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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Mythische Figur – Marianne Faithfull

Sie war die Muse und Gelieb­te von Rol­ling Stone Mick Jag­ger, Femme Fata­le der Swin­ging Six­ties in Lon­don, spä­ter obdach­lo­se Hero­in-Süch­ti­ge und schließ­lich jahr­zehn­te­lang Chan­teu­se mit – durch Alko­hol und Dro­gen – völ­lig ver­än­der­ter Stim­me. Und wur­de zu einer Art mythi­schen Figur. Immer­hin hat sie mehr als 20 Alben ver­öf­fent­licht, aber gleich­zei­tig die bit­te­ren Sei­ten des Lebens erfah­ren wie weni­ge: eine Fehl­ge­burt, den Ver­lust des Sor­ge­rechts ihres ein­zi­gen Kin­des, Selbst­mord­ver­su­che, meh­re­re Auf­ent­hal­te in Reha-Kli­ni­ken. Am 30. Janu­ar ist Mari­an­ne Faithfull mit 78 Jah­ren in Lon­don gestorben.

Vor allem ihr Ein­fluss auf Mick Jag­ger und die Rol­ling Stones steht immer wie­der im Schein­wer­fer­licht – was sie natür­lich nicht immer erfreu­te. So hat sie Jag­ger mit dem Buch »Der Mei­ster und Mar­ga­ri­ta« von Michail Bul­ga­kow bekannt gemacht, was zu dem Stones-Erfolgs-Song »Sym­pa­thy for the Devil« führ­te. Von ihr stammt die Phra­se »Wild hor­ses couldn’t drag me away«, spä­ter ver­wen­det in dem wun­der­ba­ren coun­try­es­ken Stones-Song »Wild Hor­ses«. Und auch den Text zur Fixer­bal­la­de »Sister Mor­phi­ne« hat sie geschrie­ben und den Song selbst ver­öf­fent­licht, zwei Jah­re vor den Rol­ling Stones auf deren Album »Sticky Fin­gers« (1971). Den Autoren­kre­dit bekam sie aller­dings erst 1994 nach lan­gem Kampf vor Gericht.

Aber Faithfull hat­te auch eine Kar­rie­re als Schau­spie­le­rin im Thea­ter, TV und Film von Tschechow bis Shake­speare. Nur zwei Bei­spie­le: 1968 spiel­te sie in »Nackt unter Leder« an der Sei­te von Alain Delon, ein Film, der aller­dings von Kri­ti­kern ver­ris­sen wur­de. Und 2007 gab sie eine Pro­sti­tu­ier­te in dem fran­zö­si­schen Film »Iri­na Palm«, wofür sie auf der Ber­li­na­le in Ber­lin gefei­ert wurde.

Gebo­ren wur­de Mari­an­ne Faithfull am 29. Dezem­ber 1946 in Lon­don als Toch­ter eines hohen Offi­ziers der bri­ti­schen Armee und Lite­ra­tur-Pro­fes­sors an der Uni­ver­si­ty of Lon­don und einer Wie­ner Baro­nin und Ex-Bal­lett-Tän­ze­rin, Eva von Sacher-Masoch, Nach­fah­rin des Schrift­stel­lers Leo­pold von Sacher-Masoch (nach­dem der Begriff Maso­chis­mus benannt ist). Statt auf die Hoch­schu­le zu gehen, sang Faithfull lie­ber in Lon­do­ner Kaf­fee­häu­sern Folk-Songs. Von ihrer Schön­heit beein­druckt ließ der Mana­ger der Rol­ling Stones‚ Andrew Loog Old­ham, die 17jährige 1964 den Rol­ling Stones-Song »As Tears Go By« sin­gen. Es war das erste von Jag­ger und Richards ver­fass­te Lied und wur­de mit ihr ein Top-Ten-Hit in Groß­bri­tan­ni­en. Drei wei­te­re Top-Ten-Hits folg­ten im fol­gen­den Jahr. So wie auch zwei am glei­chen Tag ver­öf­fent­lich­te Alben, eins mit Pop, das ande­re mit Folk-Songs, bei­de aber von eher gemisch­ter Qua­li­tät. Dafür aber wur­den Faithfull und Mick Jag­ger eines der gla­mou­rö­se­sten Paa­re in Lon­don. Sie brach­te ihm bei, was sie über Lite­ra­tur und Kunst wuss­te, und er lehr­te sie Musik­ge­schich­te. Bei einer Dro­gen-Raz­zia 1967 ver­haf­te­te die Poli­zei Jag­ger und Richards und fand Faithfull nackt in einem Pelz vor, was dann durch alle Zei­tun­gen ging: »Das hat mich ver­nich­tet«, sag­te sie spä­ter einem Maga­zin (wäh­rend Jag­ger und Richards – als Män­ner – eher gestärkt aus der Sache her­vor­gin­gen). Zwei Jah­re spä­ter nahm sie wäh­rend eines Flu­ges nach Austra­li­en 100 Pil­len eines Bar­bi­tu­rats ein und fiel für sechs Tage ins Koma. Die Bezie­hung zu Jag­ger war damit been­det: »Ich woll­te raus aus die­ser Welt«, so Faithfull. »Es ist eine gro­ße Ehre eine Muse zu sein, aber das ist ein sehr schwe­rer Job.« Doch sie kam vom Regen in die Trau­fe: Für eine län­ge­re Zeit leb­te sie als Hero­in­ab­hän­gi­ge obdach­los in Lon­don. Ein neu­es Album 1976 schaff­te es immer­hin auf die Eins in Irland (wo sie bald eini­ge Jah­re leben soll­te). Doch den gro­ßen Durch­bruch brach­te 1979 das Album »Bro­ken Eng­lish«, »eine hip­pe Ant­wort auf Lot­te Lenya oder eine pun­ki­ge Mar­le­ne Diet­rich«, wie die New York Times schrieb. Das Album wur­de nicht nur von den Kri­ti­kern gefei­ert, son­dern ver­kauf­te sich auch gut – Pla­tin-Sta­tus in Eng­land – und erhielt eine Gram­my-Nomi­nie­rung (auf dem Album befin­det sich auch der lin­ke John-Len­non-Song »Working Class Hero«). Wei­te­re Alben folg­ten, dar­un­ter »20Th Cen­tu­ry Blues« mit Songs aus der deut­schen Wei­mar-Zeit und »The Seven Dead­ly Sins« mit Ber­tolt-Brecht- und Kurt-Weill-Lie­dern. In den Nuller Jah­ren arbei­te­te sie auf zwei Alben mit jün­ge­ren Musi­kern zusam­men, die sie ver­ehr­ten, dar­un­ter Damon Albarn von Blur, Beck, Nick Cave, Jar­vis Cocker von Pulp, Bil­ly Cor­gan von The Smas­hing Pump­kins, PJ Har­vey und Dave Ste­wart von The Euryth­mics. Ihr letz­tes Album ver­öf­fent­licht sie 2021: »She Walks in Beau­ty« war eine Kol­la­bo­ra­ti­on mit dem austra­li­schen Kom­po­ni­sten und Mul­ti-Instru­men­ta­li­sten War­ren Ellis. Die­ser erklär­te über Faithfull: »Sie hat ihr Leben selbst in die Hand genom­men.« Viel­leicht soll­te das auf ihrem Grab­stein stehen.