Nachti, Katharina Nachtrab, gesprochen Nacht-rab, aus Nürnberg, will in Ost-Berlin (das ist wichtig!) Mitte der neunziger Jahre Theaterregisseurin werden. Sie wird Studentin an einer Berliner Schauspielschule. Nachtis Klasse besteht aus fünf Kommilitonen, ausgewählt aus einer Bewerberflut. Sind die »Elite-Studenten« schon eine seltsame Truppe, so sind die Dozenten fast gespenstisch. Und alter Ost-Kader obendrein, Stasi-Verwicklungen inklusive. Sie sind zwar Meister ihrer Fächer, aber hängen der alten Ost-Pädagogik an, nach der, so liest man es, die Alumni erst einmal »gebrochen« werden müssen. Am schlimmsten treibt es ein »Starregisseur« namens Brandner, dessen Neffe Tadeusz ebenfalls Student in der Gruppe ist – was zunächst niemand weiß, weil der Umstand mit Brandners Vergangenheit zu tun hat. Brandner stellt den hoffnungsvollen Nachwuchsregisseuren die Aufgabe, ein rätselhaftes FAUST-Fragment des Expressionisten Georg Heym (1887 – 1912) in Szene zu setzen. Dazu teilt er den zwei Seiten langen Text unter ihnen auf. Das Projekt treibt die Individualisten zusammen, aber auch in Wahnsinn und Drogenrausch, einen von ihnen in den Tod, der natürlich am 16. Januar stattfindet, dem Tag, an dem Heym beim Schlittschuhlaufen ertrank und an dem Heiner Müller beerdigt wird.
Was für eine großartige Geschichte, ruft man aus. Und das ist sie auch. Aber wer sie lesen will, braucht langen Atem und mildes Gemüt, darf den Weg durch die Redundanz nicht fürchten und auch nicht fehlerhafte Grammatik, muss hinnehmen, dass alles in der sich blähenden Handlung verhandelt wird: Theaterwissenschaft, Drogen, Satanismus, DDR und BRD, Suff, Literatur, Liebe, Soziales, schmutzige Unterwäsche, Nazis, Expressionismus und so weiter und so fort. Der Leser darf sich nicht fürchten vor den Wiederholungstriumphen des Adverbs »irgendwie«, er muss sich daran gewöhnen, dass es dauernd »knarzt«, dass Türen immer »aufschwingen«, dass wieder und wieder auf die dampfende Oberfläche von Getränken geblasen wird. Ja, man fragt sich, warum niemand der Autorin zur Straffung, zur Lakonie riet, warum niemand die offensichtlichen Fehler, die bekanntermaßen jedem widerfahren können, ausmerzte, warum die fesselnde Geschichte nicht aus der Perspektive der Katharina Nachtrab erzählt wird, warum unbedingt auch noch in jede Figur »hineingestiegen« werden muss, deren Sprache dann nicht immer überzeugt. Der seitenlange Teufelsklamauk (mit Maske und Hexensalbei, fast soll es klingen, als wäre der Leibhaftige mit von der Partie), der wäre gekürzt sogar faszinierend. So faszinierend wie viele Passagen des Romans, der trotz etlicher Mängel in den Bann zu schlagen vermag, der rasant erzählte Passagen hat, auch atmosphärisch dichte, der aus äußerer Spannung auch innere erzeugt. Am wichtigsten jedoch: Der Roman rückt eines der größten und unglücklichsten Genies der deutschen Literatur wieder in die Aufmerksamkeit: Georg Heym. Er zeigt eindrucksvoll und auf bedrückende Weise, was mit Menschen geschieht, die sich dem Teufelsbetrieb der Verlage, Theater, Kinos, der »Kunstherstellung«, verschreiben. Und wenn es eine Tradition des Berlin-Romans in der deutschen Literatur gibt, dann hält man hier einen spannenden in der Hand.
Christiane Neudecker: »Der Gott der Stadt«, Luchterhand Literaturverlag, 672 Seiten, 24 €