Wir erfahren gegenwärtig aus Regierungsquellen, dass mit dem Mord an dem hohen Beamten Walter Lübcke in Kassel drei bisher unbekannte Phänomene die besondere Gefahr kennzeichnen, die neuerdings von Nazis ausgehe. Pardon: von Rechtsextremen. Nazis gibt es nicht, und die Linksextremen müssen auch immer als Gefahr gesehen werden … Die drei Phänomene: Schläfer als Mörder, Politiker als Opfer und Hassreden als Motiv.
Da sind also überraschend »Schläfer« aufgetaucht.
Überraschend? »Geh zur Bundeswehr« hieß es in einem Aufruf der NPD-Jugendzeitschrift Umbruch aus dem Jahr 1995. Junge »Kameraden und Kameradinnen« in der Berufswahl sollten »eine Ausbildung bei Bundeswehr und Polizei in Erwägung ziehen, mit dem Ziel, sich in besonders qualifizierten Spezialeinheiten das nötige Wissen und Können anzueignen«. Der Initiator des Aufrufs ist Steffen Hupka, ehemaliger Mitarbeiter des verstorbenen Neonaziführers und Leutnants a. D. Michael Kühnen. Hupka: »Widerstand, der auf die Beseitigung eines volksfeindlichen Systems zielt, muß professionell geplant sein.« Der Aufruf war erfolgreich. Zahlreiche Nazischläger und Gewalttäter gehörten der Bundeswehr an oder sind noch Mitglieder des Reservistenverbandes. In Medienberichten über Gewalttaten wird die Bundeswehr grundsätzlich nicht erwähnt, obwohl sich dort aber Schläfer finden. Schläfer, die etwa beim Bildungswerk des Deutschen Bundeswehrverbandes mit Namen »Karl Theodor Molinari« eine Weiterbildung machten oder machen. Molinari war Wehrmachtsoffizier, Bundeswehrgeneral und in Frankreich verurteilter Kriegsverbrecher.
Zweitens heißt es: Nunmehr gebe es auch den Mord an Politikern – wie zuletzt in den zwanziger Jahren. Das habe man nicht vorhersehen können. Also auch überraschend? Politiker stehen seit über 25 Jahren auf der Todesliste »Einblick«. Das Muster, das dort vorgeschlagen wird, findet sich nun im Fall Lübcke wieder, spielte aber bereits 2015 beim Anschlag auf Henriette Reker eine Rolle.
Die Neonazis drängen schon seit 1992 auf immer neue Maßnahmen gegen den »Ethnozid an den Deutschen«. Und so wollen sie diese Maßnahmen durchsetzen: »Der eigentliche Gegner ist nicht der Asylant, der Zigeuner, der Wirtschafts- oder Kriegsflüchtling. Wir müssen uns an die halten, die uns die Suppe eingebrockt haben.« So heißt es in »Einblick«, wo detailliert aufgeführt wird: »Und das sind 1. der deutsche Gesetzgeber, die deutsche Regierung und alle nachgeordneten deutschen Behörden, 2. die deutschen Parteipolitiker von CDUCSUSPDFDPPDSGRÜNEN, 3. deutsche Juristen, 4. deutsche Kirchenvertreter, 5. deutsche Gewerkschaftsfunktionäre, 6. deutsche Unternehmer, die ›billige Ausländer‹ beschäftigen, 7. deutsche Medienvertreter, 8. deutsche Lehrer aller Schulstufen und Professoren, 9. deutsche Schriftsteller und andere Kunstschaffende, 10. Funktionäre deutscher Sportvereine und -verbände, 11. verschiedene Bürgerinitiativen, gesellschaftliche Gruppierungen, Vereine und Verbände, 12 mehr oder weniger bekannte und einflussreiche deutsche Einzelpersönlichkeiten.« Sie alle seien »Inländerfeinde«.
Sie sollen mit politischen Mitteln und mit Gewalt ausgeschaltet werden: »Alle diese Leute müssen wissen, dass sie die Zielscheibe künftiger grundstürzender Veränderungen sein werden und dass sie unter Umständen ein gewisses Risiko eingehen, wenn sie ihre Aktivitäten fortsetzen.« So hieß es im zentralen neofaschistischen Magazin Nation Europa11/12-1992. Und dann ein Jahr später in der Todesliste »Einblick«. Waren die Warnungen vor dem Konzept der Nation Europa noch als Spinnerei abgetan worden, so gab der »Einblick« einen Eindruck, wie ernst solche Konzepte gemeint sind: »Jeder von uns muß selbst wissen, wie er mit den ihm hier zugänglich gemachten Daten umgeht. Wir hoffen nur, ihr geht damit um!« Das Einblick-Konzept geistert seit vielen Jahren durch die Nazi-Medien. Der NSU hielt sich vor allem an Menschen mit Migrationshintergrund, hatte aber im Jahr 2007 mit der Polizistin Michele Kiesewetter auch schon jene Beamten im Blick, die »uns das eingebrockt« haben. Und nun rücken die führenden Leute ins Visier. Gegen Frau Merkel sollen Galgen helfen, die schon mal als Modelle von Pegida durch die Straßen getragen werden.
Bemerkenswert ist drittens tatsächlich, dass wenig Genaues über die Motive der Täter gesagt wird. Sie seien voll Hass und aus ihren Worten würden Taten, so heißt es unbestimmt. Sie lehnten Toleranz ab. Na und? Toleranz gegenüber Intoleranten? Nein, sagen vernünftigerweise viele Leute.
Was ist der Antrieb für rechten Hass und die entsprechenden Handlungen? Deutschland werde an die Fremden verkauft, sagen nicht nur die ganz Rechten. Man müsse den Holocaust an den Deutschen verhindern. Der Gedanke vom »Volkstausch« geistert durch rechte Medien. Dagegen sei Widerstand erlaubt, sogar der Widerstandsartikel 20 des Grundgesetzes wird bemüht. Und somit würden »die Schuldigen« bestraft. Die Vorbereitung solcher Verbrechen geht nicht nur auf das Konto der rechtesten Kreise, sondern auch auf das der ganz bürgerlichen Hetzer aus der Mitte. Thilo Sarazzin ist noch immer in der SPD.
»Das deutsche Volk hat ein Naturrecht auf Erhaltung seiner Identität und Eigenart«, weshalb eine »ethnische Katastrophe« durch »Überfremdung« abzuwenden sei. Das steht im »Heidelberger Manifest« deutscher Professoren vom Juni 1981, der Kampfschrift, mit der de facto der Krieg gegen den wachsenden »asiatischen Anteil« an der Bevölkerung erklärt wurde. »Deutschland schafft sich ab« von Thilo Sarrazin ist dreißig Jahre später ein weiterer Höhepunkt derartiger Publikationen. Stets werden sie vom Beifall der äußersten Rechten empfangen.
»Schäuble: Europäer sollen Abwehr des Ausländerzustroms gemeinsam regeln«, titelte die Westfälische Rundschau am 3. August 1991. Das »Ausländerproblem« wurde zum Kriegsgrund, zur Begründung militärischer Einsätze. Wo die Führungen von SPD und Grünen Auschwitz bemühten, das künftig durch Kriege zu verhindern sei, haben sich die CDU und CSU gern mehr an völkische Begründungen gehalten, irgendwie ehrlicher. Da berichtete die Allgäuer Zeitung vom 15. Mai 1998 über den Wahlkampfauftritt von CDU-Minister Volker Rühe vor Bundeswehrangehörigen in Marktoberdorf: »Wenn wir im Kosovo nicht richtig reagieren, haben wir noch mehr Flüchtlinge im Land.« Das war die Ankündigung eines Angriffskrieges zur Abwendung von »Flüchtlingsströmen«. Mit Bundeswehrpublikationen wurde die Truppe auf den Krieg gegen den Zustrom von Ausländern eingestellt. Darin wurden schon in den neunziger Jahren die Ausländer als Bedrohung und ihr »Zustrom« als Anlass für »militärische Einsätze« zur »Daseinsvorsorge« dargestellt. Mit einer multikulturellen Gesellschaft drohe ein Anspruch der Ausländer auf gleiche soziale und politische Rechte und somit eine »politische und wirtschaftliche Destabilisierung der Bundesrepublik Deutschland« (Information für die Truppe, IfdT 9/92). »Schutz vor unkontrollierten Zuwanderungen und vor Überfremdung« als einer »neuen Bedrohung« wurde in IfdT 5/97 als militärische Aufgabe genannt. Schon in der Vorlage des Bundesministers für Verteidigung vom 20. Januar 1992 zur »Neugestaltung der Bundeswehr« – erster Entwurf der Verteidigungspolitischen Richtlinien – wurden militärische Maßnahmen gegen den »Zuwanderungsdruck« vorgesehen.
Der im Mordfall Lübcke inhaftierte Stephan Ernst, hat offenbar den norwegischen Massenmörder Anders Breivik gelesen. Und der zitierte den Blog von »Fjordman«: »Der Islam und alle, die ihn praktizieren, müssen total und physisch aus der gesamten westlichen Welt entfernt werden.« Für Breivik sind der Zustrom von Muslimen und der Einfluss von Marxisten und Islamisten die Hauptgefahren für Europa, und gegen sie sei der Krieg zu führen. Mindestens 76 Tote waren in diesem Krieg am 22. Juli 2011 in Oslo und Utøya zu beklagen, nahezu 169 Tote hat dieser Krieg der Neonazis in Deutschland bisher gefordert. Ungezählt die Toten im Krieg gegen den »islamistischen Terror«, darunter die mindestens 140 Todesopfer des Obersten Georg Klein vom September 2009 am Kundusfluss. Es sollen »islamistische Anführer«, so Klein, unter ihnen gewesen sein, weshalb all die anwesenden Kinder, Frauen und Greise gleich mit ermordet wurden.
Nein, die Phänomene sind so neu nicht, die sichtbar wurden.
Werden Lehren daraus gezogen? Der Verfassungsschutzbericht 2018 von NRW wurde von Bild mit der Überschrift versehen: »Mehr linke Gewalt«.