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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Mit Werten zur letzten Vernunft

Was wäre davon zu hal­ten, wenn irgend­wo seit fast 500 Jah­ren Men­schen unter­schied­li­cher Spra­chen, Reli­gio­nen und Kul­tu­ren fried­lich zusam­men­leb­ten? Wenn es irgend­wo ein Recht auf Woh­nung gäbe und die Mie­te sich auf ein Pro­zent eines durch­schnitt­li­chen Monats­lohns belie­fe? (Details bei: Ulrich Heyden, »Ein­drücke aus Tatar­stan«, Nach­denk­sei­ten, 15.01.2023.) Kei­ne Fra­ge: Das wäre untrag­ba­rer Uto­pis­mus, der, wie man aus dem Zusam­men­bruch der Sowjet­uni­on ersieht, nicht gut­ge­hen kann. Dafür, dass er es nicht kann, sorgt nach Kräf­ten öko­no­mi­sche Stran­gu­lie­rung, die im Fall des »gal­li­schen Dorfs« Kuba einen jahr­zehn­te­lan­gen Atem hat.

Ist (oder war) der »syste­mi­sche Riva­le« zu einer nen­nens­wer­ten Berück­sich­ti­gung und sozi­al­po­li­ti­schen Hand­ha­bung mate­ri­el­ler Bedürf­nis­se imstan­de, so doch bloß aus der hin­ter­häl­ti­gen Absicht her­aus, sei­ne eigent­lich frei­heits­dur­sti­ge Bevöl­ke­rung zu bestechen und ruhig­zu­stel­len. Falls er das nicht kann und/​oder will, so zwingt er das Volk zu hun­gern, erweist sei­ne öko­no­mi­sche Inkom­pe­tenz und prak­ti­ziert schlicht – hier ist das ver­fem­te Wort ein­mal ange­bracht – »Aus­beu­tung pur«. Des­halb kann es der Feind so oder so nicht recht machen – es sei denn, er zeigt wie vor­mals Boris »Einer-geht-noch«-Jelzin Ein­sicht dar­in, nach ihm über­le­ge­ner Fas­son selig zu wer­den. Tür­öff­nend bemüh­te sich »unser Mann im Kreml« dar­um, mit real­po­li­tisch gese­hen ver­ständ­li­chen Maß­nah­men wie dem Beschuss des Par­la­ments und vom Westen unter­stütz­ter erwei­ter­ter Prä­si­di­al­macht. Umso her­ber die Ent­täu­schung dar­über, dass Putin die­se Posi­ti­on über­nahm, aus­bau­te und miss­brauch­te, um sei­nen Laden nun eben, um rus­si­scher natio­na­ler Wer­te wil­len, auch mit Krieg zusam­men­zu­hal­ten. Das geht gar nicht, und des­halb »ist die­ser Mann zu stop­pen« (FR) und abzu­ur­tei­len (Baer­bock).

»Wo aber Gefahr ist, wächst das Ret­ten­de auch.« Mit Hil­fe von Ross­ku­ren und auch blan­ker Gewalt wur­den Bewoh­ner vor­gest­ri­ger Län­der dazu befä­higt, das Lin­sen­ge­richt eines »Sozi­al­klim­bims« gegen eine Moral ein­zu­tau­schen, die nun vor dem Fres­sen kommt. Die aus der Kon­kurs­mas­se der Sowjet­uni­on Her­vor­ge­gan­ge­nen zeich­net zudem ein geleh­ri­ger Prag­ma­tis­mus aus, der sich wil­lig, auch um den Preis eige­ner Ver­nich­tung, dem Zweck der USA zur Ver­fü­gung stellt, die Macht Unbot­mä­ßi­ger zu brechen.

Und hier, im Land der besten aller Mög­lich­kei­ten, die bis­wei­len auch »unrund lau­fen« kön­nen, ist ohne­hin alles eigent­lich plüsch. Der »moder­ne Mensch« ver­wirk­licht sich frei und selbst­be­stimmt als »Ich-AG«, deren Lebens­un­ter­halt pre­kä­re Pri­vat­sa­che ist, gegen »Mit­be­wer­ber«, wobei mit Recht, Gesetz und vor allem Gerech­tig­keit immer dar­auf zu ach­ten ist, dass sich nie­mand einen »unge­recht­fer­tig­ten Vor­teil« ver­schafft. Die mei­sten kom­men in den Genuss der Frei­heit, wie der Dis­coun­ter­slo­gan es aus­drückt, »pri­ma leben und (?) spa­ren« zu dür­fen. Wie vie­le »durchs Netz fal­len« ist The­ma von Armuts­be­rich­ten, und bei schlecht ver­lau­fe­ner Bewäl­ti­gung von »Lebens­ri­si­ken« gibt es auch noch kari­ta­ti­ve Speisungen.

Sol­che »Indi­ka­to­ren« bestä­ti­gen kri­ti­schen Sozio­lo­gen ihren tra­di­tio­nel­len Hit des »Geworfen­seins des Men­schen«, den sie mit fan­ta­sie­vol­len Kon­struk­tio­nen von »Risi­ko«-, »Abstiegs«- und »gra­nu­la­ren Gesell­schaf­ten« auf­pep­pen; der säku­la­ri­sier­te Mensch ist lei­der sei­ner vor­ma­li­gen Gewiss­hei­ten ver­lu­stig gegan­gen. Die hei­mat­los Gewor­de­nen trei­ben nun, ohne etwas zu haben, »wor­an man sich hal­ten kann«, als ver­ein­zel­te Ingre­di­en­zi­en einer Sup­pe »flüs­si­ger Moder­ne« vor sich hin. Die­ses Schick­sal gilt es aus­zu­hal­ten, irgend­wie. Zum Glück gibt es dazu, wie das gelin­gen kann, Rat­ge­ber aller Art. Der Sech­ser im System­lot­to jedoch besteht dar­in, dass der Kapi­ta­lis­mus »zwangs­ver­hei­ra­tet (ist)« mit der »normative(n) Über­le­gen­heit der libe­ra­len, frei­heit­li­chen Demo­kra­tie« (Wolf­gang Mer­kel, FR, 13.01.2023). Das ist nun ziem­lich hoch­ge­sto­che­nes Zeug und für Bescheid­wis­sen im All­tag auch über­flüs­sig. Als Kom­pass genügt, dass »wir« Wer­te haben.

Das Vor­ha­ben, den »rus­si­schen Frosch zu kochen«, wie es die Washing­ton Post laut Rein­hard Lau­ter­bach for­mu­liert, ist an hin­ter­häl­ti­ger Abge­feimt­heit nicht zu über­bie­ten. »Die USA ver­fol­gen im Ukrai­ne-Kon­flikt eine Stra­te­gie, die man mora­lisch als bös­ar­tig und ver­lo­gen kenn­zeich­nen kann, auch wenn einen das poli­tisch nicht wei­ter­bringt« (Rein­hard Lau­ter­bach, jun­ge Welt, 20.01.2023). Auf Ange­la Mer­kels »Minsk II«-Scharade folgt nun das Schat­ten­bo­xen des eisern umsich­ti­gen Zau­der­kanz­lers gegen die Eska­la­ti­ons­hoff­nun­gen von »Fal­ken« und deren media­len Sprach­roh­ren, die er so lan­ge ent­täu­schen wird, bis er sie nach ein­ge­hol­tem Bünd­nis­pla­cet erfüllt und die näch­ste Etap­pe hin zum »Vater aller Din­ge« nimmt. Gegen die ledig­lich noch abzu­ar­bei­ten­de Form­sa­che, dass Scholz sich mit der Zeit wen­det, dürf­ten Buch­ma­cher jeden­falls nicht wet­ten wol­len. Immer­hin aber – schon jetzt eine klei­ne Mor­gen­rö­te am Kriegs­ho­ri­zont – haben »wir« inzwi­schen eine Per­son mit der Kom­pe­tenz am Ziel­fern­rohr, die Frau Lam­brecht abge­gan­gen sein soll.

Man mag sich die Köp­fe heiß reden dar­über, ob Wer­te miss­braucht wer­den, wenn sich ihrer gerühmt und gegen sie ver­sto­ßen wird, oder sich auf einen Nihi­lis­mus etwas ein­bil­den; evi­dent ist jeden­falls: In all ihrer Abstrakt­heit las­sen sich Wer­te zur Feind­bild­schaf­fung und als eigent­li­che, grund­sätz­li­che Güte­sie­gel gebrau­chen. Dass unter der Wer­te­flag­ge zumeist Unge­müt­li­ches und Schä­di­gen­des segelt, über­rascht nicht wei­ter – sonst bräuch­te es die Ver­ede­lung ja auch nicht. Wor­in genau Frei­heit nun besteht, ob und wie sie sich als Aus­übung eines »Selbst­be­stim­mungs­rechts« prak­tisch äußern darf, bestimmt der staat­li­che Gewalt­mo­no­po­list gemäß gel­ten­der Nor­ma­li­tät und nach sei­ner Defi­ni­ti­on von Freund und Feind (Uigu­ren und Koso­va­ren neh­men die Frei­heit wahr, Kur­den und Don­bass­be­woh­ner miss­brau­chen sie).

Wenn Schal­ter und Wal­ter sich Visio­nen vor­tra­gend auf »WEF«- und »Siko«-Treffen dar­über aus­tau­schen, wie aus Schla­mas­seln her­aus und vor­an­zu­kom­men ist, dann ste­hen auch Wer­te im Ram­pen­licht. Deren Schau­lau­fen ist die Para­de­dis­zi­plin der grü­nen Par­tei; die mora­li­sche Kla­via­tur beherrscht sie nicht erst seit Joseph Fischers Außen­mi­ni­ster­tum vir­tu­os. Von ihrem ehe­ma­li­gen Öko­pax-Grün­kern ist nur des­sen kind­li­cher Jar­gon, an den auch der Groß­mei­ster des rhe­to­ri­schen Infan­ti­lis­mus Olaf Scholz mit Erfolg andockt, übrig­ge­blie­ben. Die Grü­nen sind zur Genug­tu­ung der Mei­nungs­ma­cher »erwach­sen«, inhalt­lich tod­ernst und bel­li­zi­stisch prag­ma­tisch geworden.

Den Furor für den gerech­ten Krieg, »Hal­tung« eben, stel­len die macht­be­sof­fen dumm­drei­sten und nass­for­schen Sound­bi­tes von »Pan­zerto­ni« und Co. aus. Die Über­le­gen­heit von Moral über Logik demon­striert Anna­le­na Baer­bock in gedank­li­chen Über­sprungs­hand­lun­gen, z. B., indem sie Rüstungs­expor­te mit der Bekämp­fung deut­scher Kin­der­ar­mut kurz­schließt. Wenn man nicht auf­passt, kann einem der Plät­ze­tausch von Wer­ten im Hüt­chen­spiel der hei­li­gen Alli­anz des höch­sten Werts schon ein­mal ent­ge­hen (ist aber, sie­he Kom­pass, auch uner­heb­lich). Was gestern noch »unge­recht« war, kann heu­te schon »nur gerecht«, pop­kul­tu­rell abge­sun­ken: »fair«, oder zumin­dest unum­gäng­lich – Putin! – und das Abwen­den grö­ße­ren Übels sein.

Die­ser mora­li­sie­ren­de Prag­ma­tis­mus ist nicht neu – schon See­ho­fer sinn­ge­mäß: »Unse­re AKWs sind sicher. Sonst hät­ten wir sie nicht auf­ge­stellt« –, hat sich aber mit der Zuspit­zung der Agen­da radi­ka­li­siert. Es gibt kei­ne Ziel­kon­flik­te und ver­bis­se­nen Debat­ten um die­se mehr. Die zur FDP für den Stu­di­en­rat mutier­ten Grü­nen kön­nen statt­des­sen, was auch die poli­ti­sche Kon­kur­renz inklu­si­ve der sich ver­zwei­felt um Salon­fä­hig­keit bemü­hen­den Links­par­tei beein­druckt, nur noch all­sei­ti­ges Gelin­gen (»Win-win«) ent­decken. Was sie auch anstel­len, sie han­deln immer öko-logisch; auch wenn sie ein Dorf weg­bag­gern und Baum­be­set­zer lei­der, lei­der wegen gebun­de­ner Hän­de, aber mit viel Ver­ständ­nis abräu­men las­sen. Prag­ma­tisch, prak­tisch, gut: »Wenn wir kei­ne Kom­pro­mis­se machen wür­den, dann wür­de beim Kli­ma­schutz ein­fach gar nichts pas­sie­ren« (Ricar­da Lang, zitiert in jun­ge Welt, 17.01.2023).

Für die Füh­rungs­rol­le, mit der die Welt Deutsch­land beauf­tragt und die es bit­te schön als Leh­re aus den Arm­bin­de-Pein­lich­kei­ten der Fuß­ball­welt­mei­ster­schaft wahr­neh­men soll­te, grei­fen Wer­te inein­an­der. »Frei­heit, Frei­heit«, vom Hof­bar­den Mari­us »Trou­ba­dix« Mül­ler-Western­ha­gen besun­gen, ist das höch­ste Gut, »Sicher­heit«, sprich »Sieg­fä­hig­keit« (Gene­ral Mais), die »Mut­ter aller Nach­hal­tig­keit«, »Umwelt­ver­träg­lich­keit« für Aut­ar­kie da, »tech­ni­sche Inno­va­ti­ons­freu­dig­keit« der »Garant wirt­schaft­li­chen Über­le­bens« und Kul­tur­po­li­tik immer auch »Sicher­heits­po­li­tik« (Clau­dia Roth). Ver­eint plau­si­bi­li­sie­ren sie die Ein­sicht, dass es jeden­falls, was nicht nur Baer­bocks Groß­va­ter ver­traut war, »so nicht wei­ter­ge­hen kann«: die Ulti­ma Ratio. Der »Feind im eige­nen Land« will den Krieg und die Beglei­chung der Zeche mit­tels Ver­ar­mung der »übli­chen Ver­däch­ti­gen«. Dafür sind die Wer­te da, dar­in sind sie – eine von bel­li­zi­sti­schen Hand- und Kopf­lan­gern geprie­se­ne stahl­ge­wit­ter­taug­li­che Tau­to­lo­gie – so unab­ding­bar wertvoll.