Der Schriftsteller Wilhelm Raabe schrieb einst: »Ein Freund ist jemand, der deinen kaputten Zaun übersieht, aber die Blumen deines Gartens bewundert.« Heinrich war so ein Freund. Für mich, für viele. Er besaß die seltene Fähigkeit, mit einem liebenden Blick auf die Menschen zu schauen. In diesem Blick lag die gelassene Akzeptanz von Fehlern oder Schwächen. Aber vor allem die herzliche Würdigung der liebenswerten Seiten und der Fähigkeiten seines Gegenübers. Heinrich war frei von Konkurrenz oder kleinlicher Missgunst, von Häme oder Überheblichkeit. Er hatte ein weites Herz und einen weiten Geist. Am 3. März ist der Schriftsteller Heinrich Peuckmann im Alter von 73 Jahren gestorben.
Als ich Heinrich kennenlernte, war ich achtzehn Jahre alt, hatte gerade das Abitur bestanden und mit großem Tatendrang eine Stelle als freie Mitarbeiterin bei der Westfälischen Rundschau in Kamen angetreten, der Heimatstadt von Heinrich im östlichen Ruhrgebiet. Nach ein paar Wochen in einem möblierten Zimmer in Kamen zog ich zu einem Freund ins vier Kilometer entfernte Bergkamen, wo Heinrich am Städtischen Gymnasium Deutsch, Religion und Literatur unterrichtete. Dort, in Bergkamen, bin ich Heinrich zum ersten Mal begegnet: In einer Kneipe, in die an einem Freitagabend zur »Literatur hinter der Theke« eingeladen wurde. Die Kneipe war voll, meist Arbeiter bei ihrem Feierabendbier, dazwischen drei oder vier Autoren, ebenfalls Arbeiter, die kurze Texte lasen, außerdem eine kleine Band, die immer wieder melodiösen Jazz spielte. Heinrich, Mitglied im »Werkkreis Literatur der Arbeitswelt« hatte die Bergkamener Kneipen-Literatur-Reihe gemeinsam mit Bergkamens Kulturdezernent Dieter Treeck entwickelt. Der »Werkkreises Literatur der Arbeitswelt«. war damals, neben der Schule, Heinrichs andere wichtige Wirkungsstätte. Er wollte nicht nur seinen Schülern die Rolle der Literatur für ein tiefes Weltverständnis, für – wie Heinrich es nannte – die »Seelenbildung« nahebringen, er wollte auch denjenigen ohne höhere Schulbildung die Kraft der Literatur vermitteln. In den verschiedenen lokalen Werkstätten des Werkkreises sollten Arbeiter ermutigt werden, ihre Erfahrungen in der Arbeitswelt auszudrücken und aufzuschreiben. Ich war von nun an häufig bei den Treffen dabei, hörte zu und fand eine Menge Stoff für Zeitungsartikel. Und ich lernte viel über das Ruhrgebiet, über die damals noch existierende Welt zwischen Fördertürmen, Kohlehalden und Zechensiedlungen, über Heinrichs Heimat.
Heinrichs Vater hatte den Beruf des Kaufmanns erlernt, war aber wegen fehlender Arbeitsmöglichkeiten in diesem Beruf Bergmann geworden, also in den Pütt gegangen. Erst als Hauer direkt vor Kohle, später als Gedingeschlepper, der den Kohlehauern das Ausbaumaterial heranholen musste. Der Lohn reichte kaum für die vierköpfige Familie. In einem Text für Ossietzky über die Armut seiner Familie schrieb Heinrich: »Selbst seine Mitgliedschaft in der SPD, für die mein Vater während der Nazizeit in einer kleinen Widerstandszelle gearbeitet hatte, musste er aufkündigen, weil er sich die Mitgliedsbeiträge nicht leisten konnte.«
Heinrich war zehn Jahre alt, als die Eltern beschlossen, ihn trotz der finanziellen Sorgen bei einem Ferienzeltlager für Arbeiterkinder auf Norderney anzumelden. Der Preis für die drei Wochen war äußerst günstig. Heinrich sah zum ersten Mal das Meer – und bei der Überfahrt, beim Einatmen der salzigen Luft an Deck, muss sie Heinrich erwischt haben: Die von nun an bis zu seinem letzten Atemzug lebendige Sehnsucht, mehr von der Welt zu sehen, mehr von der Welt zu wissen. Eine Sehnsucht, die die Eltern unterstützten. Bildung als Weg raus aus den engen Verhältnissen. Heinrich durfte zur Realschule, doch das war ihm nicht genug. Er wollte weiter: Abitur. Studium. »Mein Vater war inzwischen Rentner. 598 Mark Rente bekamen wir. Kann man von knapp 600 Mark einen Sohn studieren lassen? Meine Mutter schaffte es. Doch ich weiß nicht wie.« Schließlich bekam Heinrich ein Stipendium nach dem damals existierenden Honnefer Modell. Er war nicht mehr arm. Er war reich. Er hatte Geld, und er durfte lernen. In Bochum studierte er Germanistik, Geschichte und evangelische Theologie. Ein Leben lang war Heinrich seinen Eltern dankbar für ihre Unterstützung und Ermutigung. Und ihn prägte »die Solidarität der kleinen Leute untereinander«, wie er es formulierte. »Der Nachbar wusste, dass garantiert die Situation kommen würde, in der er selbst in Not geraten und auf Hilfe angewiesen sein würde. Inmitten der materiellen Beschränktheit gab der Zusammenhalt eine Wärme, die viele Defizite wettmachte.«
Heinrichs früher Einsatz für eine Literatur der Arbeiterklasse oder sein Einsatz für verfolgte Schriftsteller als Präsidiumsmitglied und als Generalsekretär des deutschen Schriftstellerverbandes PEN speisen sich aus diesen Erfahrungen. Ebenso wie seine Auffassung vom Religionsunterricht als Raum für die Vermittlung von Werten »wie Wahrhaftigkeit, Ehrlichkeit, besonders auch Nächstenliebe, die gerade jenem zusteht, der in Not ist, zum Beispiel einem Flüchtling«.
In den 80er Jahren begann Heinrich mit dem Schreiben. Er wollte nicht nur Literatur vermitteln, er wollte selbst Schriftsteller werden. Im Laufe der Jahrzehnte entstand ein vielfältiges und vielschichtiges Werk. Heinrich schrieb Gedichte, Romane und Erzählungen. Über das Ruhrgebiet, die Arbeitswelt oder über seine Leidenschaft, den Fußball. Über China, wohin er häufig gereist ist. Über Fremdheit, Heimat und Annäherung, Über seine Kindheitserinnerungen und zu den Fragen der Gegenwart, zuletzt über das Leben während der Pandemie. Er veröffentlichte zwei Krimireihen rund um den Dortmunder Kommissar Anselm Becker und den pensionierten Ermittler Bernhard Völkel: ein Mann mit Bodenhaftung und einem klaren Gefühl für das Richtige und das Falsche jenseits von Gesetzestexten. Und fast immer sind Heinrichs Kriminalgeschichten nur die Verpackung für ein großes gesellschaftliches Thema: RAF und Deutscher Herbst, Neonazis und neue Rechte, Armut und Obdachlosigkeit. Heinrichs Kinderbücher stehen in meiner Kinderbuchsammlung. Nach der Nachricht von Heinrichs Tod habe ich sie alle hervorgeholt. Beim Blättern durch »Tim und Anna fahren ein« brauchte ich eine größere Menge von Taschentüchern. So warmherzig und plastisch, wie in diesem Buch, hat Heinrich einst auch mir, der frischgebackenen Abiturientin, die Welt des Bergbaus erklärt.
Heinrichs Resonanzraum war das Ruhrgebiet. Dort wollte er sein, dort wollte er bleiben. Heinrich fuhr gerne in die Welt, zum Beispiel als Dozent für deutsche Literatur nach Shanghai oder Xi’an. Aber er kam auch gerne wieder zurück in seine Heimat. In sein literarisches und politisches Geburtshaus. Das Ruhrgebiet prägte Heinrich und seinen Wertekatalog. Im Ruhrgebiet entstand seine Literatur, gemeinsam mit anderen Ruhrgebietsschriftstellern machte er die Literatur des Ruhrgebietes sichtbar – und hierher, in die vermeintliche Provinz, holte er die Literatur: Mit seinem Freund Bernhard Büscher organisierte er in Kamen Lesungen mit Autoren des PEN und mit den Stipendiaten des »Writers-in-Exile«-Programms: Schriftsteller aus Syrien, Eritrea, Russland oder dem Irak stellten ihre Bücher in Kamen vor. Sowieso war Heinrich das »Writers-in-Exile«-Programm des PEN für Schriftsteller, die ins Exil flüchten müssen, ein besonderes Anliegen. Heinrich sorgte in Kamen für zwei Wohnungen, in denen seither PEN-Stipendiaten untergebracht werden können.
Statt in die große weite Welt auszuwandern, statt der angeblichen kulturellen Überlegenheit der Metropolen hinterherzurennen, holte sich Heinrich die Welt lieber in seinen Garten. Und machte Kamen so zu einer kleinen Hauptstadt der Kultur. Heinrich wusste, dass Kultur nicht ohne Traditionen auskommt, nicht ohne Austausch und Gespräch, nicht ohne Solidarität. In dieser Hinsicht blieb Heinrich immer eigensinnig. Er verweigerte sich dekadenten Diskussionen über intellektuelle Scheinprobleme. Und schrieb lieber das nächste Buch, die nächste Geschichte aus dem Leben der Menschen. Mal spielerisch wie in seinen Krimis oder Kinderbüchern, mal ernst und erschütternd wie zum Beispiel in seinem Buch »Gefährliches Spiel. Fußball um Leben und Tod«, eine Geschichte von zwei Fußballspielern, die sich bei einem Länderspiel 1953 in der Sowjetunion wiederbegegnen. Der eine war bei der SS und KZ-Kommandant, der andere war in eben diesem KZ inhaftiert. Es beginnt ein beinah unglaubliches Gespräch.
Ob Krimi, Roman oder Kinderbuch – Heinrichs Interesse galt beständig den Begegnungen und Beziehungen zwischen Menschen aus unterschiedlichen Lebenswelten. In seinen Alltagsbeobachtungen spiegeln sich die Fragen der Zeit, der Zeitgeschichte. Und in den Gesprächen mit Heinrich spürte man, dass Literatur, Religion und Geschichte für Heinrich nicht nur Studien- oder Lehrfächer, sondern Lebensthemen waren. Heinrich hat übrigens immer verstanden, warum ich viele Jahre mit Leib und Seele Lokalredakteurin war. Wegen der Nähe zu den Menschen und wegen der Möglichkeit, in einem überschaubaren Bereich die großen Themen und Fragen der Gesellschaft und unserer Zukunft zu spiegeln und zu verhandeln.
Heinrich ist tot. Welche Traurigkeit. Und er wird nicht nur seinen Freunden fehlen. Sein Tod reißt eine Lücke in die sowieso nur dünn besetzten Reihen jener, die im Kultur- und Politikbetrieb fürs Zuhören und für Gespräche, für Solidarität auch mit Andersdenkenden, für Respekt und – ja – Anstand einstehen. »Wer imponiert?«, fragte Wilhelm Raabe: »Nur welcher ruhig seinen Weg geht.«
Wilhelm Raabe gilt übrigens als Vertreter des poetischen Realismus. Für mich steht Heinrich in genau dieser Tradition. »Poetischer Realismus« ist eine schöne Überschrift für Heinrichs Werk. Und für sein ganzes Wesen.