Die Wegnahme des Grundstücks, das Philemon und Baucis bewohnen, wird in Goethes »Faust II« von Mephistopheles so kommentiert: »Auch hier geschieht, was längst geschah, / Denn Nabots Weinberg war schon da.« Angespielt wird auf die Geschichte im biblischen Buch der Könige, die den Raub von Nabots Weinberg durch den König Ahab erzählt. Darauf kommt Pfarrer Martin Weskott zu sprechen, als wir zu Ossietzky 21/2024 telefonieren (siehe dort »Gemälde«). Ihm, der sich mit Bücherrettung bestens auskennt, lässt ein schweizerisches Gruselspiel keine Ruhe:
Es ist die Geschichte des »Büchermüllers« Peter W. Imhof, den er auf mancherlei Weise, mit Beratung, Beistand und tätiger Hilfe, zu unterstützen sucht. Wie wird man Büchermüller? Peter W. Imhof, 75 Jahre alt, Rentner, das heißt, dass er von seiner Rente leben muss, hat eine Mühle, 1921 erbaut mit einer wunderschönen Holzkonstruktion in Zollbrück Neumühle bei Langnau im Kanton Bern, 2013 in Miete übernommen. Ein kulturell-ästhetisches Gesamtkunstwerk, einmalig in Europa. Der Mietzins beträgt 15 000 Schweizer Franken im Jahr, die kann er gerade mit dem Bücherverkauf aufbringen. Im Mühlengebäude hat er ein Antiquariat eingerichtet, das zum Kulturzentrum heranwuchs, von wenigstens nationaler Bedeutung. Es beherbergt ca. eine halbe Million Bücher zu allen möglichen Wissens-, Sach- und Kulturgebieten. 146 Tonnen bedrucktes Papier sollen es sein.
Unter den vielen Büchern befinden sich wertvolle Helvetica, wozu man wohl auch die zahlreichen Bücher des Schweizer Schriftstellers und Pfarrers Jeremias Gotthelf rechnen darf. Dass der Kanton Bern das Jeremias-Gotthelf-Land ist, mit dem Gotthelf-Zentrum Emmental in Lützelflüh, muss erwähnt werden, denn diese Tatsache macht das Skandalöse dessen deutlich, was Peter W. Imhof widerfährt. Ihm wurde von der »Landi«, einer ehemaligen landwirtschaftlichen Genossenschaft, der Mietvertrag gekündigt. Wenig später wurde die Immobilie an eine Immobilien-AG veräußert. So sollte Imhof bereits Ende November 2024 die Immobilie räumen, nun hat eine Mediation in Burgdorf ihm eine Frist von einem halben Jahr gewährt. Von »Schonfrist« spricht man besser nicht, denn Peter W. Imhof machen die Leiden des Alters zu schaffen, das Tragen schwerer Lasten fällt ihm nicht leicht.
In der biblischen Geschichte will König Ahab einen Kohlgarten aus Nabots Weinberg machen. Das hat die Agrargenossenschaft »Landi«, inzwischen unter dem Dach des Agrarkonzerns »Fenaco«, die dem heutigen Büchermüller einst das Gebäude zur Miete anbot, nicht vor. Ganz zeitgemäß und profitträchtig will der Käufer, die Immobilien-AG, zehn Wohnungen daraus machen.
Ein Mensch, der gewiss einen Orden (oder ein Lob des Gemeinwesens) verdient hätte, verliert durch den Verkauf sein Lebenswerk, sein Gesamtkunstwerk. Nicht nur er, sondern die gesamte Region Emmental und darüber hinaus. Papiergeldrascheln klingt vielleicht angenehmer in den Ohren als Buchseitenknistern.
Freilich gibt es auch Unterstützung und Zuwendung für den Büchermüller: Presseberichte, eine Fernsehsendung, viele Besucher, Vorschläge zum Marketing, ein Hotel, das Taschenbücher aufkauft, die es in Gästezimmern anbieten will. Aber natürlich genügt das nicht, Verkauf ist das eine, der Erhalt der Institution das andere.
Peter W. Imhof hat einen großen Teil, etwa vierhundert- bis fünfhunderttausend Bücher registriert, und was vielleicht auf den ersten Blick überwältigend wirkt, ist nicht chaotisch, sondern wohlgeordnet. Dieses Haus ist eine Einladung, ein einzigartiges Gesamtkunstwerk, das man nicht einfach duplizieren kann. Vielleicht sollten sich neben Mäzenen, Bücherliebhabern und Kirchgemeinden auch die Schweizer Schriftsteller und Schriftstellerinnen und ihre Verbände einladen lassen, zum beherzten Eingreifen. Ein anderer beseelter Büchersammler, Peter Sodann nämlich, warf mir einmal am Telefon vor, die Schriftsteller täten leider gar nichts, um ihn zu unterstützen. Ich habe ihn damals nicht verstanden, sondern hörte eine Augenblicksverärgerung heraus. Die Geschichte der Zollbrücker Büchermühle, mir von Martin Weskott vermittelt, erinnerte mich daran, dass Sodann recht hatte.
Nabot erwidert auf die »Räumungsfrage« König Ahabs: »Das lasse der HERR von mir sein, dass ich dir meiner Väter Erbe geben sollte!« Hoffen wir, dass auch das geistige Erbe, dessen Vernichtung für Profit in Kauf genommen wird, nicht in die Hände derer fällt, die alles haben wollen. Es geht um die Bewahrung eines Schatzes, die Abteilung über Jeremias Gotthelf ist nach Meinung Martin Weskotts so gut und umfangreich, dass sich die Verantwortlichen des Gotthelf-Zentrums in Lützelflüh und die Kirchen als Institutionen darum kümmern müssten.
Tätige Hilfe ist gefragt, die Zeit drängt. Am besten wäre es natürlich, die Büchermühle bliebe an ihrem Ort. Aber dieser Wunsch wird wohl nur mit einem Wunder in Erfüllung gehen können. Und wenn Peter W. Imhof einen anderen Standort findet: 1000 m2 müssten es schon sein, um alles unterzubringen, und es wären tonnenweise Bücher zu bewegen. Vielleicht lassen sich vorher noch einige an die Frau, an den Mann bringen. Unter www.buechermuehle.ch findet man alle nötigen Informationen, auch eine Bücherliste. Man hat keinen »Haufen« oder »Moloch« vor sich, sondern kann in wenigen Minuten entdecken, was man sucht, natürlich auch immer etwas mehr als das Gesuchte.
Ein wenig Zeit bleibt noch, um zu verhindern, dass wieder gesagt werden muss: »Denn Nabots Weinberg war schon da.« In einer Schweiz, die auch durch die legendäre Sekundärökonomie ihrer Brockenstuben (Brockis) über die Grenzen hinaus bekannt ist, wäre die Pflege der Tradition »Weitergeben ist mehr wert« etwas Wesentliches, denn der Mensch lebt nicht vom Brot allein.