Was wäre davon zu halten, wenn irgendwo seit fast 500 Jahren Menschen unterschiedlicher Sprachen, Religionen und Kulturen friedlich zusammenlebten? Wenn es irgendwo ein Recht auf Wohnung gäbe und die Miete sich auf ein Prozent eines durchschnittlichen Monatslohns beliefe? (Details bei: Ulrich Heyden, »Eindrücke aus Tatarstan«, Nachdenkseiten, 15.01.2023.) Keine Frage: Das wäre untragbarer Utopismus, der, wie man aus dem Zusammenbruch der Sowjetunion ersieht, nicht gutgehen kann. Dafür, dass er es nicht kann, sorgt nach Kräften ökonomische Strangulierung, die im Fall des »gallischen Dorfs« Kuba einen jahrzehntelangen Atem hat.
Ist (oder war) der »systemische Rivale« zu einer nennenswerten Berücksichtigung und sozialpolitischen Handhabung materieller Bedürfnisse imstande, so doch bloß aus der hinterhältigen Absicht heraus, seine eigentlich freiheitsdurstige Bevölkerung zu bestechen und ruhigzustellen. Falls er das nicht kann und/oder will, so zwingt er das Volk zu hungern, erweist seine ökonomische Inkompetenz und praktiziert schlicht – hier ist das verfemte Wort einmal angebracht – »Ausbeutung pur«. Deshalb kann es der Feind so oder so nicht recht machen – es sei denn, er zeigt wie vormals Boris »Einer-geht-noch«-Jelzin Einsicht darin, nach ihm überlegener Fasson selig zu werden. Türöffnend bemühte sich »unser Mann im Kreml« darum, mit realpolitisch gesehen verständlichen Maßnahmen wie dem Beschuss des Parlaments und vom Westen unterstützter erweiterter Präsidialmacht. Umso herber die Enttäuschung darüber, dass Putin diese Position übernahm, ausbaute und missbrauchte, um seinen Laden nun eben, um russischer nationaler Werte willen, auch mit Krieg zusammenzuhalten. Das geht gar nicht, und deshalb »ist dieser Mann zu stoppen« (FR) und abzuurteilen (Baerbock).
»Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.« Mit Hilfe von Rosskuren und auch blanker Gewalt wurden Bewohner vorgestriger Länder dazu befähigt, das Linsengericht eines »Sozialklimbims« gegen eine Moral einzutauschen, die nun vor dem Fressen kommt. Die aus der Konkursmasse der Sowjetunion Hervorgegangenen zeichnet zudem ein gelehriger Pragmatismus aus, der sich willig, auch um den Preis eigener Vernichtung, dem Zweck der USA zur Verfügung stellt, die Macht Unbotmäßiger zu brechen.
Und hier, im Land der besten aller Möglichkeiten, die bisweilen auch »unrund laufen« können, ist ohnehin alles eigentlich plüsch. Der »moderne Mensch« verwirklicht sich frei und selbstbestimmt als »Ich-AG«, deren Lebensunterhalt prekäre Privatsache ist, gegen »Mitbewerber«, wobei mit Recht, Gesetz und vor allem Gerechtigkeit immer darauf zu achten ist, dass sich niemand einen »ungerechtfertigten Vorteil« verschafft. Die meisten kommen in den Genuss der Freiheit, wie der Discounterslogan es ausdrückt, »prima leben und (?) sparen« zu dürfen. Wie viele »durchs Netz fallen« ist Thema von Armutsberichten, und bei schlecht verlaufener Bewältigung von »Lebensrisiken« gibt es auch noch karitative Speisungen.
Solche »Indikatoren« bestätigen kritischen Soziologen ihren traditionellen Hit des »Geworfenseins des Menschen«, den sie mit fantasievollen Konstruktionen von »Risiko«-, »Abstiegs«- und »granularen Gesellschaften« aufpeppen; der säkularisierte Mensch ist leider seiner vormaligen Gewissheiten verlustig gegangen. Die heimatlos Gewordenen treiben nun, ohne etwas zu haben, »woran man sich halten kann«, als vereinzelte Ingredienzien einer Suppe »flüssiger Moderne« vor sich hin. Dieses Schicksal gilt es auszuhalten, irgendwie. Zum Glück gibt es dazu, wie das gelingen kann, Ratgeber aller Art. Der Sechser im Systemlotto jedoch besteht darin, dass der Kapitalismus »zwangsverheiratet (ist)« mit der »normative(n) Überlegenheit der liberalen, freiheitlichen Demokratie« (Wolfgang Merkel, FR, 13.01.2023). Das ist nun ziemlich hochgestochenes Zeug und für Bescheidwissen im Alltag auch überflüssig. Als Kompass genügt, dass »wir« Werte haben.
Das Vorhaben, den »russischen Frosch zu kochen«, wie es die Washington Post laut Reinhard Lauterbach formuliert, ist an hinterhältiger Abgefeimtheit nicht zu überbieten. »Die USA verfolgen im Ukraine-Konflikt eine Strategie, die man moralisch als bösartig und verlogen kennzeichnen kann, auch wenn einen das politisch nicht weiterbringt« (Reinhard Lauterbach, junge Welt, 20.01.2023). Auf Angela Merkels »Minsk II«-Scharade folgt nun das Schattenboxen des eisern umsichtigen Zauderkanzlers gegen die Eskalationshoffnungen von »Falken« und deren medialen Sprachrohren, die er so lange enttäuschen wird, bis er sie nach eingeholtem Bündnisplacet erfüllt und die nächste Etappe hin zum »Vater aller Dinge« nimmt. Gegen die lediglich noch abzuarbeitende Formsache, dass Scholz sich mit der Zeit wendet, dürften Buchmacher jedenfalls nicht wetten wollen. Immerhin aber – schon jetzt eine kleine Morgenröte am Kriegshorizont – haben »wir« inzwischen eine Person mit der Kompetenz am Zielfernrohr, die Frau Lambrecht abgegangen sein soll.
Man mag sich die Köpfe heiß reden darüber, ob Werte missbraucht werden, wenn sich ihrer gerühmt und gegen sie verstoßen wird, oder sich auf einen Nihilismus etwas einbilden; evident ist jedenfalls: In all ihrer Abstraktheit lassen sich Werte zur Feindbildschaffung und als eigentliche, grundsätzliche Gütesiegel gebrauchen. Dass unter der Werteflagge zumeist Ungemütliches und Schädigendes segelt, überrascht nicht weiter – sonst bräuchte es die Veredelung ja auch nicht. Worin genau Freiheit nun besteht, ob und wie sie sich als Ausübung eines »Selbstbestimmungsrechts« praktisch äußern darf, bestimmt der staatliche Gewaltmonopolist gemäß geltender Normalität und nach seiner Definition von Freund und Feind (Uiguren und Kosovaren nehmen die Freiheit wahr, Kurden und Donbassbewohner missbrauchen sie).
Wenn Schalter und Walter sich Visionen vortragend auf »WEF«- und »Siko«-Treffen darüber austauschen, wie aus Schlamasseln heraus und voranzukommen ist, dann stehen auch Werte im Rampenlicht. Deren Schaulaufen ist die Paradedisziplin der grünen Partei; die moralische Klaviatur beherrscht sie nicht erst seit Joseph Fischers Außenministertum virtuos. Von ihrem ehemaligen Ökopax-Grünkern ist nur dessen kindlicher Jargon, an den auch der Großmeister des rhetorischen Infantilismus Olaf Scholz mit Erfolg andockt, übriggeblieben. Die Grünen sind zur Genugtuung der Meinungsmacher »erwachsen«, inhaltlich todernst und bellizistisch pragmatisch geworden.
Den Furor für den gerechten Krieg, »Haltung« eben, stellen die machtbesoffen dummdreisten und nassforschen Soundbites von »Panzertoni« und Co. aus. Die Überlegenheit von Moral über Logik demonstriert Annalena Baerbock in gedanklichen Übersprungshandlungen, z. B., indem sie Rüstungsexporte mit der Bekämpfung deutscher Kinderarmut kurzschließt. Wenn man nicht aufpasst, kann einem der Plätzetausch von Werten im Hütchenspiel der heiligen Allianz des höchsten Werts schon einmal entgehen (ist aber, siehe Kompass, auch unerheblich). Was gestern noch »ungerecht« war, kann heute schon »nur gerecht«, popkulturell abgesunken: »fair«, oder zumindest unumgänglich – Putin! – und das Abwenden größeren Übels sein.
Dieser moralisierende Pragmatismus ist nicht neu – schon Seehofer sinngemäß: »Unsere AKWs sind sicher. Sonst hätten wir sie nicht aufgestellt« –, hat sich aber mit der Zuspitzung der Agenda radikalisiert. Es gibt keine Zielkonflikte und verbissenen Debatten um diese mehr. Die zur FDP für den Studienrat mutierten Grünen können stattdessen, was auch die politische Konkurrenz inklusive der sich verzweifelt um Salonfähigkeit bemühenden Linkspartei beeindruckt, nur noch allseitiges Gelingen (»Win-win«) entdecken. Was sie auch anstellen, sie handeln immer öko-logisch; auch wenn sie ein Dorf wegbaggern und Baumbesetzer leider, leider wegen gebundener Hände, aber mit viel Verständnis abräumen lassen. Pragmatisch, praktisch, gut: »Wenn wir keine Kompromisse machen würden, dann würde beim Klimaschutz einfach gar nichts passieren« (Ricarda Lang, zitiert in junge Welt, 17.01.2023).
Für die Führungsrolle, mit der die Welt Deutschland beauftragt und die es bitte schön als Lehre aus den Armbinde-Peinlichkeiten der Fußballweltmeisterschaft wahrnehmen sollte, greifen Werte ineinander. »Freiheit, Freiheit«, vom Hofbarden Marius »Troubadix« Müller-Westernhagen besungen, ist das höchste Gut, »Sicherheit«, sprich »Siegfähigkeit« (General Mais), die »Mutter aller Nachhaltigkeit«, »Umweltverträglichkeit« für Autarkie da, »technische Innovationsfreudigkeit« der »Garant wirtschaftlichen Überlebens« und Kulturpolitik immer auch »Sicherheitspolitik« (Claudia Roth). Vereint plausibilisieren sie die Einsicht, dass es jedenfalls, was nicht nur Baerbocks Großvater vertraut war, »so nicht weitergehen kann«: die Ultima Ratio. Der »Feind im eigenen Land« will den Krieg und die Begleichung der Zeche mittels Verarmung der »üblichen Verdächtigen«. Dafür sind die Werte da, darin sind sie – eine von bellizistischen Hand- und Kopflangern gepriesene stahlgewittertaugliche Tautologie – so unabdingbar wertvoll.