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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Mord auf dem Balkon

Lyn­gia­des ist ein grie­chi­sches Berg­dorf im Epi­rus-Gebir­ge. Es liegt steil ober­halb der Pro­vinz­haupt­stadt Ioan­ni­na, und weil die Men­schen von dort eine herr­li­che Aus­sicht auf die Stadt und den benach­bar­ten Pam­vo­ti­da-See haben, nen­nen die Grie­chen das Dorf »to Bal­ko­ni«, der Bal­kon. So hat der grie­chi­sche Fil­me­ma­cher Chry­san­thos Kon­stan­ti­ni­dis auch sei­nen Doku­men­tar­film beti­telt, mit dem er an eine von zahl­rei­chen Mord­ak­tio­nen deut­scher Sol­da­ten wäh­rend der Besat­zung Grie­chen­lands im Zwei­ten Welt­krieg (1941-1944/45) erin­nert. Damals am 3. Okto­ber 1943 hat­ten Gebirgs­jä­ger aus dem baye­ri­schen Mit­ten­wald 82 Bewoh­ner von Lyn­gia­des – überwiegend Frau­en, Alte und Kin­der – bestia­lisch umge­bracht und das Dorf fast voll­stän­dig zerstört.

Sein Film »Der Bal­kon – Wehr­machts­ver­bre­chen in Grie­chen­land« wur­de mehr­fach aus­ge­zeich­net. Die zu Wort kom­men­den Zeit­zeu­gen berich­ten kon­kret und anschau­lich über die erschrecken­de Wahr­heit des Mas­sa­kers. So ist ein Film ent­stan­den, der unter die Haut geht, nie­man­den unbe­rührt lässt. Ein Film, der zugleich wei­ter­füh­ren­de Fra­gen zu Faschis­mus und Krieg und zur deutsch-grie­chi­schen Geschich­te provoziert.

Dank der beharr­li­chen Bemü­hun­gen der Ber­li­ner Initia­ti­ve »Respekt für Grie­chen­land« e. V. kann der Film jetzt in einer vom Regis­seur auf 43 Minu­ten gekürz­ten Fas­sung für die anti­fa­schi­sti­sche (Jugend-)Arbeit in Deutsch­land ein­ge­setzt wer­den. Die Initia­ti­ve hat dafür gesorgt, dass die Arbeit mit dem Film seit Herbst 2020 – trotz der schwie­ri­gen Bedin­gun­gen wäh­rend der COVID-19-Pan­de­mie – drei Jah­re lang erfolg­reich päd­ago­gisch erprobt und eva­lu­iert wor­den ist. 35 Leh­re­rin­nen und Leh­rer in 53 Lern­grup­pen in acht Bun­des­län­dern waren dar­an betei­ligt. Sie haben durch­weg posi­ti­ve Rück­mel­dun­gen gege­ben und emp­feh­len, den Film im Schul­un­ter­richt ab der 10. Klas­se ein­zu­set­zen. Nun steht der mit deut­schen Unter­ti­teln ver­se­he­ne Film, zusam­men mit sach­kun­di­gem Begleit­ma­te­ri­al, leicht zugäng­lich zur Verfügung: Die Bun­des­zen­tra­le für poli­ti­sche Bil­dung hat eine Lizenz des Films erwor­ben und ihn in ihre Media­thek eingestellt.

Es war der Bre­mer Rechts­hi­sto­ri­ker Prof. Chri­stoph U. Schmin­ck-Gustavus, der Ende der 1980er Jah­re deut­sche Kriegs­ver­bre­chen in Grie­chen­land recher­chiert hat. 2013 hat er in sei­nem Buch »Feu­er­rauch – Die Ver­nich­tung des grie­chi­schen Dor­fes Lyn­gia­des am 3.Oktober 1943« (335 Sei­ten, Dietz-Ver­lag, Bonn) ein­drück­lich beschrie­ben, wie er die letz­ten Über­le­ben­den des Mas­sa­kers gefun­den, ihre Berich­te mit einem Kas­set­ten­re­kor­der auf­ge­zeich­net, die Archi­ve gesich­tet und das Ver­bre­chen und sei­ne juri­sti­sche Ver­leug­nung rekon­stru­iert hat.

Die Mord­ta­ten waren eine soge­nann­te »Sühneaktion« der Deut­schen Wehr­macht, ange­ord­net von Gene­ral Hubert Lanz. »Scho­nungs­lo­se Ver­gel­tung«, so lau­te­te sein Befehl, nach­dem weni­ge Tage zuvor ein Regi­ments­kom­man­deur, Oberst­leut­nant Josef Sal­min­ger, und des­sen Fah­rer an einer Stra­ßen­sper­re von grie­chi­schen Par­ti­sa­nen getö­tet wor­den waren. Erst beschos­sen die Deut­schen Lyn­gia­des, das sie für ein »Par­ti­sa­nen­nest« hiel­ten, mit Artil­le­rie. Dann stie­gen Gebirgs­jä­ger zum Dorf hin­auf, zu dem damals kei­ne Stra­ßen führten.

»Kei­ner der Ein­woh­ner von Lyn­gia­des rech­ne­te damit, dass die Deut­schen Zivi­li­sten mas­sa­krie­ren wür­den«, hat Schmin­ck-Gustavus im Gespräch mit der Süd­deut­schen Zei­tung erläu­tert. »Die Män­ner fürch­te­ten aber, zur Zwangs­ar­beit her­an­ge­zo­gen zu wer­den. Des­halb flüch­te­ten sie. Die Deut­schen trie­ben alle auf dem Dorf­platz zusam­men, die sie fin­den konn­ten, teil­wei­se schlu­gen sie mit Gewehr­kol­ben zu: Frau­en, Grei­se, Behin­der­te, Kin­der stan­den vor den Deut­schen. Dann wur­den sie in Grüpp­chen von zehn, zwölf Leu­ten abge­führt. Zuerst wur­den die Män­ner in Kel­ler gebracht, wo sie erschos­sen wur­den. Danach kamen die Frau­en und Kin­der dran. Anschlie­ßend plün­der­ten die Deut­schen das Dorf und zün­de­ten es an. Fünf Men­schen über­leb­ten nur des­halb, weil sie leicht oder unver­letzt unter den Lei­chen ihrer Kin­der, Eltern und Nach­barn lagen und sich totstellten.«

Fil­me­ma­cher Kon­stan­ti­ni­dis, 1982 in Athen gebo­ren, erzählt im Begleit­ma­te­ri­al zum Film: »Von klein auf ver­brach­te ich mei­ne Feri­en bei den Groß­el­tern in Lyn­gia­des, dem Geburts­ort mei­ner Mut­ter. Für mich war Lyn­gia­des die Stät­te mei­ner Kind­heit, dort­hin ent­floh ich der Beton­wü­ste Athens, dort roch ich in die Natur, rann­te über Stei­ne und blick­te von hoch oben auf Ioan­ni­na hin­ab. Für mich war es mein Bal­kon.« Schon in jun­gen Jah­ren hat­te ihm sei­ne Groß­mutter von dem Mas­sa­ker erzählt. Die­se hat­te – wie auch sein Groß­va­ter – über­lebt, weil bei­de mit ande­ren Dorf­be­woh­nern gera­de zur Wal­nuss­ern­te in einem Nach­bar­dorf waren.

Als wesent­li­chen Antrieb, den Doku­men­tar­film zu dre­hen, nennt Kon­stan­ti­ni­dis ein »Gefühl«: »Ein Gefühl tief­ver­wur­zel­ten Schmer­zes, der, wie ich nach jah­re­lan­ger Psy­cho­the­ra­pie erkann­te, direkt mit der gene­ra­tio­nen­über­grei­fen­den Wei­ter­ga­be der Wun­de, der Trau­er ver­bun­den ist.« Zudem habe er wäh­rend sei­nes Stu­di­ums an der Film­aka­de­mie in Athen dem »Unge­heu­er in die Augen« geblickt, als im Jahr 2008 die kri­mi­nel­le Neo­na­zi-Orga­ni­sa­ti­on »Gol­de­ne Mor­gen­rö­te« Pogro­me an Immi­gran­ten in Grie­chen­land ver­üb­te. Als ent­schei­dend für die Gestal­tung des Films habe sich die Bekannt­schaft mit Schmin­ck-Gustavus erwie­sen. Dank des­sen Ton-Kas­set­ten konn­te Kon­stan­ti­ni­dis auch die Stim­men bereits ver­stor­be­ner Zeit­zeu­gen im Film wie­der zum Leben erwecken.

Im öffent­li­chen Raum zei­gen die Initia­ti­ve »Respekt für Grie­chen­land« und ande­re Grup­pen den Film auch in der ori­gi­na­len Lang­fas­sung. Sie wol­len damit einen Bei­trag lei­sten gegen die jahr­zehn­te­lan­ge Ver­drän­gung der deut­schen Kriegs­schuld gegenüber Grie­chen­land. Auch heu­te noch sind die von der Wehr­macht und der SS ver­üb­ten Ver­bre­chen an der grie­chi­schen Zivil­be­völ­ke­rung sowie die Zer­stö­rung und Berau­bung des Lan­des, bei dem die Nazis erst­mals die für den Über­fall auf die Sowjet­uni­on erar­bei­te­ten Raub- und Ver­nich­tungs­plä­ne erprob­ten, in Deutsch­land weit­ge­hend unbekannt.

Es hat bis zum 7. März 2014 gedau­ert, dass der dama­li­ge Bun­des­prä­si­dent Joa­chim Gauck sich in Lyn­gia­des vor dem Mahn­mal für die Opfer ver­neig­te, »Scham und Schmerz« über die Mord­ta­ten bekann­te und als erster Reprä­sen­tant Deutsch­lands die Grie­chen um »Ver­zei­hung« gebe­ten hat. Aller­dings ver­wei­gern die deut­schen Regie­run­gen Grie­chen­land bis heu­te Wie­der­gut­ma­chungs­lei­stun­gen und sogar die Rück­zah­lung eines Zwangs­kre­dits, den das Drit­te Reich dem Land abge­presst hatte.

Film­zu­gang via Bun­des­zen­tra­le für pol. Bil­dung: https://www.bpb.de/mediathek/video/515302/der-balkon.
Film­zu­gang via Respekt für Grie­chen­land: https://respekt-fuer-griechenland.de/?p=6433.