Der schwer verwundete Kriegsheimkehr Kurt Mühlenhaupt verdiente sich nach missglücktem Start an der Westberliner Hochschule der Künste in den 1950er Jahren sein Geld als Kartoffelschalenbimmler, Leierkastenmann, Trödler und auch als Kneipenwirt in Berlin-Kreuzberg. Daneben aber malte er wie besessen weiter, Bilder unverfälschter Ursprünglichkeit und Melancholie, Porträts seiner Freunde und Nachbarn, seine Kundschaft, das Stammpublikum seiner Kneipe »Der Leierkasten«, Passanten oder spielende Kinder auf der Straße. »Bei mir sind die krummen Beine schön, die abstehende Ohren und die lange Nase«, sagte damals der 80jährige Maler mit dem roten Filzhut und der cremefarbenen Jacke, und die Liebe zu seinen Mitmenschen stand ihm dabei richtig ins Gesicht geschrieben. »Der andere – das bin ich auch.« Jeder Betrachter wird etwas von seiner eigenen Sehnsucht in den Porträtierten wiederfinden.
Die Menschenbilder sind dann bald in Stadtlandschaften übergegangen, meist Draufsichten auf Häuserfluchten, Straßenschluchten, freie Plätze, Hinterhöfe, Kneipen, Fabrikgebäude, Brücken, Kirchen. Die spontan wirkenden Szenarien hat er durch Zeichnungen vorbereitet und zu ausgeklügelten Kompositionen ausgearbeitet. Hervorragend kann man mit den Bildern dieses »poetischen Realisten« das Soziotop Westberlin in den Mauerjahren erklären. Schon vor dem Mauerfall war er zu Freunden in die Mark Brandenburg gereist, aber seit 1994 lebte er nun im märkischen Bergsdorf, hatte den Gutshof vor dem Verfall gerettet und ihn zusammen mit seiner Frau Hannelore zu seinem Musenhof – Atelier, Künstler und Museum – umgebaut. Die Landschaften zwischen Spree, Havel und Oder hat er mit dichtem und bewegtem Pinselstrich zu malen begonnen. »Sehnsüchtige Mittelstücke zwischen Himmel und Erde« – dieses Wort von Ernst Barlach fällt einem ein beim Betrachten dieser Bilder, man wird hineingezogen in die nur hier erlebbare Stimmung der Wiesen und Auen, der alten Herren- und Bauernhäuser, der fernen Horizonte, in den Nebel, der über Neuholland liegt, die Schneeschmelze im Rhin-Luch, den Herbstwald vor Bergsdorf, das Unwetter, das über der Uckermark tobt. Man glaubt, das Wehen des Grases, das Rauschen der Bäume zu hören. Jedes Bild vermag so ein Fenster in die märkische Urlandschaft zu öffnen.
In den letzten Lebensjahren – der Künstler starb 2006 – konnte er nicht mehr richtig sehen (er war zuletzt fast erblindet), die Formate seiner Bilder wurden größer, Details anzubringen, fiel ihm jetzt schwer. Seine Landschaften wurden nicht mehr in Wasserfarben oder Pastellkreide, sondern ausschließlich in Ölfarben wiedergegeben, die er nun wie Wasserfarben benutzte, wodurch die Farben wie durchsichtige Schleier zu schweben beginnen.
2019 gab Hannelore Mühlenhaupt den Künstler-Gutshof in Bergsdorf auf, den sie zu einem kulturellen Zentrum in der Uckermark entwickelt hatte, und richtete in den Höfen einer ehemaligen Brauerei ihr Museum wieder in Berlin-Kreuzberg ein, das immer der »Sehnsuchtsort« ihres »Kurtchen« geblieben war. Mit ihrem Team stellt sie jetzt zwei Sonderausstellungen vor: »Nachbarschaft« und »Mühlenhaupts Welt der kleinen Leute«.
Es sind Kurt Mühlenhaupts Bilder von Kreuzberg, seiner Menschen, der ihm vertrauten Stadtmotive von den Yorkbrücken über den Chamissoplatz bis zum Südstern. Das war sein »Milljöh«, und als Milieu-Maler ist er oft mit Zille und Nagel verglichen worden. Als »Maler mit Herz« verewigte er die einfachen Leute, Menschen von nebenan, aus dem Kiez, Einsame, Hausfrauen, Straßenfeger, Kellner und Bettler, Hochzeitsgesellschaften, spielende Kinder. Es gibt wenig konkrete Porträts, die meisten Dargestellten sind mehr Typen, aber doch mit einem einprägsamen Profil. Viele Figuren sind unbeholfen, korpulent, in ungelenker Bewegung dargestellt, ihres Seins unsicher, sie schauen uns fragend an – aber sie werden nicht vorgeführt, die liebenswürdige Komik ist nicht verletzend, sondern wir knüpfen gleich eine Beziehung zu ihnen, entdecken in ihnen unsere eigenen Ungeschicklichkeiten, Schwächen, auch Sehnsüchte und Hoffnungen.
»Die Straße war meine Schule«, hat der Maler gesagt, und so sind auch Hinterhöfe und Kirchen, Litfaßsäule und Pinkelbude Objekte seiner Ansichten. Sparsam ist er mit den Farben umgegangen, ihre Skala bleibt weitgehend monochrom, es gibt kaum Kontraste. Das typische »Mühlenhaupt-Grau« macht seine Arbeiten so unverwechselbar. Der Lichtschimmer, der über die Oberfläche spielt, ist mehr als nur ein optischer Effekt. Er ist zugleich ein kontrollierter Pulsschlag der Erregung. Ohne diese persönliche Note, ohne diesen rhythmischen Herzschlag würden seinen Bildern gerade diejenigen Eigenschaften fehlen, durch die sie uns anrühren.
Das Grauen, das Entsetzen, die Verzweiflung hat der Maler nie unmittelbar auszudrücken versucht wie etwa Ensor oder Munch. Ihm war ja im Gegenteil die Kunst gerade ein Mittel, sich vor den Mächten des Dunkels zu retten. Dennoch spricht aus den meisten seiner Bilder mitunter eine leise, fast träumerische Melancholie, mitunter auch – wie ein bedrückender Alp – menschliche Einsamkeit und Verlassenheit. Doch indem er die Trauer seines Herzens malte, umkleidete er sie mit dem Abglanz des Lichtes, hob er sie in die heilende Sphäre der Einkehr und Besinnlichkeit. Seine Malerei hat gewiss kaum Abstraktes; mehr als an den Geist wendet sie sich an die Augen und an das Herz. Sicher ist dies der beste, wenn auch nicht der einzige Weg zum Verständnis Mühlenhaupts: die Augen zu öffnen und zugleich auch das Herz.
In den erweiterten Räumen des Museums sind in Form einer Werkstatt die grafischen Arbeiten des Künstlers ausgestellt. Und – welch eine vielversprechende Idee! – hier lädt Hannelore Mühlenhaupt und ihr Team jeden Sonntag Familien mit ihren Kindern zur Anfertigung eigener Grafik ein. Wie wird ein solcher Druck-Workshop vor sich gehen? Zuerst werden sich die Kinder unter fachgerechter Anleitung an die Arbeit begeben, während die Erwachsenen noch etwas distanziert zuschauen. Dann könnten es wohl die Großeltern sein, die dem Beispiel ihrer Enkelkinder folgen – und schließlich würden sich dann auch die Eltern überzeugen lassen. So könnte eine vergnügliche, kreative Arbeitsatmosphäre entstehen, an der auch »Kurtchen« Mühlenhaupt seine helle Freude gehabt hätte.
Zwei Ausstellungen – »Nachbarschaft« und »Mühlenhaupts Welt der kleinen Leute« – im Kurt Mühlenhaupt Museum, Fidicinstr. 40, 10965 Berlin (Kreuzberg), Do-So 14-19 Uhr. Eintritt frei. Faltblatt.