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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Nahe der polnischen Grenze

Kammin­ke liegt am Haff und in Sicht­wei­te der Gren­ze zu Polen. Unweit des win­zi­gen Dorfs erhebt sich der Golm. Fast sieb­zig Meter hoch und damit der höch­ste Hügel auf der Insel Use­dom. Mit­ten in dem heu­ti­gen Natur­schutz­ge­biet sind einst meh­re­re Tau­send Men­schen bestat­tet wor­den: Am 12. März 1945 grif­fen fast sie­ben­hun­dert ame­ri­ka­ni­sche Flie­ger Swi­ne­mün­de an. Die Hafen­stadt war voll­ge­stopft mit Flücht­lin­gen und Sol­da­ten, es heißt, fast hun­dert­tau­send Men­schen hiel­ten sich dort auf, als die Bom­ben fie­len. Mehr als vier­mal so viel wie die Stadt Ein­woh­ner zählte.

Etwa drei Kilo­me­ter von der zer­stör­ten Stadt ent­fernt wur­den bereits seit 1943 Sol­da­ten auf dem Golm beer­digt: Swi­ne­mün­de war ein Stütz­punkt der Wehr­macht und der Mari­ne mit einem gro­ßen Zen­tral­la­za­rett. Mit Pfer­de­ge­span­nen und Last­kraft­wa­gen fuhr man im März die Toten hin­aus, die man in den Rui­nen gebor­gen hat­te, und leg­te sie in Mas­sen­grä­ber, ohne ihre Namen zu wis­sen. Bis heu­te sind kei­ne drei­tau­send identifiziert.

Weni­ge Mona­te spä­ter tag­ten in Pots­dam die Sie­ger­mäch­te und leg­ten die deut­schen Nach­kriegs­gren­zen fest. Sta­lin zog mit dem Blei­stift eine Kur­ve über den öst­li­chen Zip­fel der Insel Use­dom und ent­schied, dass Swi­ne­mün­de außer­halb der sowje­tisch besetz­ten Zone lie­gen soll­te. Pieck und Ulb­richt spra­chen in Mos­kau vor. Für die kom­mu­ni­sti­schen Patrio­ten soll­te die gan­ze Insel Use­dom und damit Swi­ne­mün­de deutsch blei­ben, Stet­tin des­glei­chen, das eben­falls west­lich der Oder – der künf­ti­gen Gren­ze – lag. Die KPD hat­te dort schon Struk­tu­ren auf­ge­baut und mit der Arbeit begon­nen. Doch ihre Inter­ven­ti­on blieb ohne Erfolg. Was aus Deutsch­land wer­den wür­de, war 1945 nicht abseh­bar, wohl aber Polens Zukunft als ver­bün­de­ter Nach­bar der Sowjet­uni­on. Aus mili­tär­stra­te­gi­schen Erwä­gun­gen sicher­te sich Mos­kau mit die­sem Strich »sei­nen« west­lich­sten Ost­see­ha­fen in Swi­ne­mün­de, das fort­an Świ­nou­jście hieß. Die Bit­te aus Ber­lin stieß dar­um auf tau­be Ohren und blieb eine offe­ne Wun­de bis zum Ende der acht­zi­ger Jah­re. Erst dann regel­ten die DDR und Polen die Grenz­fra­ge in der Pom­mer­schen Bucht ver­trag­lich. 1992 zogen die letz­ten vor­mals sowje­ti­schen Rake­ten­schnell­boo­te der Bal­ti­schen Flot­te aus Świ­nou­jście ab.

Das alles muss man wis­sen, um zu ver­ste­hen, wes­halb sich die DDR mit dem Erbe auf dem Golm anfäng­lich schwer­tat. Dort waren zwar deut­sche Lands­leu­te bestat­tet, aber sie stamm­ten aus einem Ort, der nun pol­nisch war. Die Füh­rung in Ber­lin agier­te vor­sich­tig, unter­nahm nichts, was einen Anflug von Natio­na­lis­mus und Revan­chis­mus hät­te haben kön­nen. Wie sen­si­bel man jen­seits der Gren­ze in der Fra­ge war, zeig­te nicht erst der Pro­test, als der DEFA-Film »Der Auf­ent­halt« 1983 auf der Ber­li­na­le lief. Die Ver­fil­mung des Buches von Her­mann Kant wür­de anti­pol­ni­sche Res­sen­ti­ments schü­ren, kam es ver­är­gert aus War­schau. Die DDR-Füh­rung zog sofort das Mei­ster­werk von Frank Bey­er zurück und erlaub­te die Auf­füh­rung nur noch in klei­nen Studio-Kinos.

Die evan­ge­li­sche Kir­che sah die unge­pfleg­te Grä­ber­an­la­ge auf dem Golm nicht als Poli­ti­kum, son­dern als Auf­trag und bemüh­te sich seit 1950 um eine wür­di­ge und ange­mes­se­ne Gestal­tung. Auf dem höch­sten Punkt der Anla­ge wur­de Ende der sech­zi­ger Jah­re ein zwei­ge­teil­ter Rund­bau errich­tet, ein »Mahn­mal gegen Krieg und Faschis­mus«. Dar­in­nen ist die Becher-Zei­le aus der DDR-Natio­nal­hym­ne zu lesen: »Dass nie eine Mut­ter mehr ihren Sohn beweint«. Auf dem stei­len Weg hin­auf zu dem Mahn­mal muss man an einer Pla­stik vor­bei. Die Skulp­tur »Die Frie­ren­de« steht dort seit 1984.

Es gibt ver­schie­de­ne Infor­ma­ti­ons­ta­feln, am Ein­gang fin­det sich ein Pavil­lon, in dem das Schick­sal nament­lich bekann­ter deut­scher Opfer erzählt ist, zum Luft­an­griff wird eben­falls etwas gesagt. Auch das seit 1992 eine Inter­es­sen­ge­mein­schaft Gedenk­stät­te Golm e. V. sich hier enga­giert und im Jahr 2000 die Trä­ger­schaft auf den Volks­bund Deut­sche Kriegs­grä­ber­für­sor­ge e. V. über­ge­gan­gen ist. Nichts gesagt und geschrie­ben jedoch wird über den ver­bre­che­ri­schen Krieg, wer ihn los­trat und aus wel­chem Grun­de, wer dar­an ver­dien­te und wer ihn bezahl­te. Und wes­halb hier, so dicht an der Gren­ze zu Polen und nach dem deut­schen Über­fall auf sei­nen öst­li­chen Nach­barn, die offi­zi­el­le DDR lan­ge lavier­te, diplo­ma­tisch über­vor­sich­tig selbst beim Umgang mit Opfern des Krie­ges handelte.

Statt­des­sen erfährt der Besu­cher, dass im Früh­jahr 1954 ein drei­zehn Meter hohes Holz­kreuz abge­sägt wor­den sei – von »unbe­kann­ten Tätern«, und man setzt die­se in Anfüh­rungs­zei­chen, weil es sich dabei um eine »offi­zi­el­le Ver­laut­ba­rung« gehan­delt habe. Die Her­vor­he­bung soll insi­nu­ie­ren, die Täter sei­en der Obrig­keit bekannt gewe­sen, viel­leicht han­del­ten sie sogar in deren Auf­trag. »Die Frie­ren­de«, die der Ban­si­ner Bild­hau­er Rudolf Lep­ti­en 1952/​53 geschaf­fen habe, »durf­te nicht auf­ge­stellt wer­den, weil die künst­le­ri­sche Aus­sa­ge nicht der Linie der Par­tei ent­sprach«. Komisch: Als die Figur 1984 auf­ge­stellt wur­de, war noch immer die glei­che Par­tei am Ruder. Lag es viel­leicht dar­an, dass sie inzwi­schen ihren Frie­den mit dem 1953 nach West­ber­lin geflo­he­nen Bild­hau­er gemacht hat­te? Oder war das eine wider­stän­di­sche Hand­lung? »Unter den Gärt­nern befand sich auch der Kom­mu­nist Richard Döring aus Kammin­ke. Auf sein Bestre­ben hin wur­de die Skulp­tur 1984 an der vor­ge­se­he­nen Stel­le ohne Geneh­mi­gung der Behör­den auf­ge­stellt«, heißt es.

Und man erfährt, dass der Rostocker Künst­ler Wolf­gang Eck­hardt den Rund­bau aus Beton »im staat­li­chen Auf­trag« geschaf­fen habe. Hört, hört. … Auf der run­den Boden­ta­fel in der Mit­te des Runds steht: »Drei­und­zwan­zig­tau­send Tote des Zwei­ten Welt­krie­ges mah­nen«. Dabei wis­se man doch gar nicht, wie vie­le Men­schen hier lie­gen, heißt es vor­wurfs­voll, das sei eine pro­pa­gan­di­sti­sche Über­hö­hung der DDR. Es sei­en viel­leicht nur zwi­schen sechs- bis vier­zehn­tau­send Tote gewe­sen. (Wir ken­nen den unsin­nig-pie­tät­lo­sen Streit um die Opfer­zah­len schon aus Dresden.)

Alles merk­lich distan­zie­ren­de Bemer­kun­gen. Doch wer der »Frie­ren­den« 2019 die Nase abschlug und war­um, erfährt man nicht. Wohl aber, dass die Becher-Zei­le aus Bron­ze 2009 gestoh­len wur­de (wie auch die Namens­ta­feln aus dem glei­chen Bunt­me­tall) und dass die dann durch Kunst­stoff ersetz­te Inschrift im dar­auf fol­gen­den Jahr erneut ver­schwand – obgleich doch zwei­spra­chig über­all ange­schla­gen steht: »Nach meh­re­ren Dieb­stäh­len muss­ten die Bron­ze­ta­feln mit den Namen der Kriegs­to­ten durch Tafeln aus bron­ze­far­be­nem Kunst­stoff ersetzt wer­den. Die­se Tafeln sind für Metall­die­be wert­los.« Es steht zu bezwei­feln, dass die ver­meint­li­chen Metall­die­be nicht lesen konn­ten. Also fragt man sich: Wer hat dann die Inschrift ent­wen­det? Und mit wel­cher Absicht? Kann ein poli­ti­sches Motiv aus­ge­schlos­sen werden?

Irgend­wie erin­nert das Schick­sal der Becher-Zei­le an die von Brecht berich­te­te »Unbe­sieg­ba­re Inschrift«: »Zur Zeit des Welt­kriegs /​ In einer Zel­le des ita­lie­ni­schen Gefäng­nis­ses San Car­lo /​ Voll von ver­haf­te­ten Sol­da­ten, Betrun­ke­nen und Die­ben /​ Kratz­te ein sozia­li­sti­scher Sol­dat mit Kopier­stift in die Wand: /​ Hoch Lenin!« Erst wur­de der Schrift­zug mit Far­be über­malt, dann polk­ten ihn Mau­rer aus der Wand und damit in die­se, und als das nichts half, sag­te der Wäch­ter: »Jetzt ent­fernt die Mauer.«

»Dass nie eine Mut­ter mehr ihren Sohn beweint.« Die appel­lie­ren­de Inschrift auf dem Golm ist gül­ti­ger denn je. Bei allem Unmut über die ten­den­ziö­sen Begleit­tex­te ist zu wür­di­gen, dass die Zustän­di­gen immer wie­der die­se Zei­le erneu­ern und sie prä­sent hal­ten gegen alle glo­ba­le Unver­nunft. Inzwi­schen besteht sogar »weit­ge­hend Kon­sens«, dass dort tat­säch­lich drei­und­zwan­zig­tau­send Men­schen ruhen: zwan­zig­tau­send Bom­ben­to­te und drei­tau­send Sol­da­ten. Es ist wirk­lich und wahr­haf­tig die größ­te Kriegs­grä­ber­stät­te in Mecklenburg-Vorpommern.

Drei­ßig- bis vier­zig­tau­send Besu­cher kom­men in jedem Jahr hierher.

Deut­sche und Polen.