Skip to content

Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

Menu
Menu

Monatsrückblick: Unverständnis

Ich gebe ja zu, ich ver­ste­he es auch nicht. Also gut, ich ver­ste­he, dass weni­ger Wahl­be­rech­tig­te SPD, FDP, Grü­ne und CDU wähl­ten (ich habe ja auch nie kapiert, dass so vie­le sie bis­her gewählt haben). Ich kann auch noch nach­voll­zie­hen, wes­halb so vie­le Wäh­ler nun AfD oder BSW gewählt haben: Auf jeden Fall was Ande­res als das Bisherige!

Aber was jetzt in den Medi­en und in den Lan­des­par­la­men­ten abge­zo­gen wird, das ist jen­seits mei­nes Ver­ständ­nis­ses. Da gibt die Bran­den­bur­ger CDU der SPD die Schuld an ihren Stimm­ver­lu­sten: Woid­ke hät­te zuge­spitzt! Und auch die Bran­den­bur­ger GRÜNEN haben die SPD als Schul­di­ge an ihrem Desa­ster aus­ge­macht. Die LINKE gibt natür­lich dem BSW die Schuld – dabei ist das BSW ja schon die Ant­wort auf das poli­ti­sche Ver­sa­gen der LINKEN. Kein Wahl­ver­lie­rer sieht die Schuld bei sei­nem eige­nen Ver­hal­ten, auf das die Wäh­ler eine ver­nich­ten­de Quit­tung gaben.

Und die Medi­en? Die über­schlu­gen sich vor­her schon mit Unter­gangs­pro­phe­zei­hun­gen, wenn die AfD über 30 Pro­zent der Stim­men bekommt – und fra­gen sich jetzt nicht etwa, ob sie mit ihren Unken­ru­fen viel­leicht auch eine Mit­schuld haben? Nein, sie haben alles getan, um die AfD zu ver­teu­feln. Bloß, wer den Teu­fel an die Wand malt, macht ihn damit erst real, oder? Wenn sich ein Wäh­ler gefragt hat: Wie kann ich die jewei­li­ge Regie­rung am mei­sten ärgern? Dann war die Ant­wort klar: Indem du dein Kreuz bei der AfD machst. Eine wirk­li­che Alter­na­ti­ve zum Poli­tik­schei­tern in allen Berei­chen der Daseins­vor­sor­ge gibt es nicht auf wei­ter Flur. Es sei denn, man glaubt, weni­ger Aus­län­der machen die Bahn zuver­läs­si­ger und hal­ten den Kli­ma­wan­del auf. Wenn CDU und SPD ver­eint Grenz­kon­trol­len und Bezahl­kar­ten zu ihrem Schwer­punkt­the­ma machen, wer kann ihnen dann noch Lösun­gen für die wirk­lich bren­nen­den Pro­ble­men zutrau­en? Ganz zu schwei­gen von der Abwehr eines Krie­ges mit Russ­land? Vor dem haben näm­lich vie­le Wäh­ler Angst. Die Mehr­heit in Deutsch­land ist laut Umfra­gen immer noch nicht davon über­zeugt, dass die Ukrai­ne Russ­land besie­gen wird oder wir es rui­nie­ren kön­nen (bevor wir uns selbst rui­niert haben). Und das, obwohl ande­re Mei­nun­gen in den Medi­en schon gar nicht mehr prä­sen­tiert wer­den ohne das dif­fa­mie­ren­de Schild: Putin-Troll. Offen­bar ver­ste­hen weder Medi­en noch Poli­ti­ker, was die Bür­ger wol­len: In Frie­den und Sicher­heit leben und eine wirt­schaft­li­che Per­spek­ti­ve für sich und ihre Kin­der und Enkel erkennen.

Die »Wer­te der frei­en Welt« erschei­nen näm­lich über­flüs­sig, wenn die Frei­heit dar­in besteht, unter Brücken zu schla­fen, die jeder­zeit zusam­men­bre­chen kön­nen. Und die Vor­tei­le einer reprä­sen­ta­ti­ven Demo­kra­tie zer­brö­seln, wenn wie in Thü­rin­gen die gewähl­ten Land­ta­ge sich nicht ein­mal kon­sti­tu­ie­ren kön­nen, weil Geschäfts­ord­nungs­an­trä­ge nicht abge­stimmt wer­den (jW 27.09.24). Und das wird so wei­ter­ge­hen, wenn die Alt­par­tei­en kei­nen ver­nünf­ti­gen Umgang unter­ein­an­der und mit den neu­en Par­tei­en in den Par­la­men­ten fin­den. Das stärkt die AfD, die die reprä­sen­ta­ti­ve Demo­kra­tie nach außen hin zum Kot­zen fin­det, aber ger­ne deren Vor­tei­le nutzt.

Und war­um hat­te sich die Thü­rin­ger CDU dage­gen gesträubt, die Geschäfts­ord­nung des Land­tags vor der Wahl so zu ändern, dass kein Alters­prä­si­dent aus der AfD sei­ne kur­ze Macht als vor­läu­fi­ger Land­tags­prä­si­dent aus­nut­zen kann? Wie in heu­te vom 26.09.24 erklärt wur­de, haben Poli­tik­wis­sen­schaft­ler die Situa­ti­on näm­lich kom­men sehen und zur Vor­beu­gung eine Ände­rung der Geschäfts­ord­nung vorgeschlagen.

Ver­steht jemand, war­um trotz wirt­schaft­li­cher Rezes­si­on in Deutsch­land mehr gear­bei­tet wird als je zuvor? Das Arbeits­vo­lu­men sei auf 14,7 Mil­li­ar­den Stun­den gestie­gen und lie­ge damit erst­mals über dem Stand vor der Coro­na­kri­se, teil­te das Insti­tut für Arbeits­markt- und Berufs­for­schung (IAB) in Nürn­berg mit. »In Deutsch­land wur­de noch nie so viel gear­bei­tet – mit­ten im Wirt­schafts­ab­schwung«, sag­te IAB-Arbeits­markt­for­scher Enzo Weber. Der bis­he­ri­ge Höchst­wert war im zwei­ten Quar­tal 2019 mit 14,6 Mil­li­ar­den Arbeits­stun­den erreicht wor­den. Die Arbeits­zeit pro Per­son stieg laut IAB um 0,4 Pro­zent gegen­über dem Vor­jah­res­quar­tal. (dpa/​jW 03.09.24)

Immer mehr Arbeit und immer weni­ger Arbeits­plät­ze? Immer mehr mar­tia­li­sche Aus­ga­ben und immer weni­ger Sicher­heit? Immer mehr Regu­lie­run­gen und immer mehr Umwelt­ver­schmut­zung und Rechts­beu­gung? Das letz­te­re ver­ste­hen jetzt auch die Vor­sit­zen­den der Grü­nen Jugend nicht mehr. In der Nacht zum 26.09.24 ver­kün­de­te der kom­plet­te Vor­stand, er wer­de der Mut­ter­par­tei Bünd­nis 90/​Die Grü­nen den Rücken keh­ren. Die zwölf Nach­wuchs­po­li­ti­ker wol­len nach dem Bun­des­kon­gress Mit­te Okto­ber in Leip­zig geschlos­sen den Ver­band ver­las­sen. »Wir wer­den uns danach auf­ma­chen, einen neu­en, dezi­diert lin­ken Jugend­ver­band zu grün­den«, so der Vor­stand der Grü­nen Jugend in einer Erklä­rung (jW 27.09.24). Sie schrei­ben ihrer Par­tei ins Stamm­buch: »Die Lebens­mit­tel­prei­se stei­gen, die Mie­ten explo­die­ren, har­te Arbeit erfährt kaum noch Wert­schät­zung. Wir beob­ach­ten mit Sor­ge, dass vie­le Men­schen gera­de den Glau­ben dar­an ver­lie­ren, dass es irgend­wann mal bes­ser wer­den kann.« Hey, ich versteh’s nicht: Ihr fühlt Euch als links und seid bei den GRÜNEN? Und ihr habt das erst jetzt ent­deckt, dass in und mit den GRÜNEN offen­bar kein Blu­men­topf (sprich: Posten) bei Wah­len mehr zu gewin­nen ist?

Da lob ich mir doch die Labour-Par­ty, die auf ihrem Par­tei­tag in Liver­pool ihrem Pre­mier­mi­ni­ster bei wich­ti­gen Abstim­mun­gen Paro­li bot (jW 27.09.24). Da scheint jemand etwas ver­stan­den zu haben …