Dass der in seiner Heimatstadt Köln lebende Politikwissenschaftler Marcel Lewandowsky, der seit Jahren zu Populismus, zu Trump, zur Krise von Demokratien forscht, mit seinem Anfang Mai erschienenen Sachbuch »Was Populisten wollen – Wie sie die Gesellschaft herausfordern und wie man ihnen begegnen soll« einen Nerv getroffen hat, zeigt schon ein kurzer Aufenthalt in der Google-Sphäre.
Seine Beschreibung der Methoden der Populisten und seine Analyse ihrer Strategien, verbunden mit Empfehlungen zu Gegenstrategien, finden bundesweit in Medien und Diskussionsrunden ihren Widerhall. Dies kann auch als ein Zeichen dafür genommen werden, dass die demokratische Öffentlichkeit sowie Politik und seriöse Medien bisher keinen Weg gefunden haben, um auf den Erfolg von Populisten bei Wahlen zu reagieren, in Deutschland nicht und anderswo ebenso wenig. Ob es dabei tatsächlich, wie vom Verlag angekündigt, das »Buch zum Superwahljahr 2024« ist, kann dahingestellt bleiben. Erhellend ist es in jedem Fall.
Gleiche Brüder (und Schwestern), gleiche Kappen. Die AfD in Deutschland, Giorgia Meloni in Italien, Donald Trump in den USA, Marine Le Pen in Frankreich, der ehemalige Anführer der Brexit-Partei, Nigel Farage, in Großbritannien, Geert Wilders in den Niederlanden, die »SVP« in der Schweiz, die »Chega« in Portugal, die »Wiedergeburt« in Bulgarien, die »Konfederacija« in Polen oder Viktor Orbán in Ungarn, dessen »Fidesz-Partei« gerade dabei ist, mit der österreichischen »FPÖ »und der tschechischen »ANO« im EU-Parlament die neue Rechtsaußen-Fraktion »Patrioten für Europa« zu gründen – sie alle mögen unterschiedlichen Ideologien oder Methoden anhängen, »die Debatten, die Feindbilder, der Stil ähneln sich stark. Die Auswirkungen sind vergleichbar. Die Angst vor den ›Linken‹, vor den ›Woken‹, vor dem Niedergang macht Parteien groß, die sich den Widerstand gegen die Eliten und die Beschwörung des ›wahren Volkes‹ auf die Fahnen geschrieben haben: die Rechtspopulisten«.
Lewandowsky beschreibt, wie er bei seinen Vorträgen zu diesem Thema immer wieder in Kontakt mit Menschen kommt, die der verfestigten Ansicht sind, in Deutschland dürfe man nicht mehr »frei« seine Meinung sagen und dass »die da oben« allen, die die »Wahrheit« sagen, den Mund verbieten. »Es ist ein reales Gefühl der Hilflosigkeit, der Ohnmacht, aber auch des Im-Recht-Seins. Es ist kein Grummeln über Politik, sondern eine tiefe Unzufriedenheit, verbunden mit dem Wunsch nach Kontrolle. Nach Widerstand.« (Sei es, wie 2021, mit einem Sturm auf das Capitol in Washington oder, wie 2020 während einer »Querdenker«-Demo in Berlin, mit einem Angriff auf das Reichstagsgebäude; Anm. K.N.) Alle eine der Wunsch »nach Befreiung von den Zwängen, die eine abgehobene politische Klasse und die sie tragenden Milieus in der Gesellschaft den ›normalen Menschen‹ auferlegt haben«. Bis ins Privateste, bis in den Körper hinein regiere die Politik, wolle zur Impfung zwingen und verdamme bestimmte Lebensstile zum vermeintlichen Schutz des Klimas.
Lewandowsky: »Viele sind davon überzeugt, dass die linken Eliten eine moralische Knechtschaft errichtet haben.« Sie befinden sich »im Verteidigungsmodus« und wollen wiederholen, was verloren gegangen ist«. Deutschland, so glauben sie, sei eine Autokratie. Die AfD »bedient diese Gefühle. Ihre überhitzte Wortwahl wirkt erlösend«. Sie erhebe ihre Anhänger zur »schweigenden Mehrheit«, geißele »die Eliten« und zeichne das Bild einer Demokratie in der permanenten Krise.
Dies zeigt auch die unverblümt aggressive Wortwahl Alice Weidels bei ihrer Begrüßungsrede vor den 600 Delegierten des AfD-Parteitags, der Ende Juni in Essen stattfand. Nach ihrer Bemerkung, Deutschland sei unter der Ampel-Koalition »zu einem Ponyhof verkommen« und schaffe sich ab, »wenn wir nicht in die Speichen greifen und diesem woken Hippie-Wahn endlich ein Ende bereiten«, rief Weidel in scharfem Ton unter Beifall in den Saal: »Liebe Regierung, haut endlich ab.«
Populisten stellen die Demokratie gleich zweifach auf die Probe, schreibt Lewandowsky. »Einerseits durch ihre Ideologie. Vor allem die radikale Rechte will eine geschlossene Gesellschaft; kulturell, teils gar ethnisch homogen, den Rückbau internationaler Zusammenarbeit und in Europa die Abwicklung der EU. Die Welt, die sie will, ist eine Welt der abgeschotteten Nationalstaaten.« Andererseits stellen die populistischen Ideologen die reale zugunsten einer vermeintlich »wahren« Demokratie infrage; Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit sollen über Bord geworfen werden, damit die eigene Gruppe, das »wahre« Volk, endlich »wieder« das Sagen hat.
In vielen Ländern haben sich die ideologischen Fronten in den letzten Jahren verhärtet. Lewandowsky bringt dazu Beispiele aus den USA. Gesellschaften driften auseinander, politisch und ökonomisch, bis ins einst mustergültige Skandinavien. Man vertritt nicht nur unterschiedliche Positionen, man denkt auch immer negativer über die jeweils andere Seite. Es gibt keinen gemeinsamen Nenner. »Die lügen alle« oder »Die Wahrheit bleibt unterm Tisch« sind längst keine randständigen Meinungen mehr. Die Corona-Pandemie hat es uns gerade vor Augen geführt.
Randständig sind auch längst nicht mehr die Angeklagten, die sich aktuell vor deutschen Gerichten zu verantworten haben. Da ist zum Beispiel die Lehrerin aus Landau in der Pfalz, die von der Schulaufsichtsbehörde wegen rechtsextremer Posts vom Dienst suspendiert wurde; da ist der Hauptangeklagte und Rädelsführer im Reichsbürger-Prozess, Heinrich XIII. Prinz Reuß aus dem bis 1918 regierenden gleichnamigen Adelsgeschlecht, der nach einem gelungenen Putsch hätte Staatsoberhaupt werden sollen. Zu den weiteren Mitgliedern der Verschwörungsgruppe zählen ein ehemaliger Oberst der Bundeswehr, ein ehemaliger Kriminalhauptkommissar, eine ehemalige AfD-Bundestagsabgeordnete, ein ehemaliger Oberstleutnant und Kommandeur eines Fallschirmjägerbataillons. Und der gerade zum zweiten Mal wegen der Verwendung einer verbotenen Nazi-Parole verurteilte Thüringer AfD-Chef Björn Höcke ist Oberstudienrat, mit dem Fach Geschichte. Populismus ist keine Nischenideologie mehr. Dass sich die Populisten »als die wahren Demokraten im Land präsentieren, ist ein großer Teil des populistischen Erfolgsrezeptes«.
Was tun? Im gut 40 Seiten umfassenden Schlusskapitel geht es nach all den Analysen um diese Frage. Ausgangspunkt der Empfehlungen Lewandowskys ist seine Einschätzung, dass die Rechtspopulisten die Demokratie nicht einfach ablehnen, wie zum Beispiel die Faschisten damals und heute, sondern sich für die wahren Demokraten halten, die den »Vergessenen«, der «schweigenden Mehrheit«, eine Stimme geben, indem sie vorgeben, für diese zu kämpfen. In diesen Zusammenhang passt ein Ergebnis aus dem aktuellen ARD-Deutschland-Trend vom 4. Juli, ich zitiere: »In Deutschland eint die Sorge um die Zukunft der Demokratie Anhänger unterschiedlichster Parteien, aus unterschiedlichen Beweggründen. Am stärksten ausgeprägt ist sie unter den Anhängern von AfD (76 Prozent) und BSW (77 Prozent)«, von denen »die Abgehobenheit von Politik« am häufigsten als Gefahr benannt wurde.
Der rheinland-pfälzische SPD-Bundestagsabgeordnete Joe Weingarten verschickte nach der für seine Partei desaströsen Europa-Wahl einen bundesweit beachteten vierseitigen Brief an die SPD-Mitglieder seines Wahlkreises, in dem er feststellt: »Alle Kampagnen ›gegen rechts‹ und ›gegen Hass und Hetze‹ waren weitgehend wirkungslos. Die Wähler der AfD ignorieren das rechtsradikale Potential der AfD, solange diese Partei Themen anspricht, die die Menschen für richtig und wichtig halten. Die Jugend hat rechter gewählt als erwartet.«
Und auch er fragt: Was ist zu tun? Zum Umgang mit der AfD schreibt er: »Das andauernde Beklagen von der Verfassungsfeindlichkeit und Nazi-Nähe der AfD hilft am Ende alleine nichts. Wir müssen uns mit der Politik der AfD auseinandersetzen. Deutlich machen, wo sie zu Lasten der kleinen Leute geht. Aber wir dürfen ihr auch nicht das Bild zugestehen, die Interessen Deutschlands und der Deutschen zu vertreten, während wir über Hilfen für die ganze Welt nachdenken. Auch für die SPD muss gelten, dass wir zuallererst den Menschen hier verpflichtet sind.«
Lewandowsky empfiehlt als Strategie – ich greife nur diesen einen Punkt aus seinen Vorschlägen und Anregungen heraus –, nicht die Einstellungen der Menschen ändern zu wollen. Das sei in der Regel nicht möglich, da diese Wählerinnen und Wähler zum großen Teil »gegen Migranten sowie queer- und frauenfeindlich sind« und so möglicherweise schon gedacht haben, bevor die AfD gegründet wurde. Ihre Einstellungen würden ihnen daher nicht von den Populisten eingepflanzt, sondern von diesen »aktiviert«. Ziel müsse es daher sein, das Wahlverhalten der Menschen zu verändern, indem ihre Einstellungen so »deaktiviert« werden, »dass sie für die Wahlentscheidung keine Rolle mehr spielen«. Oft gehe es zum Beispiel für Menschen, die »keine eingefleischten Rassisten sind«, beim Thema Migration in Wahrheit um Wohnungsmangel, Arbeitsplatzsuche oder Sozialleistungen. »Daran könnten Parteien anschließen und mit der Wirtschafts- und Sozialpolitik ein Themenfeld bespielen, das nicht zum Spezialgebiet der Rechtspopulisten gehört.«
Da die Populisten die Demokratie in den Mittelpunkt ihrer Strategie stellen würden und Probleme zu Krisen, zu Identitäts- und Existenzfragen überhöhten, sei es besonders wichtig, »das Vertrauen in die Demokratie zu stärken«. Politikerinnen und Politiker »sollten beispielsweise in Townhall-Meetings das direkte Gespräch mit den Bürgerinnen und Bürgern suchen – und mit ihnen konkret über Demokratie sprechen«. Durch den Austausch und die Thematisierung der Mängel, die sie in der Demokratie sehen, steige am Ende möglicherweise die Zufriedenheit. Dass die Politikerinnen und Politiker als direkte Gesprächspartner auftreten, die sich um Lösungen bemühen, könnte vor allem die noch schwankenden, die unentschiedenen, die noch erreichbaren Wählerinnen und Wähler davon überzeugen, dass ihre realen Interessen und die Menschen »im Mittelpunkt stehen, die morgens aufstehen und zur Arbeit gehen, die Steuern zahlen und unsere Gesellschaft am Laufen halten« (Weingarten).
»Dich singe ich, Demokratie« übertitelte Günter Grass 1965 die erste seiner öffentlichen politischen Reden, mit denen er sich bis 1976 in die Wahlkämpfe einmischte. Ein Motto, das heute so aktuell wie damals ist.
Nachbemerkung: Der Populismus habe viele Gesichter und kann sich in vielen Ideologien gemeinmachen, auch in den demokratischen Parteien, auch im BSW. Ein besonders krasses Beispiel ist zurzeit in Lateinamerika zu beobachten, wo Javier Milei in Argentinien als Präsident den systemsprengenden Anführer einer »ultralibertären Rebellion« gibt, der dort gerade ein »Kettensägenmassaker« im sozialen und staatlichen Bereich anrichtet (Svenja Blanke, Leiterin des FES-Büros in Argentinien) – was aber in Deutschland den Vorstand der Hayek-Gesellschaft nicht davon abhielt, ihm am 22. Juni für sein »freiheitliches Wirtschaftsprogramm« die Medaille der Stiftung zu überreichen.
Marcel Lewandowsky: »Was Populisten wollen – Wie sie die Gesellschaft herausfordern und wie man ihnen begegnen soll«, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2024, 336 S., 20 €.