Ein bedeutungsschwerer Begriff macht die Runde: die »multipolare Weltordnung«. Auch Kanzler Scholz hat sich kürzlich mit einem Namensbeitrag in der New-Yorker Zeitschrift Foreign Affairs über die Zeitenwende hin zu einer »neuen multipolaren Welt« ausgelassen – siehe: https://www.bundeskanzler.de/bk-de/aktuelles/kanzler-namensartikel-foreign-affairs-2149014 –, vielleicht eine Vorschau auf die neue »Nationale Sicherheitsstrategie«, die womöglich auf der Münchner »Sicherheitskonferenz« im kommenden Februar präsentiert wird.
Scholz beklagt »die Rückkehr des Imperialismus nach Europa« durch Russlands Angriff auf die Ukraine. Allein schon das bedeutet einen gewaltigen elephant in the room, eine fundamentale bundesdeutsche Lebenslüge. Denn die Dauerpräsenz des US-Imperialismus in Europa, dem die BRD als einer der wichtigsten Stützpunkte auch für Kriegseinsätze dient, wird damit vollständig ignoriert. Auch die imperialistische Rolle von EU-Mitgliedern, insbesondere Deutschlands, das – wie Scholz formuliert – »als einer der Hauptgaranten für die Sicherheit in Europa (…) Verantwortung übernehmen, (…) in unsere Streitkräfte investieren, (…) die europäische Rüstungsindustrie stärken (…) soll«; und das in der »transatlantischen Partnerschaft«. sprich: Unterordnung unter die amerikanische Führungsmacht speziell auch durch die »nukleare Teilhabe« am Massenvernichtungs-Potenzial der USA.
Scholz glaubt also eine »neue multipolare Welt« konstatieren zu müssen. Daran ist ohne Zweifel richtig, dass – wie er feststellt – »neue Mächte erstarkt oder wiedererstarkt« sind, dass »verschiedene Länder und Regierungsmodelle um Macht und Einfluss« konkurrieren. Dagegen stimmt aber überhaupt nicht – wie das von einigen Protagonisten wohl vorschnell verkündet wird –, dass die »unipolare« Weltpolizistenrolle der USA zu Ende geht und mit dem »Ende einer Ära« zur Geschichte werde. Um das strikte Gegenteil – jedenfalls durch mächtig forcierte hegemoniale Anstrengungen der USA – geht es nämlich gerade.
Die geostrategische Grundursache auch des Stellvertreterkrieges in der Ukraine ist letztlich dieser Kampf der USA zur Verteidigung ihrer Position als dominierende Weltordnungsmacht. Die US-Strategie, mit der die als heldenhaft bejubelte Ukraine geopfert wird, richtet sich vordergründig gegen Russland, um nach dessen »Ruinierung« die Hände freizubekommen gegen China, aber auch zugleich in Form eines Wirtschaftskrieges gegen Europa. Hierbei ging es zunächst darum, engere Beziehungen der EU, besonders auch Deutschlands mit Russland, weitgehend zu kappen, weil die USA diese Kombination schon lange als eine hochgefährliche strategische Konkurrenz festgestellt hatten. Der »Erfolg« durch die Rückwirkung der Russland-Sanktionen liegt schon auf der Hand. Besonders die Unterbindung billiger Energielieferungen aus Russland schädigt, ja, durchkreuzt das konkurrierende deutsche Geschäftsmodell nachhaltig.
Hinzu kommen finanz- und handelspolitische Kampfmaßnahmen der USA gegen ihre weltweiten Konkurrenten, etwa durch Bidens »Inflation Reduction Act«. Nach dem Motto »der Dollar ist unsere Währung, aber Euer Problem« kämpfen sie ihren Vorteil aus »gegen ihre getreuesten Kriegsverbündeten – und gegen sonstige Rivalen und Widersacher sowieso«. (s. dazu die Vierteljahreszeitschrift Gegenstandpunkt 4-22). Auch hierbei verzeichnen die USA »Fortschritte« bei der Verteidigung ihrer unipolaren Führungsrolle.
Die EU und Deutschland werden dabei empfindlich geschwächt und weitestgehend unter US-Abhängigkeit gehalten. Das heterogene Europa, besonders das »transatlantisch«-US-abhängige Deutschland, sind außerstande, eigene Interessen »auf Augenhöhe« gegenüber der US-Dominanz zu verfolgen.
Der prekäre russische Imperialismus steckt in der von den USA und der Nato gestellten Falle eines ukrainischen Afghanistans und kämpft mit seinem brutalen Zerstörungskrieg gegen das »Brudervolk« in mehrfacher Hinsicht kontraproduktiv um seine imperialistische Bedeutung. Der – wie vom Westen angekündigt – noch lang andauernde Stellvertreterkrieg in der Ukraine soll Russland »in die Knie« zwingen und wäre – so die US-Strategie aufgeht – ein weiterer Etappensieg zur Behauptung der US-amerikanischen Übermacht.
Die »neue multipolare Welt« wird selbst in linken und friedensbewegten Kreisen fast schon als vollendete Tatsache und als Erlösung von der Dominanz des US-Imperialismus, der Herrschaft des Dollars etc. hochgejubelt. Auch z.B. China und Russland beanspruchen in dieser »neuen Ordnung« ihren Platz an der Sonne. In der Tat haben auch eine ganze Reihe ehemaliger Halbkolonien und Schwellenländer einen kapitalistischen Entwicklungsstand erreicht, der es ihnen ermöglicht, eigene Interessen in Bezug auf Rohstoffquellen, Anlagesphären, Absatzmärkte etc. – mit immer mehr militärischer Aufrüstung – zu verfolgen. Diese »neuen Mächte« (Scholz) muss man daher als neu-imperialistisch bezeichnen. Man sieht z. B. die zunehmende Rolle der BRICS-Staaten – insbesondere Chinas als »kommende« Supermacht – oder die »Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit« (SOZ) – als positive Entwicklung in Richtung dieser multipolaren Welt. Bei allem Zuwachs an deren »Macht und Einfluss« muss man aber die Kehrseite betrachten. Neben dem reaktionären, teils kleptokratischen Charakter mancher Regimes sind sämtliche neuimperialistischen Staaten kapitalistisch. Sie verfolgen ihre Interessen auf einem Globus mit inzwischen 8 Mrd. Menschen, der längst zu klein geworden ist für die kapitalistische Produktionsweise – mit dem Ergebnis unabsehbarer Konflikte.
Dieser Kapitalismus mit seinem »Wachstumszwang«, der Ressourcenplünderung und Zerstörung der Lebensgrundlagen ist aufgrund seiner Funktionslogik unablässig dabei, den Globus immer mehr mit seinem destruktiven Produktions- und Konsummodell zu überziehen. Gerade die neu-imperialistischen Staaten wetteifern mit um dieses dystopische »Wohlstandsmodell«. Es gibt also recht wenig Gründe, mit dieser Art Multipolarität Hoffnung und Zuversicht zu verbinden.
In der Tat handelt es sich um einen widersprüchlich prozessierenden Umbruch – aber hin zu einer multi-imperialistischen Welt»ordnung«, in der keine der multiplen Krisen gelöst wird.
Kapitalismus bedeutet Wachstum, Wachstum, Wachstum – immer vorübergehend unterbrochen von Rezessionen, Krisen, Kriegen, Zerstörungen. Es gibt keinen Kapitalismus ohne Wachstum aufgrund seiner immanenten Bewegungsgesetze. Das Wachstum des globalen »Lebensstandards« ist aber voller Widersprüche: Die Lebenserwartung ist allgemein gestiegen, die Kindersterblichkeit zurückgegangen, in vielen Ländern hat sich der fragwürdige »Wohlstand« gewachsener Mittelschichten gemehrt. Kriege, Ungleichheit, Armut und Fluchtbewegungen nehmen andererseits zu, genauso wie Ressourcen-Raubbau und Klimaprobleme. Bei allen regionalen und nationalen Besonderheiten zeigt das globale »Wachstum« gleiche kapitalistische Merkmale. Dazu seien nur ein paar Symptome genannt:
Gigantische Schuldenberge sind das fantastische Mittel, um das Weiterwachsen riesiger Vermögensblasen durch Gelddrucken der Zentralbanken zu generieren und immer mehr Reichtum anzuhäufen. auf Kosten der Arbeitenden bei allseitig wachsender Ungleichheit.
Ungeheuer gewachsene Warenfluten mitsamt ihren Abfallprodukten überschwemmen den Globus. Beispielsweise sind Milliarden von Elektronikgeräten bis in die letzten Slums verbreitet.
Medien- und Meinungsmanipulation erreichen orwellsche Qualität.
Militärisch-industrielle Komplexe profitieren von stetig wachsenden Rüstungsausgaben.
Die Automobilindustrie – mit oder ohne »Verbrenner« – produziert bei wachsendem Raubbau an Ressourcen global wachsende Blechlawinen, die nicht nur wachsende Megacitys im Dauerstau verstopfen. Sie zieht wachsenden Straßenbau, wachsenden »ruhenden Verkehr« und wachsende Schrottberge nach sich.
Fossile Energieträger, die in Hunderten Millionen Jahren entstanden sind, werden in wenigen Generationen weiter verfeuert, solange die letzten Gallonen oder Tonnen noch Profite bringen.
Die Öl- und Chemieindustrien produzieren weiter anschwellende Plastikmassen, die Land, Flüsse und Ozeane vermüllen.
Schmelzende Polkappen, tauender Permafrost und vernichtete Urwälder versprechen den Agrarkonzernen Neuland und den extraktiven Industrien neue Rohstoffquellen.
Der erdnahe Weltraum wird durch die wachsende Satellitenflut und die Weltraum-Rüstung in wenigen Generationen heillos vermüllt …
Diese Aufzählung könnte länger fortgesetzt werden. Sämtliche mühsam auf Klima- und sonstigen Konferenzen verhandelten Maßnahmen zur Bekämpfung der Symptome müssen Kapitalismus-kompatibel dem Wachstum dienen – sie werden nur so weit vereinbart, wie sie marktwirtschaftlich die Geschäfte befördern. Kurz gesagt: die Grenzen des Wachstums sind längst überschritten, die Welt kann diese kapitalistische Produktionsweise nicht mehr aushalten. Das muss unweigerlich zur weiteren Zuspitzung der Krisen, Konfrontationen und Kriege in der multi-imperialistischen Welt führen, die die USA unter ihrem Regime als Weltpolizist zu halten versuchen – (noch?) –, mit geplanten »Verteidigungsausgaben« 2023 von rund 860 Mrd. $, was der Hälfte des gesamten US-Staatsbudgets entspricht, dem 1,7-fachen des deutschen Bundeshaushalts und nahezu 40 Prozent der weltweiten Militärausgaben.