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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Mobil und krank?

Home­of­fice ist durch die Covi­d19-Pan­de­mie in aller Mun­de. Das Pro­jekt »Pren­ti­mo« (Prä­ven­ti­ons­ori­en­tier­te Gestal­tung mobi­ler Arbeit) hat sich mit den Aus­wir­kun­gen sol­cher Arbeits­wei­se beschäf­tigt, koor­di­niert durch die Carl von Ossietzky Uni­ver­si­tät Olden­burg. Die For­schungs­er­geb­nis­se sind im Pra­xis­hand­buch »Mobi­le Arbeit gesund gestal­ten« ver­öf­fent­licht. »Mein Arbeits­ort ist dort, wo der Lap­top gera­de hin­passt.« Die­ses Zitat eines Ange­stell­ten bringt auf den Punkt, was dar­an aus Unter­neh­mens­sicht attrak­tiv ist: Es geht um das Arbei­ten immer und über­all, beim Kun­den, im Hotel­zim­mer, zuhau­se im Wohn­zim­mer oder, wenn es das Manage­ment wünscht, im Betrieb.

Die­se »berufs­be­ding­te Mobi­li­tät«, so Ger­lin­de Vogl (Uni­ver­si­tät Olden­burg) sei im Regel­fall »ver­ord­ne­te« Mobi­li­tät, die »im recht­li­chen Rah­men des durch den Arbeits­ver­trag begrün­de­ten Beschäf­ti­gungs­ver­hält­nis­ses erfolgt«. Die Unter­su­chung umfasst auch Extrem­fäl­le wie Servicetechniker*innen und IT-Berater*innen, die gar kei­nem Arbeits­platz im Betrieb mehr haben, son­dern nur noch zur Arbeit rei­sen. »Pren­ti­mo« hat nun erkun­det, wie die Arbeits­welt nach Ende der Covi­d19-Pan­de­mie aus­se­hen kann – und wel­che Fol­gen dies für die Beleg­schaf­ten hat.

60 Pro­zent der mobil Arbei­ten­den sind min­de­stens ein­mal pro Monat am Wochen­en­de tätig. 46 Pro­zent der mobil Beschäf­tig­ten ohne Zeit­er­fas­sung arbei­ten häu­fi­ger als fünf Mal pro Monat mehr als zehn Stun­den am Tag. Auch die unkla­re Tren­nung zwi­schen Pri­vat- und Arbeits­le­ben macht die neue Arbeits­form zum Pro­blem: 58 Pro­zent der Befrag­ten stim­men der Aus­sa­ge zu: »Es wird von mir erwar­tet, stän­dig erreich­bar zu sein, auch außer­halb mei­ner Arbeits­zeit.« »Wenn ich Fei­er­abend habe, dann gehe ich nicht mehr an ein klin­geln­des Han­dy ran«, wird ein mobi­ler Arbei­ter zitiert, der dann jedoch ein­schränkt: »Es sei denn, und da mache ich jetzt noch mal eine klei­ne Aus­nah­me, das gilt für Urlaub und für einen frei­en Tag, wenn es ein Kol­le­ge ist, von dem ich weiß, dass der mich irgend­was fra­gen könn­te.« Die Zah­len ver­deut­li­chen die Risi­ken in der Pra­xis: 29 Pro­zent der mobil Beschäf­tig­ten mit Ziel­ver­ein­ba­run­gen sehen sich genö­tigt, ihre Arbeits­zeit aus­zu­deh­nen, etwa durch den Ver­zicht auf Pau­sen oder Arbeit im Urlaub. Bei den Mobi­len ohne Ziel­ver­ein­ba­run­gen sind es noch halb so viele.

Aus­wer­tun­gen der Kran­ken­kas­sen bele­gen eine stei­gen­de Zahl psy­chi­scher Erkran­kun­gen, die auch auf das Über­grei­fen der Arbeit in die Frei­zeit zurück­zu­füh­ren sind. Von 2000 bis 2019 sind die Fehl­ta­ge auf­grund psy­chi­scher Erkran­kun­gen laut DAK um fast 140 Pro­zent gestiegen.

Unter­neh­men sehen die neue beruf­li­che Mobi­li­tät als »selbst­ver­ständ­lich« an, als eine »nicht hin­ter­frag­te Not­wen­dig­keit«. Pro­ble­ma­tisch sei, »dass mobi­li­täts­be­ding­te Bela­stun­gen auch von den Beschäf­tig­ten kaum direkt the­ma­ti­siert wer­den«, so Vogl. Die Gegen­stra­te­gien von Gewerk­schaf­ten und Betriebs­rä­ten sind kein The­ma der Wis­sen­schaft­ler. Han­deln kön­nen Betriebs­rä­te durch­aus: Betriebs­ver­ein­ba­run­gen gegen per­ma­nen­te Erreich­bar­keit kön­nen erzwun­gen wer­den, um Lösun­gen durch die IT durch­zu­set­zen. Tech­nisch kön­nen die Ser­ver so ein­ge­stellt wer­den, dass nach Fei­er­abend kei­ne E-Mails mehr an die per­sön­li­chen Post­fä­cher der Beschäf­tig­ten wei­ter­ge­lei­tet werden.

Für Gewerk­schaf­ten und Betriebs­rä­te geht es dabei aber nicht nur um einen Kon­flikt mit dem Unter­neh­men, das eine effek­ti­ve­re Aus­beu­tung der Beschäf­tig­ten mit moder­ner Tech­nik durch­zu­set­zen ver­sucht. Denn oft sehen Beschäf­tig­te dar­in eine schein­ba­re Erleich­te­rung ihrer Arbeit: Ver­brei­tet ist etwa das Abru­fen von E-Mails im Urlaub. Dies wird – sub­jek­tiv nach­voll­zieh­bar – oft­mals sogar als Ent­la­stung gese­hen, weil den Betrof­fe­nen nach dem Urlaub nicht ein E-Mail-Berg erwar­te. Sol­che Hal­tung erschwert das Grund­pro­blem der neu­en Arbeits­or­ga­ni­sa­ti­on. Betriebs­rä­te, die gegen stän­di­ge Erreich­bar­keit vor­ge­hen möch­ten, müs­sen nicht nur dem Unter­neh­men, son­dern auch den Beschäf­tig­ten gegen­über Über­zeu­gungs­ar­beit lei­sten. Die Beleg­schaft muss für das The­ma sen­si­bi­li­siert wer­den – etwa indem deut­lich gemacht wird, dass das Pro­blem kein indi­vi­du­el­les, son­dern durch die Unter­neh­mens­steue­rung und Per­so­nal­pla­nung ver­ur­sacht ist. Hier gibt es Bei­spie­le von Betriebs­rats-Kam­pa­gnen, bei denen über Betriebs­ver­samm­lun­gen, News­let­ter oder Gesprä­che in klei­ne­ren Grup­pen das The­ma in die Köp­fe gebracht wur­de. Nur so kann der Beleg­schaft klar wer­den, kol­lek­tiv ist eine Ver­än­de­rung mög­lich. In Coro­na-Zei­ten ist dies umso schwe­rer – ein Agie­ren wird aber immer wichtiger.

»Zukünf­tig sind kaum noch Beru­fe vor­stell­bar, in denen die Mobi­li­tät nicht Ein­zug hält«, beschreibt der Wis­sen­schaft­ler Jochen Prüm­per die Ent­wick­lung. Umso mehr ist der Gesetz­ge­ber gefor­dert. Heu­ti­ge Rege­lun­gen zum Arbeits­schutz wer­den »dem kom­ple­xen Bela­stungs­pro­fil mobi­ler Arbeit in einer digi­ta­li­sier­ten Arbeits­welt nicht gerecht«, kri­ti­siert Ger­lin­de Vogl. Tech­ni­sche Min­dest­aus­stat­tung oder eine ver­bind­li­che regel­mä­ßi­ge Prü­fung des Arbeits­stres­ses bei mobi­ler Arbeit sind in kei­nem Gesetz gere­gelt. Ohne ent­schlos­se­ne Gegen­wehr der Gewerk­schaf­ten, wird sich dar­an aber nichts ändern. Dabei hat der Euro­päi­sche Gerichts­hof bereits 2019 die Bun­des­re­gie­rung auf­ge­for­dert, eine kla­re gesetz­li­che Rege­lung zur Erfas­sung der Arbeits­zeit zu tref­fen (EuGH-Urteil vom 14.5.2019 – C-55/18) – was auch mobil Arbei­ten­den hel­fen wür­de. Doch bis heu­te ist nichts passiert.

 

Das Pra­xis­hand­buch ist zu fin­den unter: www.prentimo.de/assets/Uploads/prentimo-Broschuere-Screen.pdf.