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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Nachti, Heym und der Teufel

Nach­ti, Katha­ri­na Nach­trab, gespro­chen Nacht-rab, aus Nürn­berg, will in Ost-Ber­lin (das ist wich­tig!) Mit­te der neun­zi­ger Jah­re Thea­ter­re­gis­seu­rin wer­den. Sie wird Stu­den­tin an einer Ber­li­ner Schau­spiel­schu­le. Nach­tis Klas­se besteht aus fünf Kom­mi­li­to­nen, aus­ge­wählt aus einer Bewer­ber­flut. Sind die »Eli­te-Stu­den­ten« schon eine selt­sa­me Trup­pe, so sind die Dozen­ten fast gespen­stisch. Und alter Ost-Kader oben­drein, Sta­si-Ver­wick­lun­gen inklu­si­ve. Sie sind zwar Mei­ster ihrer Fächer, aber hän­gen der alten Ost-Päd­ago­gik an, nach der, so liest man es, die Alum­ni erst ein­mal »gebro­chen« wer­den müs­sen. Am schlimm­sten treibt es ein »Star­re­gis­seur« namens Brand­ner, des­sen Nef­fe Tade­u­sz eben­falls Stu­dent in der Grup­pe ist – was zunächst nie­mand weiß, weil der Umstand mit Brand­ners Ver­gan­gen­heit zu tun hat. Brand­ner stellt den hoff­nungs­vol­len Nach­wuchs­re­gis­seu­ren die Auf­ga­be, ein rät­sel­haf­tes FAUST-Frag­ment des Expres­sio­ni­sten Georg Heym (1887 – 1912) in Sze­ne zu set­zen. Dazu teilt er den zwei Sei­ten lan­gen Text unter ihnen auf. Das Pro­jekt treibt die Indi­vi­dua­li­sten zusam­men, aber auch in Wahn­sinn und Dro­gen­rausch, einen von ihnen in den Tod, der natür­lich am 16. Janu­ar statt­fin­det, dem Tag, an dem Heym beim Schlitt­schuh­lau­fen ertrank und an dem Hei­ner Mül­ler beer­digt wird.

Was für eine groß­ar­ti­ge Geschich­te, ruft man aus. Und das ist sie auch. Aber wer sie lesen will, braucht lan­gen Atem und mil­des Gemüt, darf den Weg durch die Red­un­danz nicht fürch­ten und auch nicht feh­ler­haf­te Gram­ma­tik, muss hin­neh­men, dass alles in der sich blä­hen­den Hand­lung ver­han­delt wird: Thea­ter­wis­sen­schaft, Dro­gen, Sata­nis­mus, DDR und BRD, Suff, Lite­ra­tur, Lie­be, Sozia­les, schmut­zi­ge Unter­wä­sche, Nazis, Expres­sio­nis­mus und so wei­ter und so fort. Der Leser darf sich nicht fürch­ten vor den Wie­der­ho­lungs­tri­um­phen des Adverbs »irgend­wie«, er muss sich dar­an gewöh­nen, dass es dau­ernd »knarzt«, dass Türen immer »auf­schwin­gen«, dass wie­der und wie­der auf die damp­fen­de Ober­flä­che von Geträn­ken gebla­sen wird. Ja, man fragt sich, war­um nie­mand der Autorin zur Straf­fung, zur Lako­nie riet, war­um nie­mand die offen­sicht­li­chen Feh­ler, die bekann­ter­ma­ßen jedem wider­fah­ren kön­nen, aus­merz­te, war­um die fes­seln­de Geschich­te nicht aus der Per­spek­ti­ve der Katha­ri­na Nach­trab erzählt wird, war­um unbe­dingt auch noch in jede Figur »hin­ein­ge­stie­gen« wer­den muss, deren Spra­che dann nicht immer über­zeugt. Der sei­ten­lan­ge Teu­felskla­mauk (mit Mas­ke und Hexen­sal­bei, fast soll es klin­gen, als wäre der Leib­haf­ti­ge mit von der Par­tie), der wäre gekürzt sogar fas­zi­nie­rend. So fas­zi­nie­rend wie vie­le Pas­sa­gen des Romans, der trotz etli­cher Män­gel in den Bann zu schla­gen ver­mag, der rasant erzähl­te Pas­sa­gen hat, auch atmo­sphä­risch dich­te, der aus äuße­rer Span­nung auch inne­re erzeugt. Am wich­tig­sten jedoch: Der Roman rückt eines der größ­ten und unglück­lich­sten Genies der deut­schen Lite­ra­tur wie­der in die Auf­merk­sam­keit: Georg Heym. Er zeigt ein­drucks­voll und auf bedrücken­de Wei­se, was mit Men­schen geschieht, die sich dem Teu­fels­be­trieb der Ver­la­ge, Thea­ter, Kinos, der »Kunst­her­stel­lung«, ver­schrei­ben. Und wenn es eine Tra­di­ti­on des Ber­lin-Romans in der deut­schen Lite­ra­tur gibt, dann hält man hier einen span­nen­den in der Hand.

Chri­stia­ne Neu­decker: »Der Gott der Stadt«, Luch­ter­hand Lite­ra­tur­ver­lag, 672 Sei­ten, 24 €