Ab und zu hört man, dass die Justiz der USA vor langen Jahren gefällte Urteile überprüft, revidiert und Gefangene in die Freiheit entlässt. Mumia Abu Jamal, der 1981 wegen angeblichem Polizistenmord zum Tode verurteilt wurde, ist eine Neuauflage des Prozesses unter fadenscheinigen Begründungen immer wieder verwehrt worden – zuletzt am 26. Oktober 2022. Seit langem liegen Beweise vor, dass die Spurensicherung der Polizei gefälscht war, dass der Staatsanwalt die Auswahl der Jurymitglieder rassistisch manipuliert hatte. Und es liegt sogar ein Schreiben eines angeblichen Zeugen vor, aus dem hervorgeht, dass ihm für seine Aussage Geld versprochen worden war. All dies hat nur dazu geführt, dass das Todesurteil 2001 in lebenslange Haftstrafe umgewandelt wurde.
Der tiefere Grund dafür ist, dass es sich bei Abu-Jamal um einen politischen Gefangenen handelt. Seit seinem 15. Lebensjahr wurde er vom FBI beobachtet. Schon vor seiner Verhaftung galt der Journalist als gefährlicher systemkritischer Intellektueller mit erheblichem Mobilisierungspotential. Hatte er doch als charismatischer Radioreporter die staatliche Gewalt gegen die seit 1968 nach autonomen Existenzformen lebende Move-Kommune in Philadelphia gegeißelt, deren Häuserblocks im August 1978 von der Polizei angegriffen und schließlich bombardiert wurden.
Selbst im Todestrakt und als lebenslänglicher Häftling entwickelte sich Abu-Jamal ständig weiter. Er hörte nie auf, sich weiterzubilden, schreibt bis heute Artikel, Bücher und sogar eine Doktorarbeit. Über ein Gefängnisradio kann er sich hin und wieder mittels seiner mitreißenden Stimme an die Öffentlichkeit wenden – stets pointiert und mit erstaunlich vielfältigen Themen. Eindringlich dokumentiert dies ein beim Westend Verlag publizierter Band, der die verschiedenen von Abu Jamal genutzten literarischen Genres etwas zu bescheiden als »Essays« zusammenfasst.
Bevor Abu-Jamal den Hergang um den Tod des Polizisten Daniel Faulkner aus seinem – in großen Medien nie dargestellten – Erleben schilderte, gab er in seinem ersten, in Philadelphias Community Newspaper im Februar 1982 veröffentlichten Text aus dem Todestrakt die um 6 Uhr morgens durch den Lautsprecher gebrüllte Christmas-Botschaft wieder: »Frohe Weihnachten für alle Gefangenen der Gefängnisse in Philadelphia. Wir hoffen, dass dies die letzten Festtage sind, die Sie mit uns verbringen.« Später schildert er immer wieder, wie nicht nur Demütigungen, sondern auch Schläge, Isolationshaft und vom System gedeckte, weil nie geahndete Folter, Mithäftlinge in den Selbstmord trieben. In dem perfiden – vor allem gegen ethnische Minderheiten gerichteten Bestrafungssystem – sei auch »Minderjährigkeit kein mildernder Umstand« – jedenfalls nicht, wenn es um ein schwarzes Kind geht. Der elfjährige Nathaniel Abraham war wegen »fahrlässiger Erschießung eines Nachbarn« angeklagt, und als er 1999 mit 13 vor Gericht stand, sei er nicht als zu rettendes Kind behandelt worden. Vielmehr »mobilisierte der Staat seine lebensfeindlichen Kräfte, um Kapital aus dem Fall zu schlagen« und Karrieren von Politikern und Juristen zu fördern. Nathaniel »musste als dunkles Symbol sozialer Entartung herhalten, bei dem wenig oder gar keine Hoffnung auf Sozialisierung bestand«. Im besten Fall drohten dem Jungen zehn Jahre Haft, im schlimmsten »wird er für immer eingesperrt bleiben, eingefroren in einem Block aus Zeit wie ein kleines Museumsstück« (106 f.). Wenn es sich um Afroamerikaner, indigene Amerikaner oder asiatische Minderheiten handele, gelte ein Satz des Anwalts David Kairys von 1982: »Recht ist ganz einfach Politik mit anderen Mitteln« (S. 71).
Damit Häftlinge Lebensmut behalten, rät Abu-Jamal, Selbstachtung und Selbstliebe zu bewahren. »Lebt jeden Tag, als wäre er das Ende der Zeit. Liebt mit aller Kraft. Lernt, so viel ihr könnt. Eine Sprache. Eine Kunst. Eine Wissenschaft. Haltet euren Verstand auf Trab. Haltet euer Herz lebendig. Lacht!«
Ein weiteres großes Arbeitsgebiet Abu-Jamals ist eine kritische Rückschau auf die Geschichte der afroamerikanischen Emanzipationsbewegung, die nicht nur große Figuren und Lichtseiten hat. War es doch der erste schwarze Bürgermeister Philadelphias, der die Move-Häuser bombardieren ließ, während ihm selbst ein fürstliches Palais gebaut wurde. Unterwerfung unter das nach wie vor ethnisch hierarchisierte System interpretiert Abu-Jamal als fortwirkendes psychologisches Erbe der Sklaverei, das durch religiöse Predigten immer wieder gestärkt wird auch, wenn das paradox sein mag. Bürgermeister Frank Rizzo sei ein »Neo-Sklave«, der »seine grausamen Herren sehr gut nachgeahmt« hätte. Könne »Christus, der sich einst gegen das Römische Reich erhob, für einen Mann wie ihn überhaupt Bedeutung haben?« Martin Luther King wurde »wegen seines Programms der Gewaltlosigkeit gepriesen, aber Malcolm X wurde ermordet, weil er militanten Widerstand angemahnt hatte. Als Pastor King sich zum entschlossenen Gegner des völkermörderischen amerikanischen Krieges in Vietnam entwickelte, wurde auch er im Handumdrehen getötet« (S. 65 f.).
Die lange Haftzeit, die Abu-Jamal absolviert hat, wird dem Leser verdeutlicht durch die »Essays«, die sich mit jeweils aktueller Politik beschäftigten. Ein Text von 1985 erinnert daran, dass Ronald Reagan beim Treffen mit Michail Gorbatschow nichts über mangelnde Menschenrechte in der UDSSR verlautete, weil die sowjetische Nachrichtenagentur TASS im Vorfeld berichtet hatte, dass gerade überlebende Move-Mitglieder kollektiv zu hunderten Jahren Gefängnis verurteilt worden waren (S. 58).
Ein flagrantes Beispiel doppelter juristischer Standards war 1989 die äußerst milde Bestrafung von Colonel Oliver North, der mit ungesetzlichen Transaktionen von Millionen Steuer- und Drogengeldern die Contra-Söldner in Nicaragua finanziert hatte. Er wurde nur zu hundert Stunden gemeinnütziger Arbeit und drei Jahren Gefängnis auf Bewährung verurteilt. Wenn jedoch ein gewöhnlicher Mann hundert Dollar stehle, heiße es: »Abmarsch ins Gefängnis.«
Abu Jamal beschäftigte sich auch mit den US-Einmischungen im Nahen Osten. Zum Territorialkonflikt zwischen Palästinensern und Israelis schrieb er 2001, dass die Araber, selbst wenn sie tausend Jahre und mehr dort lebten, als »genau das betrachtet« würden, »als was die weißen Siedler 1880 in Georgia die Cherokee sahen: als überflüssig«.
2012 versetzte er sich in die Sichtweisen Rosa Luxemburgs, um den Erfolg der Occupy-Wall-Street-Bewegung zu bezweifeln: Bislang sei es nur eine beeindruckende Studentenbewegung: »Aber können sie auch durchhalten? Können sie die Arbeiter begeistern? Die Lehrer, die Händler und Handwerker, die Postgewerkschaften, die Transportarbeiter?« Wenn das nicht angestrebt würde und gelänge, könnten sie nicht »die Produktion zum Stillstand bringen – und das ist alles, was die Wall Street – oder sämtliche Kapitalisten – wirklich interessiert« (S. 172 f.). Immer wieder drückt Abu-Jamal die Befürchtung aus, dass die jüngeren Generationen zwar Widerstand zu organisieren versuchen, es ihnen aber an historischem Wissen und Bewusstsein fehle, das für erfolgreiches politisches Handeln unabdingbar sei.
2013 zog er pessimistische Schlussfolgerungen aus der Wiederwahl Barack Obamas, der zwar »ein wahrer Meister des politischen Spiels« sei, da er sich gegen ungeheuren politischen Widerstand durchgesetzt habe. An der Lage der Afroamerikaner habe er jedoch nichts geändert; die Bewertung ihrer Lebensqualität rangiere immer noch »ganz unten (…). Ein neuer, dunkelhäutiger Gefängniswärter ändert daran nichts.«
Anlässlich der Annexion der Krim 2014 durch Russland, die bei amerikanischen Politikern »Schnappatmung« hervorgerufen habe, schreibt er, dass die USA selber »durch gewaltigen Landraub an den sogenannten Indianern und später den Mexikanern« entstanden seien. Die Krim sei bereits 1783 von Russland annektiert worden und »blieb russisch, bis sie 1954 an die Ukraine abgetreten wurde. So gesehen hatte Russland eher einen Anspruch auf die Krim als die USA auf den Nordwesten Mexikos.« In den USA gelte es als »verrückt«, Land an die ursprünglichen Bewohner zurückzugeben. Kanada habe immerhin 1999 »einen riesigen Landstrich seines Territoriums im Nordwesten abgetrennt und ihn den Nachkommen der indigenen Völker, den Inuit, überlassen«.
2019 warnte er vor der Wahl Joseph Bidens, der bei vielen Afroamerikanern Sympathie genoss, weil er Obamas Vize gewesen war. Als langjähriger Senator von Delaware habe er jedoch an unzähligen reaktionären Gesetzgebungen Anteil, z. B. an der großen Vermehrung von Gefängnissen in diesem Staat. Er habe ein Gesetz unterstützt, das die Erlassung von Studienschulden verbot. 2003 habe er für den Irakkrieg votiert. Seine Karriere sei »randvoll mit Beispielen für seinen Dienst an den Reichen und Mächtigen«.
Unmöglich, auf alle Themen einzugehen, die Abu-Jamal mit scharfem analytischem Geist bearbeitet. Er schreibt selbstverständlich zu Black Lives Matter, 2021 zum »weißen Aufstand im Zentrum des Imperiums« gegen Capitol und Kongress. Er fordert Freiheit für Julian Assange, analysiert neurechte Bewegungen im Spiegel des historischen Faschismus und mahnt immer wieder die Rettung einer für die menschliche Gattung lebenswerten Umwelt an.
Mumia Abu-Jamal: Texte aus dem Todestrakt. Essays eines politischen Gefangenen in den USA, übersetzt von Michael Schiffmann und Stéphane Francin, Westend Verlag, Frankfurt 2023, 224 S., 25 €.