Lyngiades ist ein griechisches Bergdorf im Epirus-Gebirge. Es liegt steil oberhalb der Provinzhauptstadt Ioannina, und weil die Menschen von dort eine herrliche Aussicht auf die Stadt und den benachbarten Pamvotida-See haben, nennen die Griechen das Dorf »to Balkoni«, der Balkon. So hat der griechische Filmemacher Chrysanthos Konstantinidis auch seinen Dokumentarfilm betitelt, mit dem er an eine von zahlreichen Mordaktionen deutscher Soldaten während der Besatzung Griechenlands im Zweiten Weltkrieg (1941-1944/45) erinnert. Damals am 3. Oktober 1943 hatten Gebirgsjäger aus dem bayerischen Mittenwald 82 Bewohner von Lyngiades – überwiegend Frauen, Alte und Kinder – bestialisch umgebracht und das Dorf fast vollständig zerstört.
Sein Film »Der Balkon – Wehrmachtsverbrechen in Griechenland« wurde mehrfach ausgezeichnet. Die zu Wort kommenden Zeitzeugen berichten konkret und anschaulich über die erschreckende Wahrheit des Massakers. So ist ein Film entstanden, der unter die Haut geht, niemanden unberührt lässt. Ein Film, der zugleich weiterführende Fragen zu Faschismus und Krieg und zur deutsch-griechischen Geschichte provoziert.
Dank der beharrlichen Bemühungen der Berliner Initiative »Respekt für Griechenland« e. V. kann der Film jetzt in einer vom Regisseur auf 43 Minuten gekürzten Fassung für die antifaschistische (Jugend-)Arbeit in Deutschland eingesetzt werden. Die Initiative hat dafür gesorgt, dass die Arbeit mit dem Film seit Herbst 2020 – trotz der schwierigen Bedingungen während der COVID-19-Pandemie – drei Jahre lang erfolgreich pädagogisch erprobt und evaluiert worden ist. 35 Lehrerinnen und Lehrer in 53 Lerngruppen in acht Bundesländern waren daran beteiligt. Sie haben durchweg positive Rückmeldungen gegeben und empfehlen, den Film im Schulunterricht ab der 10. Klasse einzusetzen. Nun steht der mit deutschen Untertiteln versehene Film, zusammen mit sachkundigem Begleitmaterial, leicht zugänglich zur Verfügung: Die Bundeszentrale für politische Bildung hat eine Lizenz des Films erworben und ihn in ihre Mediathek eingestellt.
Es war der Bremer Rechtshistoriker Prof. Christoph U. Schminck-Gustavus, der Ende der 1980er Jahre deutsche Kriegsverbrechen in Griechenland recherchiert hat. 2013 hat er in seinem Buch »Feuerrauch – Die Vernichtung des griechischen Dorfes Lyngiades am 3.Oktober 1943« (335 Seiten, Dietz-Verlag, Bonn) eindrücklich beschrieben, wie er die letzten Überlebenden des Massakers gefunden, ihre Berichte mit einem Kassettenrekorder aufgezeichnet, die Archive gesichtet und das Verbrechen und seine juristische Verleugnung rekonstruiert hat.
Die Mordtaten waren eine sogenannte »Sühneaktion« der Deutschen Wehrmacht, angeordnet von General Hubert Lanz. »Schonungslose Vergeltung«, so lautete sein Befehl, nachdem wenige Tage zuvor ein Regimentskommandeur, Oberstleutnant Josef Salminger, und dessen Fahrer an einer Straßensperre von griechischen Partisanen getötet worden waren. Erst beschossen die Deutschen Lyngiades, das sie für ein »Partisanennest« hielten, mit Artillerie. Dann stiegen Gebirgsjäger zum Dorf hinauf, zu dem damals keine Straßen führten.
»Keiner der Einwohner von Lyngiades rechnete damit, dass die Deutschen Zivilisten massakrieren würden«, hat Schminck-Gustavus im Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung erläutert. »Die Männer fürchteten aber, zur Zwangsarbeit herangezogen zu werden. Deshalb flüchteten sie. Die Deutschen trieben alle auf dem Dorfplatz zusammen, die sie finden konnten, teilweise schlugen sie mit Gewehrkolben zu: Frauen, Greise, Behinderte, Kinder standen vor den Deutschen. Dann wurden sie in Grüppchen von zehn, zwölf Leuten abgeführt. Zuerst wurden die Männer in Keller gebracht, wo sie erschossen wurden. Danach kamen die Frauen und Kinder dran. Anschließend plünderten die Deutschen das Dorf und zündeten es an. Fünf Menschen überlebten nur deshalb, weil sie leicht oder unverletzt unter den Leichen ihrer Kinder, Eltern und Nachbarn lagen und sich totstellten.«
Filmemacher Konstantinidis, 1982 in Athen geboren, erzählt im Begleitmaterial zum Film: »Von klein auf verbrachte ich meine Ferien bei den Großeltern in Lyngiades, dem Geburtsort meiner Mutter. Für mich war Lyngiades die Stätte meiner Kindheit, dorthin entfloh ich der Betonwüste Athens, dort roch ich in die Natur, rannte über Steine und blickte von hoch oben auf Ioannina hinab. Für mich war es mein Balkon.« Schon in jungen Jahren hatte ihm seine Großmutter von dem Massaker erzählt. Diese hatte – wie auch sein Großvater – überlebt, weil beide mit anderen Dorfbewohnern gerade zur Walnussernte in einem Nachbardorf waren.
Als wesentlichen Antrieb, den Dokumentarfilm zu drehen, nennt Konstantinidis ein »Gefühl«: »Ein Gefühl tiefverwurzelten Schmerzes, der, wie ich nach jahrelanger Psychotherapie erkannte, direkt mit der generationenübergreifenden Weitergabe der Wunde, der Trauer verbunden ist.« Zudem habe er während seines Studiums an der Filmakademie in Athen dem »Ungeheuer in die Augen« geblickt, als im Jahr 2008 die kriminelle Neonazi-Organisation »Goldene Morgenröte« Pogrome an Immigranten in Griechenland verübte. Als entscheidend für die Gestaltung des Films habe sich die Bekanntschaft mit Schminck-Gustavus erwiesen. Dank dessen Ton-Kassetten konnte Konstantinidis auch die Stimmen bereits verstorbener Zeitzeugen im Film wieder zum Leben erwecken.
Im öffentlichen Raum zeigen die Initiative »Respekt für Griechenland« und andere Gruppen den Film auch in der originalen Langfassung. Sie wollen damit einen Beitrag leisten gegen die jahrzehntelange Verdrängung der deutschen Kriegsschuld gegenüber Griechenland. Auch heute noch sind die von der Wehrmacht und der SS verübten Verbrechen an der griechischen Zivilbevölkerung sowie die Zerstörung und Beraubung des Landes, bei dem die Nazis erstmals die für den Überfall auf die Sowjetunion erarbeiteten Raub- und Vernichtungspläne erprobten, in Deutschland weitgehend unbekannt.
Es hat bis zum 7. März 2014 gedauert, dass der damalige Bundespräsident Joachim Gauck sich in Lyngiades vor dem Mahnmal für die Opfer verneigte, »Scham und Schmerz« über die Mordtaten bekannte und als erster Repräsentant Deutschlands die Griechen um »Verzeihung« gebeten hat. Allerdings verweigern die deutschen Regierungen Griechenland bis heute Wiedergutmachungsleistungen und sogar die Rückzahlung eines Zwangskredits, den das Dritte Reich dem Land abgepresst hatte.
Filmzugang via Bundeszentrale für pol. Bildung: https://www.bpb.de/mediathek/video/515302/der-balkon.
Filmzugang via Respekt für Griechenland: https://respekt-fuer-griechenland.de/?p=6433.