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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Mumia Abu-Jamal: Haltet euer Herz lebendig

Ab und zu hört man, dass die Justiz der USA vor lan­gen Jah­ren gefäll­te Urtei­le über­prüft, revi­diert und Gefan­ge­ne in die Frei­heit ent­lässt. Mumia Abu Jamal, der 1981 wegen angeb­li­chem Poli­zi­sten­mord zum Tode ver­ur­teilt wur­de, ist eine Neu­auf­la­ge des Pro­zes­ses unter faden­schei­ni­gen Begrün­dun­gen immer wie­der ver­wehrt wor­den – zuletzt am 26. Okto­ber 2022. Seit lan­gem lie­gen Bewei­se vor, dass die Spu­ren­si­che­rung der Poli­zei gefälscht war, dass der Staats­an­walt die Aus­wahl der Jury­mit­glie­der ras­si­stisch mani­pu­liert hat­te. Und es liegt sogar ein Schrei­ben eines angeb­li­chen Zeu­gen vor, aus dem her­vor­geht, dass ihm für sei­ne Aus­sa­ge Geld ver­spro­chen wor­den war. All dies hat nur dazu geführt, dass das Todes­ur­teil 2001 in lebens­lan­ge Haft­stra­fe umge­wan­delt wurde.

Der tie­fe­re Grund dafür ist, dass es sich bei Abu-Jamal um einen poli­ti­schen Gefan­ge­nen han­delt. Seit sei­nem 15. Lebens­jahr wur­de er vom FBI beob­ach­tet. Schon vor sei­ner Ver­haf­tung galt der Jour­na­list als gefähr­li­cher system­kri­ti­scher Intel­lek­tu­el­ler mit erheb­li­chem Mobi­li­sie­rungs­po­ten­ti­al. Hat­te er doch als cha­ris­ma­ti­scher Radio­re­por­ter die staat­li­che Gewalt gegen die seit 1968 nach auto­no­men Exi­stenz­for­men leben­de Move-Kom­mu­ne in Phil­adel­phia gegei­ßelt, deren Häu­ser­blocks im August 1978 von der Poli­zei ange­grif­fen und schließ­lich bom­bar­diert wurden.

Selbst im Todes­trakt und als lebens­läng­li­cher Häft­ling ent­wickel­te sich Abu-Jamal stän­dig wei­ter. Er hör­te nie auf, sich wei­ter­zu­bil­den, schreibt bis heu­te Arti­kel, Bücher und sogar eine Dok­tor­ar­beit. Über ein Gefäng­nis­ra­dio kann er sich hin und wie­der mit­tels sei­ner mit­rei­ßen­den Stim­me an die Öffent­lich­keit wen­den – stets poin­tiert und mit erstaun­lich viel­fäl­ti­gen The­men. Ein­dring­lich doku­men­tiert dies ein beim West­end Ver­lag publi­zier­ter Band, der die ver­schie­de­nen von Abu Jamal genutz­ten lite­ra­ri­schen Gen­res etwas zu beschei­den als »Essays« zusammenfasst.

Bevor Abu-Jamal den Her­gang um den Tod des Poli­zi­sten Dani­el Faul­k­ner aus sei­nem – in gro­ßen Medi­en nie dar­ge­stell­ten – Erle­ben schil­der­te, gab er in sei­nem ersten, in Phil­adel­phi­as Com­mu­ni­ty News­pa­per im Febru­ar 1982 ver­öf­fent­lich­ten Text aus dem Todes­trakt die um 6 Uhr mor­gens durch den Laut­spre­cher gebrüll­te Christ­mas-Bot­schaft wie­der: »Fro­he Weih­nach­ten für alle Gefan­ge­nen der Gefäng­nis­se in Phil­adel­phia. Wir hof­fen, dass dies die letz­ten Fest­ta­ge sind, die Sie mit uns ver­brin­gen.« Spä­ter schil­dert er immer wie­der, wie nicht nur Demü­ti­gun­gen, son­dern auch Schlä­ge, Iso­la­ti­ons­haft und vom System gedeck­te, weil nie geahn­de­te Fol­ter, Mit­häft­lin­ge in den Selbst­mord trie­ben. In dem per­fi­den – vor allem gegen eth­ni­sche Min­der­hei­ten gerich­te­ten Bestra­fungs­sy­stem – sei auch »Min­der­jäh­rig­keit kein mil­dern­der Umstand« – jeden­falls nicht, wenn es um ein schwar­zes Kind geht. Der elf­jäh­ri­ge Natha­ni­el Abra­ham war wegen »fahr­läs­si­ger Erschie­ßung eines Nach­barn« ange­klagt, und als er 1999 mit 13 vor Gericht stand, sei er nicht als zu ret­ten­des Kind behan­delt wor­den. Viel­mehr »mobi­li­sier­te der Staat sei­ne lebens­feind­li­chen Kräf­te, um Kapi­tal aus dem Fall zu schla­gen« und Kar­rie­ren von Poli­ti­kern und Juri­sten zu för­dern. Natha­ni­el »muss­te als dunk­les Sym­bol sozia­ler Ent­ar­tung her­hal­ten, bei dem wenig oder gar kei­ne Hoff­nung auf Sozia­li­sie­rung bestand«. Im besten Fall droh­ten dem Jun­gen zehn Jah­re Haft, im schlimm­sten »wird er für immer ein­ge­sperrt blei­ben, ein­ge­fro­ren in einem Block aus Zeit wie ein klei­nes Muse­ums­stück« (106 f.). Wenn es sich um Afro­ame­ri­ka­ner, indi­ge­ne Ame­ri­ka­ner oder asia­ti­sche Min­der­hei­ten han­de­le, gel­te ein Satz des Anwalts David Kairys von 1982: »Recht ist ganz ein­fach Poli­tik mit ande­ren Mit­teln« (S. 71).

Damit Häft­lin­ge Lebens­mut behal­ten, rät Abu-Jamal, Selbst­ach­tung und Selbst­lie­be zu bewah­ren. »Lebt jeden Tag, als wäre er das Ende der Zeit. Liebt mit aller Kraft. Lernt, so viel ihr könnt. Eine Spra­che. Eine Kunst. Eine Wis­sen­schaft. Hal­tet euren Ver­stand auf Trab. Hal­tet euer Herz leben­dig. Lacht!«

Ein wei­te­res gro­ßes Arbeits­ge­biet Abu-Jamals ist eine kri­ti­sche Rück­schau auf die Geschich­te der afro­ame­ri­ka­ni­schen Eman­zi­pa­ti­ons­be­we­gung, die nicht nur gro­ße Figu­ren und Licht­sei­ten hat. War es doch der erste schwar­ze Bür­ger­mei­ster Phil­adel­phi­as, der die Move-Häu­ser bom­bar­die­ren ließ, wäh­rend ihm selbst ein fürst­li­ches Palais gebaut wur­de. Unter­wer­fung unter das nach wie vor eth­nisch hier­ar­chi­sier­te System inter­pre­tiert Abu-Jamal als fort­wir­ken­des psy­cho­lo­gi­sches Erbe der Skla­ve­rei, das durch reli­giö­se Pre­dig­ten immer wie­der gestärkt wird auch, wenn das para­dox sein mag. Bür­ger­mei­ster Frank Riz­zo sei ein »Neo-Skla­ve«, der »sei­ne grau­sa­men Her­ren sehr gut nach­ge­ahmt« hät­te. Kön­ne »Chri­stus, der sich einst gegen das Römi­sche Reich erhob, für einen Mann wie ihn über­haupt Bedeu­tung haben?« Mar­tin Luther King wur­de »wegen sei­nes Pro­gramms der Gewalt­lo­sig­keit geprie­sen, aber Mal­colm X wur­de ermor­det, weil er mili­tan­ten Wider­stand ange­mahnt hat­te. Als Pastor King sich zum ent­schlos­se­nen Geg­ner des völ­ker­mör­de­ri­schen ame­ri­ka­ni­schen Krie­ges in Viet­nam ent­wickel­te, wur­de auch er im Hand­um­dre­hen getö­tet« (S. 65 f.).

Die lan­ge Haft­zeit, die Abu-Jamal absol­viert hat, wird dem Leser ver­deut­licht durch die »Essays«, die sich mit jeweils aktu­el­ler Poli­tik beschäf­tig­ten. Ein Text von 1985 erin­nert dar­an, dass Ronald Rea­gan beim Tref­fen mit Michail Gor­bat­schow nichts über man­geln­de Men­schen­rech­te in der UDSSR ver­lau­te­te, weil die sowje­ti­sche Nach­rich­ten­agen­tur TASS im Vor­feld berich­tet hat­te, dass gera­de über­le­ben­de Move-Mit­glie­der kol­lek­tiv zu hun­der­ten Jah­ren Gefäng­nis ver­ur­teilt wor­den waren (S. 58).

Ein fla­gran­tes Bei­spiel dop­pel­ter juri­sti­scher Stan­dards war 1989 die äußerst mil­de Bestra­fung von Colo­nel Oli­ver North, der mit unge­setz­li­chen Trans­ak­tio­nen von Mil­lio­nen Steu­er- und Dro­gen­gel­dern die Con­tra-Söld­ner in Nica­ra­gua finan­ziert hat­te. Er wur­de nur zu hun­dert Stun­den gemein­nüt­zi­ger Arbeit und drei Jah­ren Gefäng­nis auf Bewäh­rung ver­ur­teilt. Wenn jedoch ein gewöhn­li­cher Mann hun­dert Dol­lar steh­le, hei­ße es: »Abmarsch ins Gefängnis.«

Abu Jamal beschäf­tig­te sich auch mit den US-Ein­mi­schun­gen im Nahen Osten. Zum Ter­ri­to­ri­al­kon­flikt zwi­schen Palä­sti­nen­sern und Israe­lis schrieb er 2001, dass die Ara­ber, selbst wenn sie tau­send Jah­re und mehr dort leb­ten, als »genau das betrach­tet« wür­den, »als was die wei­ßen Sied­ler 1880 in Geor­gia die Che­ro­kee sahen: als überflüssig«.

2012 ver­setz­te er sich in die Sicht­wei­sen Rosa Luxem­burgs, um den Erfolg der Occu­py-Wall-Street-Bewe­gung zu bezwei­feln: Bis­lang sei es nur eine beein­drucken­de Stu­den­ten­be­we­gung: »Aber kön­nen sie auch durch­hal­ten? Kön­nen sie die Arbei­ter begei­stern? Die Leh­rer, die Händ­ler und Hand­wer­ker, die Post­ge­werk­schaf­ten, die Trans­port­ar­bei­ter?« Wenn das nicht ange­strebt wür­de und gelän­ge, könn­ten sie nicht »die Pro­duk­ti­on zum Still­stand brin­gen – und das ist alles, was die Wall Street – oder sämt­li­che Kapi­ta­li­sten – wirk­lich inter­es­siert« (S. 172 f.). Immer wie­der drückt Abu-Jamal die Befürch­tung aus, dass die jün­ge­ren Gene­ra­tio­nen zwar Wider­stand zu orga­ni­sie­ren ver­su­chen, es ihnen aber an histo­ri­schem Wis­sen und Bewusst­sein feh­le, das für erfolg­rei­ches poli­ti­sches Han­deln unab­ding­bar sei.

2013 zog er pes­si­mi­sti­sche Schluss­fol­ge­run­gen aus der Wie­der­wahl Barack Oba­mas, der zwar »ein wah­rer Mei­ster des poli­ti­schen Spiels« sei, da er sich gegen unge­heu­ren poli­ti­schen Wider­stand durch­ge­setzt habe. An der Lage der Afro­ame­ri­ka­ner habe er jedoch nichts geän­dert; die Bewer­tung ihrer Lebens­qua­li­tät ran­gie­re immer noch »ganz unten (…). Ein neu­er, dun­kel­häu­ti­ger Gefäng­nis­wär­ter ändert dar­an nichts.«

Anläss­lich der Anne­xi­on der Krim 2014 durch Russ­land, die bei ame­ri­ka­ni­schen Poli­ti­kern »Schnapp­at­mung« her­vor­ge­ru­fen habe, schreibt er, dass die USA sel­ber »durch gewal­ti­gen Land­raub an den soge­nann­ten India­nern und spä­ter den Mexi­ka­nern« ent­stan­den sei­en. Die Krim sei bereits 1783 von Russ­land annek­tiert wor­den und »blieb rus­sisch, bis sie 1954 an die Ukrai­ne abge­tre­ten wur­de. So gese­hen hat­te Russ­land eher einen Anspruch auf die Krim als die USA auf den Nord­we­sten Mexi­kos.« In den USA gel­te es als »ver­rückt«, Land an die ursprüng­li­chen Bewoh­ner zurück­zu­ge­ben. Kana­da habe immer­hin 1999 »einen rie­si­gen Land­strich sei­nes Ter­ri­to­ri­ums im Nord­we­sten abge­trennt und ihn den Nach­kom­men der indi­ge­nen Völ­ker, den Inu­it, überlassen«.

2019 warn­te er vor der Wahl Joseph Bidens, der bei vie­len Afro­ame­ri­ka­nern Sym­pa­thie genoss, weil er Oba­mas Vize gewe­sen war. Als lang­jäh­ri­ger Sena­tor von Dela­ware habe er jedoch an unzäh­li­gen reak­tio­nä­ren Gesetz­ge­bun­gen Anteil, z. B. an der gro­ßen Ver­meh­rung von Gefäng­nis­sen in die­sem Staat. Er habe ein Gesetz unter­stützt, das die Erlas­sung von Stu­di­en­schul­den ver­bot. 2003 habe er für den Irak­krieg votiert. Sei­ne Kar­rie­re sei »rand­voll mit Bei­spie­len für sei­nen Dienst an den Rei­chen und Mächtigen«.

Unmög­lich, auf alle The­men ein­zu­ge­hen, die Abu-Jamal mit schar­fem ana­ly­ti­schem Geist bear­bei­tet. Er schreibt selbst­ver­ständ­lich zu Black Lives Mat­ter, 2021 zum »wei­ßen Auf­stand im Zen­trum des Impe­ri­ums« gegen Capi­tol und Kon­gress. Er for­dert Frei­heit für Juli­an Assan­ge, ana­ly­siert neu­rech­te Bewe­gun­gen im Spie­gel des histo­ri­schen Faschis­mus und mahnt immer wie­der die Ret­tung einer für die mensch­li­che Gat­tung lebens­wer­ten Umwelt an.

 Mumia Abu-Jamal: Tex­te aus dem Todes­trakt. Essays eines poli­ti­schen Gefan­ge­nen in den USA, über­setzt von Micha­el Schiff­mann und Sté­pha­ne Fran­cin, West­end Ver­lag, Frank­furt 2023, 224 S., 25 €.