Das lange Tauziehen um den Recovery Fund (RRF), der bedürftigen EU-Ländern 750 Mrd. Euro für den wirtschaftlichen Auf- und den ökologischen Umbau nach der Pandemie zur Verfügung stellen soll, setzt sich fort.
Am 21. Juli 2020 hatte Regierungschef Giuseppe Conte davon 209 Mrd. für das geplagte Italien sichern können, und seitdem hat die italienische Öffentlichkeit diesem Plan die mythische Aura eines neuen Marshall-Plans verliehen.
Was nicht ganz so laut gesagt wird, ist, dass sich die große Summe aufteilt in etwa 60 Prozent Neuverschuldung (127 Mrd.) und circa 40 Prozent (82 Mrd.) »verlorenen« Zuschuss, der aber gar nicht »verloren« ist, sondern aus einem von den Mitgliedstaaten selbst zu füllenden EU-Fonds finanziert werden soll. Geschenkt wird auch in Europa nichts. Italien ist bisher denn auch das einzige Land unter den sogenannten Großen der EU, das diesen Zuschuss in Anspruch nehmen will.
Die folgende ernüchternde Rechnung machten am 12. Februar die Ökonomen Emiliano Brancaccio und Riccardo Realfonzo in der Financial Times auf: Etwa die Hälfte des Zuschusses (ca. 40 Mrd.) muss Italien selbst in den Topf einzahlen, aus dem dann die Recovery-Gelder verteilt werden, nicht mitgerechnet sind weitere 20 Mrd., die Italien in den nächsten Jahren noch in den laufenden EU-Haushalt einzubringen hat. Damit reduziert sich de facto der Zuschuss auf 42 Mrd. – verteilt über sechs Jahre – also auf jährlich lediglich 7 Mrd. Euro für alle Neu-Investitionen, die den Um- und Neubau des italienischen Kapitalismus befördern sollen. Selbst wenn man die Zinsersparnis gegenüber einer Finanzierung auf dem Kapitalmarkt dazuzählt, bleibt es bei knapp 10 Mrd. pro Jahr. Kein wirklich großes Potential. Gut ein Drittel soll dem Umweltschutz zugutekommen, was allerdings mit der gleichzeitigen Forderung nach Fertigstellung vieler schon begonnener und umstrittener Großprojekte (Grandi Opere) kollidiert, die bisher gerade von Umweltschützern behindert wurden.
Bis zum 30. April muss der detaillierte Plan nun in Brüssel eingereicht werden, die neue Draghi-Regierung arbeitet mit Hochdruck an dem von der Conte-Regierung konzipierten Entwurf, und alle 27 Staaten müssen den RRF bis Juni von ihren Parlamenten ratifizieren lassen. Angesichts der aktuellen Impfstoff-Spannungen in der EU keine risikolose Hürde. Zunächst jedoch wird dieser Plan, ausgerichtet auf die Next Generation EU, also die bisher arg vernachlässigte Jugend, durch eine Sammel-Klage von 2.200 Deutschen unter Führung Bernhard Luckes beim Verfassungsgericht in Karlsruhe behindert. Diese richtet sich gegen den gesamten Haushaltsplan der EU von 2021-2027 über insgesamt 1.820 Mrd. Euro. Argumentiert wird noch einmal mit der vermeintlichen Grundgesetz-Widrigkeit einer gemeinsamen Schuldenaufnahme in der EU, gegen die AfD-Lucke schon vor Jahren anlässlich der Geldpolitik der EZB unter Mario Draghi vergeblich geklagt hatte. Finanzminister Scholz gibt sich entsprechend optimistisch, denn in Deutschland stünde eine breite Mehrheit der Parteien hinter dem Projekt eines »solidarischen Europas«. Europäische Abhängigkeiten seien gerade unter den Pandemiebedingungen deutlich ins Bewusstsein getreten, schließlich hängen ja die Lieferketten der deutschen Industrie von einer breiten wirtschaftlichen Zusammenarbeit z. B. mit Norditalien ab.
Die in Karlsruhe ausstehende Entscheidung wird auch indirekt Draghis altes Projekt aus seiner Frankfurter Zeit beeinflussen, das einer breiteren Schuldenverteilung, letztlich im Blick auf eine Fiskaleinheit der EU, nach US-Modell näherkommen möchte. Die Rede ist offiziell von möglichen safe assets, gemeinschaftlich garantierten Staatstiteln, als Grundlage für eine stärkere wirtschaftliche (und letztlich politische) Einigung Europas. Nur durch eine solche Stärkung könne die EU langfristig auf dem Weltmarkt bestehen, meint Draghi. Denn er weiß ja nur zu gut, dass seine bisherige Geldpolitik des Quantitative Easing zwar die Euro-Währung nach der Krise von 2008 stabilisiert hat, er kennt aber auch deren verheerende wirtschaftliche Folgen, bei denen nur ein geringer Teil der Euroflut in neue Industrie-Investitionen geflossen ist. Das hatte gerade in Italien nicht nur die Wirtschaft, sondern die ganze Gesellschaft schon lange vor Corona geschwächt und es ihr in der Pandemie besonders schwer gemacht. Allein die in 2020 aufgebrachten Covid-19-Hilfen, von denen nur 30 Prozent an die Menschen gingen und 70 Prozent an die Industrie, haben die italienische Staatsschuld um mehr als 160 Mrd. weiter erhöht.
Alle Brüsseler Diskussionen der letzten Monate haben verdeutlicht, dass auch die Pfeiler des Maastricht-Systems durch die Folgen dieser Pandemie ins Wanken geraten sind. Die Austeritäts-Normen des ESM werden durch den noch zu verwirklichenden Recovery Fund zwar außer Kraft gesetzt – aber nur auf Zeit, bis Ende 2022, wie Ursula von der Leyen immer wieder betont. Danach sollen wieder die alten Mechanismen greifen. Dagegen wird von Draghi und Macron zumindest erwogen, die als Dogma behandelten, aber seit langem umstrittenen Zahlen-Parameter in Zukunft zu verändern. Denn in Frage steht, ob nach 2022 überhaupt so weiter gemacht werden kann wie bisher.
Die sehr unterschiedlichen ökonomischen Interessen der in der EU vereinten Nationen führen zum Widerstand der Stärkeren gegen die oben genannten Vorstöße: Deutschland und seine rigoristischen Mitstreiter fürchten, grundlegende Veränderungen könnten die EU-Büchse der Pandora öffnen – was allerdings gerade die Chance für eine zukunftsträchtigere Neuordnung bieten könnte. Draghi sprach beim internationalen think tank G 30, im Dezember 2020, über die ökonomischen Folgen der Pandemie vom »Eintritt in eine neue Ära, in der Entscheidungen nötig sind, die unsere Ökonomie grundlegend verändern könnten«. Fragt sich nur in welche Richtung. Soll die bisherige Ausrichtung verschärft werden, bei der allein Wirtschaftsinteressen im Fokus stehen, oder sollen endlich die Interessen der Mehrheit der Bevölkerung bestimmend werden?
In diese Richtung bewegt sich der in Frankreich von Thomas Piketty initiierte Appell an die EZB, der von über 100 Wirtschaftswissenschaftlern unterzeichnet wurde und inzwischen in Europa zirkuliert (in Deutschland von Attac und RosaLux unterstützt). Es ist ein offenes Geheimnis, dass die durch die Pandemie noch weiter erhöhte EU-Staatsverschuldung bei der EZB in Zukunft nicht zurückgezahlt werden kann – die entsprechenden Staatstitel sind also de facto wertlos. Der Appell fordert die Zentralbank dazu auf, zumindest die von den Staaten der EU zur Covid-19-Bekämpfung aufgenommenen Schulden ruhen zu lassen oder schlicht zu streichen und die dadurch eingesparten Zinsen in den dringenden sozialen und ökologischen Umbau Europas zu stecken. Es geht dabei inzwischen um rund 2.500 Milliarden Euro, die in nicht rückzahlbaren Titeln der Mitgliedsstaaten stecken und zu einem beträchtlichern Teil den Bürgern Europas direkt gehören, Als kürzlich der Präsident des EU-Parlaments, Davide Sassoli, einen Vorschlag in solche Richtung machte, wurde das von Berlin und Brüssel sofort wieder abgeschmettert mit dem Hinweis, so etwas widerspräche den EU-Verträgen. Aber ein Schuldenschnitt ist nirgends expressis verbis verboten – schließlich war auch Mario Draghis wundersame Geldvermehrung nirgends vorgesehen, die bisher zumindest den Euro (und vor allem die Banken) gerettet hat, worüber sich alle einig sind.
Immerhin steht ein historisches Beispiel im Raum und im Bewusstsein vieler Europäer: das des großen Schuldenschnitts in der jungen Bundesrepublik Deutschland. Der war 1953 politisch wie ökonomisch begründet, um die BRD in den atlantischen Aufschwung einzubeziehen, und legte dann das Fundament für eben die ökonomische Vormachtstellung, die Deutschland bis heute in Europa innehat. Unter Führung von Hitlers Helfer Hermann Josef Abs erlangten die Westdeutschen damals in London von den Westmächten den Erlass von weit mehr als der Hälfte ihrer immensen Auslandsschulden aus beiden Weltkriegen.
Dieses Beispiel zeigt, wie veränderte Bedingungen neue Erfordernisse schaffen und selbst unabänderlich Scheinendes in Frage stellen können. Immerhin hat die Covid-19-Pandemie die neoliberale Narration vom alles regelnden Markt für eine Mehrheit der Menschen spürbar zerstört und lässt die bisher verkündete Unveränderbarkeit von EU-Regeln als zunehmend obsolet erscheinen.
Mario Draghi hat mit zwei erklärten Vorhaben die Regierung übernommen: Italien so schnell wie möglich zu impfen und dann durch den RRF die Wirtschaft zu reformieren. Zur Beruhigung der Italiener verkündete er kürzlich, die neuen EU-Maßnahmen würden ihnen ja diesmal etwas geben und nicht nehmen, aber angesichts der großen Verwerfungen durch die Pandemie (Verlust fast einer halben Million Arbeitsplätze, überwiegend von Frauen, und Zunahme der Armen um eine Million Menschen) wird sich zeigen, ob nicht der Bevölkerung letztlich mehr Opfer (durch Schließung kleiner Betriebe und Geschäfte mit vielen neuen Arbeitslosen) abverlangt werden als durch die Sparprogramme der Vergangenheit. Schon bisher haben Frauen, Kinder und Alte wesentlich mehr unter den Corona-Maßnahmen gelitten als die Industrie, die fast ungedrosselt weiter in Betrieb war und ist, und deren Produktion im Januar 2021 nur um 2,4 Prozent geringer ausfiel als im Januar des Vorjahres. Damit sich der ökologische Umbau Europas mit einer neuen Rolle der Arbeit verbinden lässt, auch um die Gesellschaft zusammenzuhalten, werden neue Rechts- und Einkommensgarantien notwendig. Aber die wird es ohne soziale Mobilisierung vonseiten der Basis kaum geben.
Im kommenden Herbst, wenn sich herausstellen wird, dass das bisherige Volumen des RRF nicht reicht, um nachhaltige Veränderungen zu bewirken, werden die Mittelmeer-Länder (Italien, Spanien, Portugal, Griechenland und voraussichtlich auch Frankreich) wohl eine Aufstockung des RRF fordern. (vgl. La Repubblica, 26/3/21, S. 4) Ein weiteres Kräftemessen mit den Rigoristen Nordeuropas ist also vorprogrammiert.