Dass die türkische Regierung Politiker, die sich gegen sie stellen, als Terroristen verfolgt, das bringt die EU-Gremien höchstens mal zu hochgezogenen Augenbrauen. Aber dass die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bei ihrem Besuch keinen Stuhl angeboten bekommt, das geht zu weit! Konservative und Sozialdemokraten als größte Fraktionen im EU-Parlament verlangten zu der »Sofagate«-Affäre eine Plenarsitzung mit von der Leyen und dem mit ihr gereisten EU-Ratspräsidenten Charles Michel. Der musste sich öffentlich rechtfertigen, weil er in Ankara nicht sofort gegen von der Leyens Behandlung protestiert hatte (AFP/jW, 09.04.21).
Die russische Armee hält Militärmanöver auf ihrem eigenen Staatsgebiet ab, das geht für viele Mediensprecher zu weit. Ein Überfall auf die Ukraine stünde kurz bevor, bibbert deren Präsident Selenskij und fordert Waffen und Rückendeckung durch die Nato. Dann ziehen die russischen Soldaten nach beendetem Manöver wieder ab in ihre Heimatkasernen – Schweigen im Blätterwald. Nicht mal Erleichterung, dass der angebliche Angriff ausgeblieben ist. Aber dass Russland sich bedroht fühlt, wenn an seinen Grenzen Nato-Truppen den Einfall in Russland üben, das geht zu weit!
Die CDU hat ihren Kanzlerkandidaten, und einen prominenten Austritt: »Ein schwammiger und hilfloser Kanzlerwahlverein« sei die CDU, sagt Peter-Michael Diestel, ehemals letzter Innenminister der DDR, und tritt aus dieser seiner Partei nun aus (MAZ, 22.04.21).
Herr Diestel, kleiner Hinweis: Solange die CDU besteht, ist sie ein Kanzlerwahlverein. Aber nun auch noch schwammig und hilflos – das geht zu weit, da haben Sie Recht.
Immerhin gehen Sie nicht so weit wie Björn Höcke und erkennen Herrn Laschet das »politisch-historisch-philosophische Tiefenbewusstsein« ab (Björn Höcke über den AfD- Parteivorsitzenden Jörg Meuthen (jW, 12.04.21)). Nun, Herrn Söder zu unterstellen, er habe ein solches, würde ja nun auch zu weit gehen.
Währenddessen stellte Frau Merkel die existentielle Frage: »Wer sind wir denn, wenn wir diese Notrufe überhören würden?« In der Bundestagsdebatte über die Reform des Infektionsschutzgesetzes, auch Bundesnotbremsengesetz genannt, dienten die »Notrufe«-Äußerungen von Intensivmedizinern, die den Lockdown fordern, weil die Intensivstationen überlastet werden könnten, als Begründung für bundesweites Durchgreifen (MAZ 17./18.04.21). Ja, wer sind Sie denn, Frau Merkel? Im Überhören von Notrufen war diese Regierung bisher richtig gut. Seit Jahren rufen Ärzte, Pfleger und andere Fachleute im Gesundheitswesen die Not in den Krankenhäusern laut aus – auch ohne Pandemie ist die Überlastung groß, die Arbeitszeit zu lang, die Stellen unterbesetzt, die Orientierung am Gewinn gesundheitsschädlich. Solange es nicht darum ging, die Macht der Bundesregierung über die Länder und Kommunen auszuweiten und Ausgangssperren auszurufen, wurde gern alles überhört.
Nicht überhört wurde der Offene Brief von 1200 französischen Militärangehörigen, darunter 20 Generäle, die eine »landesweite Verteidigung gegen Islamismus, Antirassismus und den Horden aus den Vorstädten« fordern (jW 28.04.21). Veröffentlicht wurde der Brief am 60. Jahrestag des versuchten Putsches von Teilen der Armee, die die Befreiung Algeriens nicht hinnehmen wollten. Aber dass Madame Le Pen das gutheißt, das geht zu weit!
Der Eilantrag mehrerer Musiker gegen die Schließung von Kultureinrichtungen während der Pandemie ist vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof abgelehnt worden. »Der Genuss von Kunst und Kultur (sei) nicht von der Kunstfreiheit selbst geschützt«, entschied das Gericht (dpa/jW 16.04.21). Dagegen erweise sich »der Eingriff in die Kunst- und Berufsfreiheit der Antragsteller (…) im Hinblick auf den Schutz der körperlichen Unversehrtheit und der Gesundheit einer Vielzahl von Menschen (…) als erforderlich und angemessen«.
Weder für erforderlich noch für angemessen hält die offizielle Öffentlichkeit die satirischen Videos, die über 50 Schauspielerinnen und Schauspieler veröffentlicht haben. Einige davon sind sehr bekannt, und sie bekennen sich zu ihrer Angst. Die vor Viren und die vor Beifall von der falschen Seite. Manche forderten, auch die Lebensmittelläden endlich dicht zu machen, denn nur wenn die Menschen verhungert wären, sei das Virus zu stoppen. Ein hübscher, nicht immer ganz gelungener, provokanter Spaß wäre das gewesen – zu weniger hysterischen Zeiten. Aber als hätten diese Menschen mit eigener Hand Viren verstreut, Gesunde krank gemacht und Lebende zu Toten, werden sie nun zurechtgewiesen und müssen sich zerknirscht bekennen, weil – Pfui Deibel! – Beifall von der rechten Seite kam. Intensiv-Mediziner und Pfleger äußern sich wütend, als hätten sie endlich die Schuldigen gefunden an ihrer eigenen schlimmen Lage. Nicht, wer das Gesundheitswesen privatisiert hat und das Pflegepersonal zu Niedriglöhnen und überfordernden Arbeitsverhältnissen arbeiten lässt, erntet ihren Zorn, sondern ein paar Schauspieler, die sich erdreisten, mit frechen Reden die Verhältnisse anzuklagen. Wer mitmacht bei #allesdichtmachen ist der Feind! Und fast keiner in der weiten Flur der Medien, der sich zu ihrer Verteidigung rührt. Die Damen und Herren sollen gefälligst dankbar sein, dass sie nicht in der Intensivstation sind und ansonsten das Maul halten. Den eigenen Beruf ausüben zu wollen: Das geht zu weit!