Streben linke Parteien wie augenblicklich in Frankreich nach Regierungsverantwortung, wird ihnen gern ein politischer Eignungstest abverlangt. Zum Beispiel, inwieweit ist das Sozialprogramm der neuen Volksfront kompatibel mit der prekären Finanzlage des französischen Staates, der derzeit mit 3,1 Billionen Euro verschuldet ist. Oder wie europafreundlich bzw. -tauglich ist die stärkste Partei des Linksbündnisses, La France Insoumise (LFI), zu Deutsch: Unbeugsames Frankreich? Zu den abverlangten Tugenden gehört nicht nur die Zuwendung zum integrierten Europa schlechthin, vielmehr geht es nach Auffassung der Brüsseler Zentrale, insbesondere der Kommission, mit der EU um ein »alternativloses Projekt«, das dem »russischen Imperialismus« gegenüberstehe und ehrgeizige Pläne verfolge. Gemeint ist nicht nur der permanente Waffentransfer in die Ukraine. Es geht zudem um den Aufbau einer europäischen Rüstungsindustrie, die zu mehr Kriegsfähigkeit verhilft. Einen ebenso hohen Stellenwert genießt eine erneute Erweiterung, diesmal um die sechs Westbalkanstaaten, die Ukraine und Moldawien.
Müssen sich Linke davon vereinnahmen lassen, weil ihnen der Zeitgeist keine Wahl lässt? Sollten sie »Europäer« sein, weil es nur dieses Europa gibt? Bleibt nur links, wer sich damit abfindet oder arrangiert, zumal der Preis für Widerständigkeit hoch sein kann. Sich dem Kotau zu verweigern und Vorbehalte geltend zu machen, kann für Linke mit der Aberkennung der Salon-, wenn nicht politischen Zurechnungsfähigkeit vergolten werden. Dies trifft vornehmlich dann zu, wenn der unablässig hochgefahrene Ukraine-Beistand und die Russland-Sanktionen kritisch gesehen werden. Nach der Europawahl Anfang Juni und den Stimmengewinnen für rechtsnationale Parteien, nach den zehn Millionen Stimmen für den Rassemblement National (RN) bei der Parlamentswahl in Frankreich, verfällt die EU noch mehr in einem Selbstverteidigungsmodus. Sie macht geltend, destruktive Kräfte abwehren zu müssen, die auf Renationalisierung bedacht seien und die Staatenunion von innen her bedrohten. Die Devise: Wer jetzt nicht für uns ist, stellt sich gegen uns.
Wie sollen sich Linke in dieser Lage verhalten? Oder anders gefragt, was an und in der EU ist es wert, verteidigt zu werden? Doch wohl vorrangig ihre »Friedensfähigkeit«, heißt es dann. Die habe immerhin dazu geführt hat, der Europäischen Union im Jahr 2012 den Friedensnobelpreis zu verleihen, um ihre Geschichte und Gegenwart zu würdigen.
Es braucht ein gnädiges Gedächtnis, diesem Argument zu folgen und die historischen Umstände auszublenden, denen es maßgeblich zu verdanken war, dass es so kam. Schließlich handelten keine selbstlosen Idealisten der Friedensliebe, die in den frühen 1950er Jahren erste Integrationsformen etablierten. Was den damaligen französischen Außenminister Robert Schumann, den westdeutschen Kanzler Konrad Adenauer oder den italienischen Premier Alcide De Gasperi anspornte, war ökonomischer Pragmatismus, vor allem aber die Einsicht, dass Deutschland und Frankreich nach 1870/71, den Kriegsjahren von 1914 bis 1918 und 1940 bis 1945 kein viertes Mal auf dem Schlachtfeld gegeneinander antreten konnten, ohne Gefahr zu laufen, dabei unterzugehen. Was sich beide Nationen ein Jahrhundert lang an Feindschaft und Destruktion zugemutet hatten, konnte nur noch dort enden, wo nichts mehr anfängt – in der Apokalypse. So wurde die Ökonomie zum Fundament der deutsch-französischen Entspannung, kam es im April 1951 zur Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) oder Montanunion, wurde Konfrontation durch Kooperation ersetzt. Dies war die Geschäftsgrundlage für die 1957 begründete Europäische Wirtschaftsgemeinschaft EWG, der außer der Bundesrepublik Deutschland und Frankreich auch noch Italien und die Beneluxstaaten angehörten. Es entstand ein Maß an multilateraler Verflechtung, bei der sich Kooperation und Koexistenz gegenseitig bedingten. Was freilich nicht bedeutete, den Krieg überhaupt zu ächten. Die innere Entspannung schloss die äußere Eskalation nicht aus. Als die Montanunion entstand, führte Frankreich einen Kolonialkrieg in Indochina, nicht anders verhielt es sich 1957 beim Abschluss der Römischen Verträge zur EWG. Zu diesem Zeitpunkt stellte sich ein französisches Militärkorps in Nordafrika in brutaler Weise der algerischen Unabhängigkeitsbewegung entgegen und verteidigte einen anmaßenden Kolonialismus. Der EWG-Staat Belgien exponierte sich 1961 gegen die Souveränität des Kongo und war in den Lynchmord an dessen erstem und progressivem Ministerpräsidenten Patrice Lumumba verstrickt. Frieden nach innen hieß nicht zwingend Frieden nach außen. Ganz abgesehen davon, dass die EWG, später die Europäische Gemeinschaft EG, ein institutionalisiertes Machtwort in der Auseinandersetzung der Systeme auf dem europäischen Kontinent war. Wer die EWG/EG als epochales Friedensprojekt verklärte, konnte dies nur tun, wurde die Epoche ausgeblendet, in der dieser Staatenbund sein Dasein bestritt. Er war nicht allein um seiner selbst willen zur inneren Friedensfähigkeit gezwungen, sondern ebenso als Akteur im Ost-West-Konflikt, der bis 1989/90 stets Gefahr lief, gewaltsam ausgetragen zu werden – womöglich als thermonukleare Konfrontation.
Kann aus diesem Hergang der EU-Geschichte das Gebot für linke Parteien abgeleitet werden, »europäische Friedensfähigkeit« als »historische Leistung« anzuerkennen? Dies ließe sich durch den Verweis auf den Friedensnobelpreisträger EU bekräftigen. Als 2012 das Nobelpreiskomitee in Oslo das »Europa des Friedens« überschwänglich lobte, lag dem der Eindruck zugrunde, dass die vereinigten Staaten von Europa vorlebten, was die Vereinten Nationen auf ihrem globalen Aktionsfeld leider allzu oft schuldig blieben. Nur ging diese Adelung entweder auf begrenzte kognitive Fähigkeiten oder eine selektive Wahrnehmung all dessen zurück, was insbesondere nach 1990 mit der EU und durch sie geschehen war.
Als sich das postpolare Europa häuslich einrichtete, geriet ein Prinzip auf den Index, welches die KSZE-Schlussakte von Helsinki noch 1975 ausdrücklich festgeschrieben hatte: die Unverletzlichkeit der Grenzen, wie sie nach 1945 entstanden waren und Staaten definierten. Sich daran zu halten, galt diesseits und jenseits des Eisernen Vorhangs als kategorischer Imperativ. Als der entfiel, konnte dies zwischen 1991 und 1999 dazu führen, dass sich das föderative Jugoslawien selbst aufgab und von Zerstörung wie ethnischer Vertreibung heimgesucht wurde. Es ist keineswegs übertrieben, der EU eine Mitverantwortung für diesen Zivilisationsbruch anzulasten. Mutmaßliche europäische Friedensstifter mutierten zu kantigen Ordnungspolitikern, die sich die Gelegenheit zu territorialem Umbau und Grenzrevision nicht entgehen ließen, wie die maßgeblich von der EU vorangetriebene und verwaltete Unabhängigkeit des Kosovo von 2008 zeigt. Dass die gegen Serbien durchgesetzt wurde, um einen strategischen Brückenkopf auf dem Balkan zu haben, hatte viel mit dem letzten Akt des jugoslawischen Dramas zu tun. Im März 1999 begann eine völkerrechtswidrige Luftintervention der Nato gegen Serbien und Montenegro. EU-Staaten, soweit sie zum Nordatlantikpakt gehörten, u. a. Deutschland, gerieten in den Sog eines Sündenfalls, der sich nicht mehr aus der Welt schaffen ließ. Die Büchse der Pandora war geöffnet, Grenzen standen wieder zur Disposition. Schon damals zeichneten sich die Konturen dessen ab, was Ursula von der Leyen 2019 als designierte EU-Kommissionspräsidentin auf den Begriff brachte. Sie gab an, eine »geopolitische Kommission« führen zu wollen, um die EU im globalen Ranking in bis dato ungekannte Sphären zu lotsen. Dies sollte ungeachtet historischer Erblasten vonstatten gehen, die vor allem Deutschland eine Warnung sein mussten.
Nach nunmehr zweieinhalb Jahren Ukrainekrieg gerät die geopolitische Option in die Fänge eines neuerlichen, gefährlichen Blockdenkens, das der EU – ungeachtet der Vorbehalte mancher Mitglieder – eine permanente Konfliktlage beschert. Die Unterstützung für die ukrainische Regierung und Armee wird bis an die Grenze einer direkten Kriegsbeteiligung vorangetrieben und strategische Orientierung im Überfluss fabriziert, ohne wirklich über die innere Geschlossenheit zu verfügen, dem gerecht zu werden. Allein die bei Neuaufnahmen von Staaten unerlässlichen inneren Reformen sind von der Agrarpolitik bis zum Abstimmungsmodus im Europäischen Rat so umstritten, dass noch nicht einmal Ansätze in Sicht sind. Ein Missverhältnis zwischen Anspruch und Wirklichkeit, das sich noch krasser und beklemmender offenbart, wenn von Kriegsfähigkeit der EU die Rede ist, die nun erworben werden müsse.
Es sollte Linken nicht schwerfallen, die Zeichen zu erkennen und damit umzugehen, sich davon nicht erschlagen zu lassen. Was die EU heute verkörpert, war in der EWG bzw. EG schon immer angelegt und ist mit »Friedfertigkeit« oder »Friedensfähigkeit« höchst unzureichend beschrieben.