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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Müssen Linke das »Friedensprojekt EU« verteidigen?

Stre­ben lin­ke Par­tei­en wie augen­blick­lich in Frank­reich nach Regie­rungs­ver­ant­wor­tung, wird ihnen gern ein poli­ti­scher Eig­nungs­test abver­langt. Zum Bei­spiel, inwie­weit ist das Sozi­al­pro­gramm der neu­en Volks­front kom­pa­ti­bel mit der pre­kä­ren Finanz­la­ge des fran­zö­si­schen Staa­tes, der der­zeit mit 3,1 Bil­lio­nen Euro ver­schul­det ist. Oder wie euro­pa­freund­lich bzw. -taug­lich ist die stärk­ste Par­tei des Links­bünd­nis­ses, La France Inso­u­mi­se (LFI), zu Deutsch: Unbeug­sa­mes Frank­reich? Zu den abver­lang­ten Tugen­den gehört nicht nur die Zuwen­dung zum inte­grier­ten Euro­pa schlecht­hin, viel­mehr geht es nach Auf­fas­sung der Brüs­se­ler Zen­tra­le, ins­be­son­de­re der Kom­mis­si­on, mit der EU um ein »alter­na­tiv­lo­ses Pro­jekt«, das dem »rus­si­schen Impe­ria­lis­mus« gegen­über­ste­he und ehr­gei­zi­ge Plä­ne ver­fol­ge. Gemeint ist nicht nur der per­ma­nen­te Waf­fen­trans­fer in die Ukrai­ne. Es geht zudem um den Auf­bau einer euro­päi­schen Rüstungs­in­du­strie, die zu mehr Kriegs­fä­hig­keit ver­hilft. Einen eben­so hohen Stel­len­wert genießt eine erneu­te Erwei­te­rung, dies­mal um die sechs West­bal­kan­staa­ten, die Ukrai­ne und Moldawien.

Müs­sen sich Lin­ke davon ver­ein­nah­men las­sen, weil ihnen der Zeit­geist kei­ne Wahl lässt? Soll­ten sie »Euro­pä­er« sein, weil es nur die­ses Euro­pa gibt? Bleibt nur links, wer sich damit abfin­det oder arran­giert, zumal der Preis für Wider­stän­dig­keit hoch sein kann. Sich dem Kotau zu ver­wei­gern und Vor­be­hal­te gel­tend zu machen, kann für Lin­ke mit der Aberken­nung der Salon-, wenn nicht poli­ti­schen Zurech­nungs­fä­hig­keit ver­gol­ten wer­den. Dies trifft vor­nehm­lich dann zu, wenn der unab­läs­sig hoch­ge­fah­re­ne Ukrai­ne-Bei­stand und die Russ­land-Sank­tio­nen kri­tisch gese­hen wer­den. Nach der Euro­pa­wahl Anfang Juni und den Stim­men­ge­win­nen für rechts­na­tio­na­le Par­tei­en, nach den zehn Mil­lio­nen Stim­men für den Ras­sem­blem­ent Natio­nal (RN) bei der Par­la­ments­wahl in Frank­reich, ver­fällt die EU noch mehr in einem Selbst­ver­tei­di­gungs­mo­dus. Sie macht gel­tend, destruk­ti­ve Kräf­te abweh­ren zu müs­sen, die auf Rena­tio­na­li­sie­rung bedacht sei­en und die Staa­ten­uni­on von innen her bedroh­ten. Die Devi­se: Wer jetzt nicht für uns ist, stellt sich gegen uns.

Wie sol­len sich Lin­ke in die­ser Lage ver­hal­ten? Oder anders gefragt, was an und in der EU ist es wert, ver­tei­digt zu wer­den? Doch wohl vor­ran­gig ihre »Frie­dens­fä­hig­keit«, heißt es dann. Die habe immer­hin dazu geführt hat, der Euro­päi­schen Uni­on im Jahr 2012 den Frie­dens­no­bel­preis zu ver­lei­hen, um ihre Geschich­te und Gegen­wart zu würdigen.

Es braucht ein gnä­di­ges Gedächt­nis, die­sem Argu­ment zu fol­gen und die histo­ri­schen Umstän­de aus­zu­blen­den, denen es maß­geb­lich zu ver­dan­ken war, dass es so kam. Schließ­lich han­del­ten kei­ne selbst­lo­sen Idea­li­sten der Frie­dens­lie­be, die in den frü­hen 1950er Jah­ren erste Inte­gra­ti­ons­for­men eta­blier­ten. Was den dama­li­gen fran­zö­si­schen Außen­mi­ni­ster Robert Schu­mann, den west­deut­schen Kanz­ler Kon­rad Ade­nau­er oder den ita­lie­ni­schen Pre­mier Alci­de De Gas­pe­ri ansporn­te, war öko­no­mi­scher Prag­ma­tis­mus, vor allem aber die Ein­sicht, dass Deutsch­land und Frank­reich nach 1870/​71, den Kriegs­jah­ren von 1914 bis 1918 und 1940 bis 1945 kein vier­tes Mal auf dem Schlacht­feld gegen­ein­an­der antre­ten konn­ten, ohne Gefahr zu lau­fen, dabei unter­zu­ge­hen. Was sich bei­de Natio­nen ein Jahr­hun­dert lang an Feind­schaft und Destruk­ti­on zuge­mu­tet hat­ten, konn­te nur noch dort enden, wo nichts mehr anfängt – in der Apo­ka­lyp­se. So wur­de die Öko­no­mie zum Fun­da­ment der deutsch-fran­zö­si­schen Ent­span­nung, kam es im April 1951 zur Euro­päi­schen Gemein­schaft für Koh­le und Stahl (EGKS) oder Mon­tan­uni­on, wur­de Kon­fron­ta­ti­on durch Koope­ra­ti­on ersetzt. Dies war die Geschäfts­grund­la­ge für die 1957 begrün­de­te Euro­päi­sche Wirt­schafts­ge­mein­schaft EWG, der außer der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land und Frank­reich auch noch Ita­li­en und die Bene­lux­staa­ten ange­hör­ten. Es ent­stand ein Maß an mul­ti­la­te­ra­ler Ver­flech­tung, bei der sich Koope­ra­ti­on und Koexi­stenz gegen­sei­tig beding­ten. Was frei­lich nicht bedeu­te­te, den Krieg über­haupt zu äch­ten. Die inne­re Ent­span­nung schloss die äuße­re Eska­la­ti­on nicht aus. Als die Mon­tan­uni­on ent­stand, führ­te Frank­reich einen Kolo­ni­al­krieg in Indo­chi­na, nicht anders ver­hielt es sich 1957 beim Abschluss der Römi­schen Ver­trä­ge zur EWG. Zu die­sem Zeit­punkt stell­te sich ein fran­zö­si­sches Mili­tär­korps in Nord­afri­ka in bru­ta­ler Wei­se der alge­ri­schen Unab­hän­gig­keits­be­we­gung ent­ge­gen und ver­tei­dig­te einen anma­ßen­den Kolo­nia­lis­mus. Der EWG-Staat Bel­gi­en expo­nier­te sich 1961 gegen die Sou­ve­rä­ni­tät des Kon­go und war in den Lynch­mord an des­sen erstem und pro­gres­si­vem Mini­ster­prä­si­den­ten Patri­ce Lumum­ba ver­strickt. Frie­den nach innen hieß nicht zwin­gend Frie­den nach außen. Ganz abge­se­hen davon, dass die EWG, spä­ter die Euro­päi­sche Gemein­schaft EG, ein insti­tu­tio­na­li­sier­tes Macht­wort in der Aus­ein­an­der­set­zung der Syste­me auf dem euro­päi­schen Kon­ti­nent war. Wer die EWG/​EG als epo­cha­les Frie­dens­pro­jekt ver­klär­te, konn­te dies nur tun, wur­de die Epo­che aus­ge­blen­det, in der die­ser Staa­ten­bund sein Dasein bestritt. Er war nicht allein um sei­ner selbst wil­len zur inne­ren Frie­dens­fä­hig­keit gezwun­gen, son­dern eben­so als Akteur im Ost-West-Kon­flikt, der bis 1989/​90 stets Gefahr lief, gewalt­sam aus­ge­tra­gen zu wer­den – womög­lich als ther­mo­nu­klea­re Konfrontation.

Kann aus die­sem Her­gang der EU-Geschich­te das Gebot für lin­ke Par­tei­en abge­lei­tet wer­den, »euro­päi­sche Frie­dens­fä­hig­keit« als »histo­ri­sche Lei­stung« anzu­er­ken­nen? Dies lie­ße sich durch den Ver­weis auf den Frie­dens­no­bel­preis­trä­ger EU bekräf­ti­gen. Als 2012 das Nobel­preis­ko­mi­tee in Oslo das »Euro­pa des Frie­dens« über­schwäng­lich lob­te, lag dem der Ein­druck zugrun­de, dass die ver­ei­nig­ten Staa­ten von Euro­pa vor­leb­ten, was die Ver­ein­ten Natio­nen auf ihrem glo­ba­len Akti­ons­feld lei­der all­zu oft schul­dig blie­ben. Nur ging die­se Ade­lung ent­we­der auf begrenz­te kogni­ti­ve Fähig­kei­ten oder eine selek­ti­ve Wahr­neh­mung all des­sen zurück, was ins­be­son­de­re nach 1990 mit der EU und durch sie gesche­hen war.

Als sich das post­po­la­re Euro­pa häus­lich ein­rich­te­te, geriet ein Prin­zip auf den Index, wel­ches die KSZE-Schluss­ak­te von Hel­sin­ki noch 1975 aus­drück­lich fest­ge­schrie­ben hat­te: die Unver­letz­lich­keit der Gren­zen, wie sie nach 1945 ent­stan­den waren und Staa­ten defi­nier­ten. Sich dar­an zu hal­ten, galt dies­seits und jen­seits des Eiser­nen Vor­hangs als kate­go­ri­scher Impe­ra­tiv. Als der ent­fiel, konn­te dies zwi­schen 1991 und 1999 dazu füh­ren, dass sich das föde­ra­ti­ve Jugo­sla­wi­en selbst auf­gab und von Zer­stö­rung wie eth­ni­scher Ver­trei­bung heim­ge­sucht wur­de. Es ist kei­nes­wegs über­trie­ben, der EU eine Mit­ver­ant­wor­tung für die­sen Zivi­li­sa­ti­ons­bruch anzu­la­sten. Mut­maß­li­che euro­päi­sche Frie­dens­stif­ter mutier­ten zu kan­ti­gen Ord­nungs­po­li­ti­kern, die sich die Gele­gen­heit zu ter­ri­to­ria­lem Umbau und Grenz­re­vi­si­on nicht ent­ge­hen lie­ßen, wie die maß­geb­lich von der EU vor­an­ge­trie­be­ne und ver­wal­te­te Unab­hän­gig­keit des Koso­vo von 2008 zeigt. Dass die gegen Ser­bi­en durch­ge­setzt wur­de, um einen stra­te­gi­schen Brücken­kopf auf dem Bal­kan zu haben, hat­te viel mit dem letz­ten Akt des jugo­sla­wi­schen Dra­mas zu tun. Im März 1999 begann eine völ­ker­rechts­wid­ri­ge Luft­in­ter­ven­ti­on der Nato gegen Ser­bi­en und Mon­te­ne­gro. EU-Staa­ten, soweit sie zum Nord­at­lan­tik­pakt gehör­ten, u. a. Deutsch­land, gerie­ten in den Sog eines Sün­den­falls, der sich nicht mehr aus der Welt schaf­fen ließ. Die Büch­se der Pan­do­ra war geöff­net, Gren­zen stan­den wie­der zur Dis­po­si­ti­on. Schon damals zeich­ne­ten sich die Kon­tu­ren des­sen ab, was Ursu­la von der Ley­en 2019 als desi­gnier­te EU-Kom­mis­si­ons­prä­si­den­tin auf den Begriff brach­te. Sie gab an, eine »geo­po­li­ti­sche Kom­mis­si­on« füh­ren zu wol­len, um die EU im glo­ba­len Ran­king in bis dato unge­kann­te Sphä­ren zu lot­sen. Dies soll­te unge­ach­tet histo­ri­scher Erb­la­sten von­stat­ten gehen, die vor allem Deutsch­land eine War­nung sein mussten.

Nach nun­mehr zwei­ein­halb Jah­ren Ukrai­ne­krieg gerät die geo­po­li­ti­sche Opti­on in die Fän­ge eines neu­er­li­chen, gefähr­li­chen Block­den­kens, das der EU – unge­ach­tet der Vor­be­hal­te man­cher Mit­glie­der – eine per­ma­nen­te Kon­flikt­la­ge beschert. Die Unter­stüt­zung für die ukrai­ni­sche Regie­rung und Armee wird bis an die Gren­ze einer direk­ten Kriegs­be­tei­li­gung vor­an­ge­trie­ben und stra­te­gi­sche Ori­en­tie­rung im Über­fluss fabri­ziert, ohne wirk­lich über die inne­re Geschlos­sen­heit zu ver­fü­gen, dem gerecht zu wer­den. Allein die bei Neu­auf­nah­men von Staa­ten uner­läss­li­chen inne­ren Refor­men sind von der Agrar­po­li­tik bis zum Abstim­mungs­mo­dus im Euro­päi­schen Rat so umstrit­ten, dass noch nicht ein­mal Ansät­ze in Sicht sind. Ein Miss­ver­hält­nis zwi­schen Anspruch und Wirk­lich­keit, das sich noch kras­ser und beklem­men­der offen­bart, wenn von Kriegs­fä­hig­keit der EU die Rede ist, die nun erwor­ben wer­den müsse.

Es soll­te Lin­ken nicht schwer­fal­len, die Zei­chen zu erken­nen und damit umzu­ge­hen, sich davon nicht erschla­gen zu las­sen. Was die EU heu­te ver­kör­pert, war in der EWG bzw. EG schon immer ange­legt und ist mit »Fried­fer­tig­keit« oder »Frie­dens­fä­hig­keit« höchst unzu­rei­chend beschrieben.

 

Ausgabe 15.16/2024