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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Multipolar, multiimperialistisch?

Ein bedeu­tungs­schwe­rer Begriff macht die Run­de: die »mul­ti­po­la­re Welt­ord­nung«. Auch Kanz­ler Scholz hat sich kürz­lich mit einem Namens­bei­trag in der New-Yor­ker Zeit­schrift For­eign Affairs über die Zei­ten­wen­de hin zu einer »neu­en mul­ti­po­la­ren Welt« aus­ge­las­sen – sie­he: https://www.bundeskanzler.de/bk-de/aktuelles/kanzler-namensartikel-foreign-affairs-2149014 –, viel­leicht eine Vor­schau auf die neue »Natio­na­le Sicher­heits­stra­te­gie«, die womög­lich auf der Münch­ner »Sicher­heits­kon­fe­renz« im kom­men­den Febru­ar prä­sen­tiert wird.

Scholz beklagt »die Rück­kehr des Impe­ria­lis­mus nach Euro­pa« durch Russ­lands Angriff auf die Ukrai­ne. Allein schon das bedeu­tet einen gewal­ti­gen ele­phant in the room, eine fun­da­men­ta­le bun­des­deut­sche Lebens­lü­ge. Denn die Dau­er­prä­senz des US-Impe­ria­lis­mus in Euro­pa, dem die BRD als einer der wich­tig­sten Stütz­punk­te auch für Kriegs­ein­sät­ze dient, wird damit voll­stän­dig igno­riert. Auch die impe­ria­li­sti­sche Rol­le von EU-Mit­glie­dern, ins­be­son­de­re Deutsch­lands, das – wie Scholz for­mu­liert – »als einer der Haupt­ga­ran­ten für die Sicher­heit in Euro­pa (…) Ver­ant­wor­tung über­neh­men, (…) in unse­re Streit­kräf­te inve­stie­ren, (…) die euro­päi­sche Rüstungs­in­du­strie stär­ken (…) soll«; und das in der »trans­at­lan­ti­schen Part­ner­schaft«. sprich: Unter­ord­nung unter die ame­ri­ka­ni­sche Füh­rungs­macht spe­zi­ell auch durch die »nuklea­re Teil­ha­be« am Mas­sen­ver­nich­tungs-Poten­zi­al der USA.

Scholz glaubt also eine »neue mul­ti­po­la­re Welt« kon­sta­tie­ren zu müs­sen. Dar­an ist ohne Zwei­fel rich­tig, dass – wie er fest­stellt – »neue Mäch­te erstarkt oder wie­der­erstarkt« sind, dass »ver­schie­de­ne Län­der und Regie­rungs­mo­del­le um Macht und Ein­fluss« kon­kur­rie­ren. Dage­gen stimmt aber über­haupt nicht – wie das von eini­gen Prot­ago­ni­sten wohl vor­schnell ver­kün­det wird –, dass die »uni­po­la­re« Welt­po­li­zi­sten­rol­le der USA zu Ende geht und mit dem »Ende einer Ära« zur Geschich­te wer­de. Um das strik­te Gegen­teil – jeden­falls durch mäch­tig for­cier­te hege­mo­nia­le Anstren­gun­gen der USA – geht es näm­lich gerade.

Die geo­stra­te­gi­sche Grund­ur­sa­che auch des Stell­ver­tre­ter­krie­ges in der Ukrai­ne ist letzt­lich die­ser Kampf der USA zur Ver­tei­di­gung ihrer Posi­ti­on als domi­nie­ren­de Welt­ord­nungs­macht. Die US-Stra­te­gie, mit der die als hel­den­haft beju­bel­te Ukrai­ne geop­fert wird, rich­tet sich vor­der­grün­dig gegen Russ­land, um nach des­sen »Rui­nie­rung« die Hän­de frei­zu­be­kom­men gegen Chi­na, aber auch zugleich in Form eines Wirt­schafts­krie­ges gegen Euro­pa. Hier­bei ging es zunächst dar­um, enge­re Bezie­hun­gen der EU, beson­ders auch Deutsch­lands mit Russ­land, weit­ge­hend zu kap­pen, weil die USA die­se Kom­bi­na­ti­on schon lan­ge als eine hoch­ge­fähr­li­che stra­te­gi­sche Kon­kur­renz fest­ge­stellt hat­ten. Der »Erfolg« durch die Rück­wir­kung der Russ­land-Sank­tio­nen liegt schon auf der Hand. Beson­ders die Unter­bin­dung bil­li­ger Ener­gie­lie­fe­run­gen aus Russ­land schä­digt, ja, durch­kreuzt das kon­kur­rie­ren­de deut­sche Geschäfts­mo­dell nachhaltig.

Hin­zu kom­men finanz- und han­dels­po­li­ti­sche Kampf­maß­nah­men der USA gegen ihre welt­wei­ten Kon­kur­ren­ten, etwa durch Bidens »Infla­ti­on Reduc­tion Act«. Nach dem Mot­to »der Dol­lar ist unse­re Wäh­rung, aber Euer Pro­blem« kämp­fen sie ihren Vor­teil aus »gegen ihre getreue­sten Kriegs­ver­bün­de­ten – und gegen son­sti­ge Riva­len und Wider­sa­cher sowie­so«. (s. dazu die Vier­tel­jah­res­zeit­schrift Gegen­stand­punkt 4-22). Auch hier­bei ver­zeich­nen die USA »Fort­schrit­te« bei der Ver­tei­di­gung ihrer uni­po­la­ren Führungsrolle.

Die EU und Deutsch­land wer­den dabei emp­find­lich geschwächt und wei­test­ge­hend unter US-Abhän­gig­keit gehal­ten. Das hete­ro­ge­ne Euro­pa, beson­ders das »transatlantisch«-US-abhängige Deutsch­land, sind außer­stan­de, eige­ne Inter­es­sen »auf Augen­hö­he« gegen­über der US-Domi­nanz zu verfolgen.

Der pre­kä­re rus­si­sche Impe­ria­lis­mus steckt in der von den USA und der Nato gestell­ten Fal­le eines ukrai­ni­schen Afgha­ni­stans und kämpft mit sei­nem bru­ta­len Zer­stö­rungs­krieg gegen das »Bru­der­volk« in mehr­fa­cher Hin­sicht kon­tra­pro­duk­tiv um sei­ne impe­ria­li­sti­sche Bedeu­tung. Der – wie vom Westen ange­kün­digt – noch lang andau­ern­de Stell­ver­tre­ter­krieg in der Ukrai­ne soll Russ­land »in die Knie« zwin­gen und wäre – so die US-Stra­te­gie auf­geht – ein wei­te­rer Etap­pen­sieg zur Behaup­tung der US-ame­ri­ka­ni­schen Übermacht.

Die »neue mul­ti­po­la­re Welt« wird selbst in lin­ken und frie­dens­be­weg­ten Krei­sen fast schon als voll­ende­te Tat­sa­che und als Erlö­sung von der Domi­nanz des US-Impe­ria­lis­mus, der Herr­schaft des Dol­lars etc. hoch­ge­ju­belt. Auch z.B. Chi­na und Russ­land bean­spru­chen in die­ser »neu­en Ord­nung« ihren Platz an der Son­ne. In der Tat haben auch eine gan­ze Rei­he ehe­ma­li­ger Halb­ko­lo­nien und Schwel­len­län­der einen kapi­ta­li­sti­schen Ent­wick­lungs­stand erreicht, der es ihnen ermög­licht, eige­ne Inter­es­sen in Bezug auf Roh­stoff­quel­len, Anla­ges­phä­ren, Absatz­märk­te etc. – mit immer mehr mili­tä­ri­scher Auf­rü­stung – zu ver­fol­gen. Die­se »neu­en Mäch­te« (Scholz) muss man daher als neu-impe­ria­li­stisch bezeich­nen. Man sieht z. B. die zuneh­men­de Rol­le der BRICS-Staa­ten – ins­be­son­de­re Chi­nas als »kom­men­de« Super­macht – oder die »Shang­hai­er Orga­ni­sa­ti­on für Zusam­men­ar­beit« (SOZ) – als posi­ti­ve Ent­wick­lung in Rich­tung die­ser mul­ti­po­la­ren Welt. Bei allem Zuwachs an deren »Macht und Ein­fluss« muss man aber die Kehr­sei­te betrach­ten. Neben dem reak­tio­nä­ren, teils klep­to­kra­ti­schen Cha­rak­ter man­cher Regimes sind sämt­li­che neu­im­pe­ria­li­sti­schen Staa­ten kapi­ta­li­stisch. Sie ver­fol­gen ihre Inter­es­sen auf einem Glo­bus mit inzwi­schen 8 Mrd. Men­schen, der längst zu klein gewor­den ist für die kapi­ta­li­sti­sche Pro­duk­ti­ons­wei­se – mit dem Ergeb­nis unab­seh­ba­rer Konflikte.

Die­ser Kapi­ta­lis­mus mit sei­nem »Wachs­tums­zwang«, der Res­sour­cen­plün­de­rung und Zer­stö­rung der Lebens­grund­la­gen ist auf­grund sei­ner Funk­ti­ons­lo­gik unab­läs­sig dabei, den Glo­bus immer mehr mit sei­nem destruk­ti­ven Pro­duk­ti­ons- und Kon­sum­mo­dell zu über­zie­hen. Gera­de die neu-impe­ria­li­sti­schen Staa­ten wett­ei­fern mit um die­ses dys­to­pi­sche »Wohl­stands­mo­dell«. Es gibt also recht wenig Grün­de, mit die­ser Art Mul­ti­po­la­ri­tät Hoff­nung und Zuver­sicht zu verbinden.

In der Tat han­delt es sich um einen wider­sprüch­lich pro­zes­sie­ren­den Umbruch – aber hin zu einer mul­ti-impe­ria­li­sti­schen Welt»ordnung«, in der kei­ne der mul­ti­plen Kri­sen gelöst wird.

Kapi­ta­lis­mus bedeu­tet Wachs­tum, Wachs­tum, Wachs­tum – immer vor­über­ge­hend unter­bro­chen von Rezes­sio­nen, Kri­sen, Krie­gen, Zer­stö­run­gen. Es gibt kei­nen Kapi­ta­lis­mus ohne Wachs­tum auf­grund sei­ner imma­nen­ten Bewe­gungs­ge­set­ze. Das Wachs­tum des glo­ba­len »Lebens­stan­dards« ist aber vol­ler Wider­sprü­che: Die Lebens­er­war­tung ist all­ge­mein gestie­gen, die Kin­der­sterb­lich­keit zurück­ge­gan­gen, in vie­len Län­dern hat sich der frag­wür­di­ge »Wohl­stand« gewach­se­ner Mit­tel­schich­ten gemehrt. Krie­ge, Ungleich­heit, Armut und Flucht­be­we­gun­gen neh­men ande­rer­seits zu, genau­so wie Res­sour­cen-Raub­bau und Kli­ma­pro­ble­me. Bei allen regio­na­len und natio­na­len Beson­der­hei­ten zeigt das glo­ba­le »Wachs­tum« glei­che kapi­ta­li­sti­sche Merk­ma­le. Dazu sei­en nur ein paar Sym­pto­me genannt:

Gigan­ti­sche Schul­den­ber­ge sind das fan­ta­sti­sche Mit­tel, um das Wei­ter­wach­sen rie­si­ger Ver­mö­gens­bla­sen durch Geld­drucken der Zen­tral­ban­ken zu gene­rie­ren und immer mehr Reich­tum anzu­häu­fen. auf Kosten der Arbei­ten­den bei all­sei­tig wach­sen­der Ungleichheit.

Unge­heu­er gewach­se­ne Waren­flu­ten mit­samt ihren Abfall­pro­duk­ten über­schwem­men den Glo­bus. Bei­spiels­wei­se sind Mil­li­ar­den von Elek­tronik­ge­rä­ten bis in die letz­ten Slums verbreitet.

Medi­en- und Mei­nungs­ma­ni­pu­la­ti­on errei­chen orwell­sche Qualität.

Mili­tä­risch-indu­stri­el­le Kom­ple­xe pro­fi­tie­ren von ste­tig wach­sen­den Rüstungsausgaben.

Die Auto­mo­bil­in­du­strie – mit oder ohne »Ver­bren­ner« – pro­du­ziert bei wach­sen­dem Raub­bau an Res­sour­cen glo­bal wach­sen­de Blech­la­wi­nen, die nicht nur wach­sen­de Mega­ci­tys im Dau­er­stau ver­stop­fen. Sie zieht wach­sen­den Stra­ßen­bau, wach­sen­den »ruhen­den Ver­kehr« und wach­sen­de Schrott­ber­ge nach sich.

Fos­si­le Ener­gie­trä­ger, die in Hun­der­ten Mil­lio­nen Jah­ren ent­stan­den sind, wer­den in weni­gen Gene­ra­tio­nen wei­ter ver­feu­ert, solan­ge die letz­ten Gal­lo­nen oder Ton­nen noch Pro­fi­te bringen.

Die Öl- und Che­mie­in­du­strien pro­du­zie­ren wei­ter anschwel­len­de Pla­stik­ma­ssen, die Land, Flüs­se und Ozea­ne vermüllen.

Schmel­zen­de Pol­kap­pen, tau­en­der Per­ma­frost und ver­nich­te­te Urwäl­der ver­spre­chen den Agrar­kon­zer­nen Neu­land und den extrak­ti­ven Indu­strien neue Rohstoffquellen.

Der erd­na­he Welt­raum wird durch die wach­sen­de Satel­li­ten­flut und die Welt­raum-Rüstung in weni­gen Gene­ra­tio­nen heil­los vermüllt …

Die­se Auf­zäh­lung könn­te län­ger fort­ge­setzt wer­den. Sämt­li­che müh­sam auf Kli­ma- und son­sti­gen Kon­fe­ren­zen ver­han­del­ten Maß­nah­men zur Bekämp­fung der Sym­pto­me müs­sen Kapi­ta­lis­mus-kom­pa­ti­bel dem Wachs­tum die­nen – sie wer­den nur so weit ver­ein­bart, wie sie markt­wirt­schaft­lich die Geschäf­te beför­dern. Kurz gesagt: die Gren­zen des Wachs­tums sind längst über­schrit­ten, die Welt kann die­se kapi­ta­li­sti­sche Pro­duk­ti­ons­wei­se nicht mehr aus­hal­ten. Das muss unwei­ger­lich zur wei­te­ren Zuspit­zung der Kri­sen, Kon­fron­ta­tio­nen und Krie­ge in der mul­ti-impe­ria­li­sti­schen Welt füh­ren, die die USA unter ihrem Regime als Welt­po­li­zist zu hal­ten ver­su­chen – (noch?) –, mit geplan­ten »Ver­tei­di­gungs­aus­ga­ben« 2023 von rund 860 Mrd. $, was der Hälf­te des gesam­ten US-Staats­bud­gets ent­spricht, dem 1,7-fachen des deut­schen Bun­des­haus­halts und nahe­zu 40 Pro­zent der welt­wei­ten Militärausgaben.