. Er wird für seine zutiefst menschliche Haltung in der Volksrepublik als Oskar Schindler Chinas sehr verehrt. Hierzulande ist er zwar bekannt, aber ein deutscher Kinofilm über ihn lief nur mit mäßigem Erfolg und verhinderte, dass Rabe so populär wurde wie Schindler: Der Regisseur war eben nicht Steven Spielberg. Oder wie die FAZ im April 2009 zutreffend bemerkte: Eine gute Geschichte macht noch lange keinen guten Film.
Vielleicht aber lag es auch am widersprüchlichen Charakter Rabes, der als gläubiges NSDAP-Mitglied seinem Führer über die Gräueltaten berichtete und diesen bat, mäßigend auf seine Tokioter Bundesgenossen einzuwirken.
Ob der 1950 in Berlin verstorbene John Rabe ein Naivling war, wollten wir bei Liu Haining erfahren. Er ist der vermutlich beste Kenner Rabes in China: Der Germanist hat dessen sechs Tagebücher übersetzt und arbeitet gegenwärtig an einer kommentierten Ausgabe.
Aber das ist bereits eine andere Geschichte.