Hermann Claudius’ Werk »Wann wir schreiten Seit an Seit« war Aufhänger für Klaus Nilius, die Querfrontgeschichte dieses SPD-Parteilieds neu zu erzählen (Heft 3/2022). An den Anfang stellte er Brechts Bewunderung für die »unerhörte Verführungskraft« und »Unbestimmtheit« der Kernzeile »Mit uns zieht die neue Zeit« – nicht ohne Häme. Denn es ist ja Unbestimmtheit, die für Demagogie Einfallstore baut. Und da in diesem »Arbeiter«-Lied nicht eine einzige Zeile am Klassenwiderspruch kratzt, durfte es mühelos mehrfach den Besitzer wechseln: von der SPD zur SA und wieder zurück. Der Dichter lässt den »Sonnentag fröhlich lachen«, wohl, weil nach »einer Woche Hammerschlag« immer noch »keiner zu hadern wagt«. Solche Zeilen dürften dem Kapital warme Glücksschauer beschert haben.
6o Jahre zuvor hatte der Dichterstar Georg Herwegh auf Bitten von Lassalle im »Bundeslied« einen populären Text zur Gründung der SPD, bzw. des »Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins« in Leipzig geschrieben. Mit »Bet und Arbeit« gelang es ihm, sogar etwas Klassenwirklichkeit populär zu fassen: »Alles ist dein Werk, oh sprich / alles aber nichts für dich / und von allem nur allein / die du schmiedst / die Kette dein.« Um dann zum berühmten Streikreim auszuholen: »Alle Räder stehen still/ wenn dein starker Arm es will.«
1977 bekam ich von Willy Brandt den Auftrag, eine LP mit Arbeiterliedern für die SPD einzusingen. Ich bat ihn, auf »Wann wir schreiten« verzichten zu dürfen. Der einst sozialdemokratische Textautor Hermann Claudius hatte bekanntlich 1933 ein Treuegelöbnis für Adolf Hitler mitgezeichnet. Auch mein musikalischer Mitarrangeur, Heiner Goebbels, wollte an diesem Lied nicht mitwirken. Willy Brandt strahlte, er hätte dieses Lied auch stets als zu schwülstig empfunden. Eine Zeile wie: wenn wir »die alten Lieder singen / und die Wälder widerklingen« habe doch mit der eher städtischen Arbeiterbewegung nichts zu tun. Dann legte er jedoch den Kopf schief: Andererseits habe er sich als Parteivorsitzender dieser Tradition doch irgendwie zu fügen. Wir einigten uns darauf, dass der Song zwar auf die »Arbeiterlieder-LP« käme, aber als einziger Song ohne mich, sondern von einer Falkensonggruppe gesungen.
Genau zehn Jahre später erinnerte sich Willy Brandt unseres Gesprächs. Er sagte, dass er gern zur 125-Jahr-Feier der SPD 1988 »Wann wir schreiten« als Parteitagslied endgültig in den Kompost tun wollte. Ob ich denn dafür ein neues Parteilied schreiben könnte? Wobei er sich erinnerte an einen Bonner Auftritt der Bots mit meinem »Weichen Wasser« gegen die Nato-Atomraketen. Dies möge ich doch umschreiben. 1988 wurde dann also »Wann wir schreiten« als Parteitagsabschluss-Gesang suspendiert und durch meine neue »Weiche-Wasser-Fassung« ersetzt. Heinz Rudolf Kunze sang es damals; Willy Brandt selbst, Senta Berger und Götz George sprachen es zur Berliner SPD-Feier auf Schallplatte. Allerdings wurde einige Jahre danach (unter Einflussnahme von Gerhard Schröder und Bodo Hombach) erneut »Wann wir schreiten« an seinen rechten Platz zurückgeholt. Erst im Dezember 2021 beendete der SPD-Parteivorstand diesen masochistischen Mummenschanz, was Klaus Nilius dankenswerterweise auch mit Quellen versah.
Gerade arbeite ich mit Michael Letz (Oktoberclub), Joachim Witt (»Der goldene Reiter«) Ex-DDR-Minister Hartmut König, Matthias Müller und anderen daran, Arbeiterlieder noch einmal gegen den musikalisch ritualisierten Strich zu kämmen. Dafür wird »Bet und Arbeit« zu einem Kirchenorgelwerk, »Die Arbeitereinheitsfront« zu Techno, »Die Internationale« zu einem leisen Chanson und »Dem Morgenrot entgegen« zu einem Tango. Bei den Arbeiterliedern auf dieser CD kommt »Wann wir schreiten« natürlich nicht vor. Allerdings hatten wir kürzlich auf Weltnetz.tv eine satirische Version daraus für Olaf Scholz gemacht (https://weltnetz.tv/video/2562-der-scholzomat-song).