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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Mit und ohne Kettensäge

Dass der in sei­ner Hei­mat­stadt Köln leben­de Poli­tik­wis­sen­schaft­ler Mar­cel Lewan­dows­ky, der seit Jah­ren zu Popu­lis­mus, zu Trump, zur Kri­se von Demo­kra­tien forscht, mit sei­nem Anfang Mai erschie­ne­nen Sach­buch »Was Popu­li­sten wol­len – Wie sie die Gesell­schaft her­aus­for­dern und wie man ihnen begeg­nen soll« einen Nerv getrof­fen hat, zeigt schon ein kur­zer Auf­ent­halt in der Goog­le-Sphä­re.

Sei­ne Beschrei­bung der Metho­den der Popu­li­sten und sei­ne Ana­ly­se ihrer Stra­te­gien, ver­bun­den mit Emp­feh­lun­gen zu Gegen­stra­te­gien, fin­den bun­des­weit in Medi­en und Dis­kus­si­ons­run­den ihren Wider­hall. Dies kann auch als ein Zei­chen dafür genom­men wer­den, dass die demo­kra­ti­sche Öffent­lich­keit sowie Poli­tik und seriö­se Medi­en bis­her kei­nen Weg gefun­den haben, um auf den Erfolg von Popu­li­sten bei Wah­len zu reagie­ren, in Deutsch­land nicht und anders­wo eben­so wenig. Ob es dabei tat­säch­lich, wie vom Ver­lag ange­kün­digt, das »Buch zum Super­wahl­jahr 2024« ist, kann dahin­ge­stellt blei­ben. Erhel­lend ist es in jedem Fall.

Glei­che Brü­der (und Schwe­stern), glei­che Kap­pen. Die AfD in Deutsch­land, Gior­gia Melo­ni in Ita­li­en, Donald Trump in den USA, Mari­ne Le Pen in Frank­reich, der ehe­ma­li­ge Anfüh­rer der Brexit-Par­tei, Nigel Fara­ge, in Groß­bri­tan­ni­en, Geert Wil­ders in den Nie­der­lan­den, die »SVP« in der Schweiz, die »Che­ga« in Por­tu­gal, die »Wie­der­ge­burt« in Bul­ga­ri­en, die »Kon­fe­dera­ci­ja« in Polen oder Vik­tor Orbán in Ungarn, des­sen »Fidesz-Par­tei« gera­de dabei ist, mit der öster­rei­chi­schen »FPÖ »und der tsche­chi­schen »ANO« im EU-Par­la­ment die neue Rechts­au­ßen-Frak­ti­on »Patrio­ten für Euro­pa« zu grün­den – sie alle mögen unter­schied­li­chen Ideo­lo­gien oder Metho­den anhän­gen, »die Debat­ten, die Feind­bil­der, der Stil ähneln sich stark. Die Aus­wir­kun­gen sind ver­gleich­bar. Die Angst vor den ›Lin­ken‹, vor den ›Woken‹, vor dem Nie­der­gang macht Par­tei­en groß, die sich den Wider­stand gegen die Eli­ten und die Beschwö­rung des ›wah­ren Vol­kes‹ auf die Fah­nen geschrie­ben haben: die Rechtspopulisten«.

Lewan­dows­ky beschreibt, wie er bei sei­nen Vor­trä­gen zu die­sem The­ma immer wie­der in Kon­takt mit Men­schen kommt, die der ver­fe­stig­ten Ansicht sind, in Deutsch­land dür­fe man nicht mehr »frei« sei­ne Mei­nung sagen und dass »die da oben« allen, die die »Wahr­heit« sagen, den Mund ver­bie­ten. »Es ist ein rea­les Gefühl der Hilf­lo­sig­keit, der Ohn­macht, aber auch des Im-Recht-Seins. Es ist kein Grum­meln über Poli­tik, son­dern eine tie­fe Unzu­frie­den­heit, ver­bun­den mit dem Wunsch nach Kon­trol­le. Nach Wider­stand.« (Sei es, wie 2021, mit einem Sturm auf das Capi­tol in Washing­ton oder, wie 2020 wäh­rend einer »Querdenker«-Demo in Ber­lin, mit einem Angriff auf das Reichs­tags­ge­bäu­de; Anm. K.N.) Alle eine der Wunsch »nach Befrei­ung von den Zwän­gen, die eine abge­ho­be­ne poli­ti­sche Klas­se und die sie tra­gen­den Milieus in der Gesell­schaft den ›nor­ma­len Men­schen‹ auf­er­legt haben«. Bis ins Pri­va­te­ste, bis in den Kör­per hin­ein regie­re die Poli­tik, wol­le zur Imp­fung zwin­gen und ver­dam­me bestimm­te Lebens­sti­le zum ver­meint­li­chen Schutz des Klimas.

Lewan­dows­ky: »Vie­le sind davon über­zeugt, dass die lin­ken Eli­ten eine mora­li­sche Knecht­schaft errich­tet haben.« Sie befin­den sich »im Ver­tei­di­gungs­mo­dus« und wol­len wie­der­ho­len, was ver­lo­ren gegan­gen ist«. Deutsch­land, so glau­ben sie, sei eine Auto­kra­tie. Die AfD »bedient die­se Gefüh­le. Ihre über­hitz­te Wort­wahl wirkt erlö­send«. Sie erhe­be ihre Anhän­ger zur »schwei­gen­den Mehr­heit«, gei­ße­le »die Eli­ten« und zeich­ne das Bild einer Demo­kra­tie in der per­ma­nen­ten Krise.

Dies zeigt auch die unver­blümt aggres­si­ve Wort­wahl Ali­ce Wei­dels bei ihrer Begrü­ßungs­re­de vor den 600 Dele­gier­ten des AfD-Par­tei­tags, der Ende Juni in Essen statt­fand. Nach ihrer Bemer­kung, Deutsch­land sei unter der Ampel-Koali­ti­on »zu einem Pony­hof ver­kom­men« und schaf­fe sich ab, »wenn wir nicht in die Spei­chen grei­fen und die­sem woken Hip­pie-Wahn end­lich ein Ende berei­ten«, rief Wei­del in schar­fem Ton unter Bei­fall in den Saal: »Lie­be Regie­rung, haut end­lich ab.«

Popu­li­sten stel­len die Demo­kra­tie gleich zwei­fach auf die Pro­be, schreibt Lewan­dows­ky. »Einer­seits durch ihre Ideo­lo­gie. Vor allem die radi­ka­le Rech­te will eine geschlos­se­ne Gesell­schaft; kul­tu­rell, teils gar eth­nisch homo­gen, den Rück­bau inter­na­tio­na­ler Zusam­men­ar­beit und in Euro­pa die Abwick­lung der EU. Die Welt, die sie will, ist eine Welt der abge­schot­te­ten Natio­nal­staa­ten.« Ande­rer­seits stel­len die popu­li­sti­schen Ideo­lo­gen die rea­le zugun­sten einer ver­meint­lich »wah­ren« Demo­kra­tie infra­ge; Gewal­ten­tei­lung und Rechts­staat­lich­keit sol­len über Bord gewor­fen wer­den, damit die eige­ne Grup­pe, das »wah­re« Volk, end­lich »wie­der« das Sagen hat.

In vie­len Län­dern haben sich die ideo­lo­gi­schen Fron­ten in den letz­ten Jah­ren ver­här­tet. Lewan­dows­ky bringt dazu Bei­spie­le aus den USA. Gesell­schaf­ten drif­ten aus­ein­an­der, poli­tisch und öko­no­misch, bis ins einst muster­gül­ti­ge Skan­di­na­vi­en. Man ver­tritt nicht nur unter­schied­li­che Posi­tio­nen, man denkt auch immer nega­ti­ver über die jeweils ande­re Sei­te. Es gibt kei­nen gemein­sa­men Nen­ner. »Die lügen alle« oder »Die Wahr­heit bleibt unterm Tisch« sind längst kei­ne rand­stän­di­gen Mei­nun­gen mehr. Die Coro­na-Pan­de­mie hat es uns gera­de vor Augen geführt.

Rand­stän­dig sind auch längst nicht mehr die Ange­klag­ten, die sich aktu­ell vor deut­schen Gerich­ten zu ver­ant­wor­ten haben. Da ist zum Bei­spiel die Leh­re­rin aus Land­au in der Pfalz, die von der Schul­auf­sichts­be­hör­de wegen rechts­extre­mer Posts vom Dienst sus­pen­diert wur­de; da ist der Haupt­an­ge­klag­te und Rädels­füh­rer im Reichs­bür­ger-Pro­zess, Hein­rich XIII. Prinz Reuß aus dem bis 1918 regie­ren­den gleich­na­mi­gen Adels­ge­schlecht, der nach einem gelun­ge­nen Putsch hät­te Staats­ober­haupt wer­den sol­len. Zu den wei­te­ren Mit­glie­dern der Ver­schwö­rungs­grup­pe zäh­len ein ehe­ma­li­ger Oberst der Bun­des­wehr, ein ehe­ma­li­ger Kri­mi­nal­haupt­kom­mis­sar, eine ehe­ma­li­ge AfD-Bun­des­tags­ab­ge­ord­ne­te, ein ehe­ma­li­ger Oberst­leut­nant und Kom­man­deur eines Fall­schirm­jä­ger­ba­tail­lons. Und der gera­de zum zwei­ten Mal wegen der Ver­wen­dung einer ver­bo­te­nen Nazi-Paro­le ver­ur­teil­te Thü­rin­ger AfD-Chef Björn Höcke ist Ober­stu­di­en­rat, mit dem Fach Geschich­te. Popu­lis­mus ist kei­ne Nischen­ideo­lo­gie mehr. Dass sich die Popu­li­sten »als die wah­ren Demo­kra­ten im Land prä­sen­tie­ren, ist ein gro­ßer Teil des popu­li­sti­schen Erfolgsrezeptes«.

Was tun? Im gut 40 Sei­ten umfas­sen­den Schluss­ka­pi­tel geht es nach all den Ana­ly­sen um die­se Fra­ge. Aus­gangs­punkt der Emp­feh­lun­gen Lewan­dows­kys ist sei­ne Ein­schät­zung, dass die Rechts­po­pu­li­sten die Demo­kra­tie nicht ein­fach ableh­nen, wie zum Bei­spiel die Faschi­sten damals und heu­te, son­dern sich für die wah­ren Demo­kra­ten hal­ten, die den »Ver­ges­se­nen«, der «schwei­gen­den Mehr­heit«, eine Stim­me geben, indem sie vor­ge­ben, für die­se zu kämp­fen. In die­sen Zusam­men­hang passt ein Ergeb­nis aus dem aktu­el­len ARD-Deutsch­land-Trend vom 4. Juli, ich zitie­re: »In Deutsch­land eint die Sor­ge um die Zukunft der Demo­kra­tie Anhän­ger unter­schied­lich­ster Par­tei­en, aus unter­schied­li­chen Beweg­grün­den. Am stärk­sten aus­ge­prägt ist sie unter den Anhän­gern von AfD (76 Pro­zent) und BSW (77 Pro­zent)«, von denen »die Abge­ho­ben­heit von Poli­tik« am häu­fig­sten als Gefahr benannt wurde.

Der rhein­land-pfäl­zi­sche SPD-Bun­des­tags­ab­ge­ord­ne­te Joe Wein­gar­ten ver­schick­te nach der für sei­ne Par­tei desa­strö­sen Euro­pa-Wahl einen bun­des­weit beach­te­ten vier­sei­ti­gen Brief an die SPD-Mit­glie­der sei­nes Wahl­krei­ses, in dem er fest­stellt: »Alle Kam­pa­gnen ›gegen rechts‹ und ›gegen Hass und Het­ze‹ waren weit­ge­hend wir­kungs­los. Die Wäh­ler der AfD igno­rie­ren das rechts­ra­di­ka­le Poten­ti­al der AfD, solan­ge die­se Par­tei The­men anspricht, die die Men­schen für rich­tig und wich­tig hal­ten. Die Jugend hat rech­ter gewählt als erwartet.«

Und auch er fragt: Was ist zu tun? Zum Umgang mit der AfD schreibt er: »Das andau­ern­de Bekla­gen von der Ver­fas­sungs­feind­lich­keit und Nazi-Nähe der AfD hilft am Ende allei­ne nichts. Wir müs­sen uns mit der Poli­tik der AfD aus­ein­an­der­set­zen. Deut­lich machen, wo sie zu Lasten der klei­nen Leu­te geht. Aber wir dür­fen ihr auch nicht das Bild zuge­ste­hen, die Inter­es­sen Deutsch­lands und der Deut­schen zu ver­tre­ten, wäh­rend wir über Hil­fen für die gan­ze Welt nach­den­ken. Auch für die SPD muss gel­ten, dass wir zual­ler­erst den Men­schen hier ver­pflich­tet sind.«

Lewan­dows­ky emp­fiehlt als Stra­te­gie – ich grei­fe nur die­sen einen Punkt aus sei­nen Vor­schlä­gen und Anre­gun­gen her­aus –, nicht die Ein­stel­lun­gen der Men­schen ändern zu wol­len. Das sei in der Regel nicht mög­lich, da die­se Wäh­le­rin­nen und Wäh­ler zum gro­ßen Teil »gegen Migran­ten sowie que­er- und frau­en­feind­lich sind« und so mög­li­cher­wei­se schon gedacht haben, bevor die AfD gegrün­det wur­de. Ihre Ein­stel­lun­gen wür­den ihnen daher nicht von den Popu­li­sten ein­ge­pflanzt, son­dern von die­sen »akti­viert«. Ziel müs­se es daher sein, das Wahl­ver­hal­ten der Men­schen zu ver­än­dern, indem ihre Ein­stel­lun­gen so »deak­ti­viert« wer­den, »dass sie für die Wahl­ent­schei­dung kei­ne Rol­le mehr spie­len«. Oft gehe es zum Bei­spiel für Men­schen, die »kei­ne ein­ge­fleisch­ten Ras­si­sten sind«, beim The­ma Migra­ti­on in Wahr­heit um Woh­nungs­man­gel, Arbeits­platz­su­che oder Sozi­al­lei­stun­gen. »Dar­an könn­ten Par­tei­en anschlie­ßen und mit der Wirt­schafts- und Sozi­al­po­li­tik ein The­men­feld bespie­len, das nicht zum Spe­zi­al­ge­biet der Rechts­po­pu­li­sten gehört.«

Da die Popu­li­sten die Demo­kra­tie in den Mit­tel­punkt ihrer Stra­te­gie stel­len wür­den und Pro­ble­me zu Kri­sen, zu Iden­ti­täts- und Exi­stenz­fra­gen über­höh­ten, sei es beson­ders wich­tig, »das Ver­trau­en in die Demo­kra­tie zu stär­ken«. Poli­ti­ke­rin­nen und Poli­ti­ker »soll­ten bei­spiels­wei­se in Town­hall-Mee­tings das direk­te Gespräch mit den Bür­ge­rin­nen und Bür­gern suchen – und mit ihnen kon­kret über Demo­kra­tie spre­chen«. Durch den Aus­tausch und die The­ma­ti­sie­rung der Män­gel, die sie in der Demo­kra­tie sehen, stei­ge am Ende mög­li­cher­wei­se die Zufrie­den­heit. Dass die Poli­ti­ke­rin­nen und Poli­ti­ker als direk­te Gesprächs­part­ner auf­tre­ten, die sich um Lösun­gen bemü­hen, könn­te vor allem die noch schwan­ken­den, die unent­schie­de­nen, die noch erreich­ba­ren Wäh­le­rin­nen und Wäh­ler davon über­zeu­gen, dass ihre rea­len Inter­es­sen und die Men­schen »im Mit­tel­punkt ste­hen, die mor­gens auf­ste­hen und zur Arbeit gehen, die Steu­ern zah­len und unse­re Gesell­schaft am Lau­fen hal­ten« (Wein­gar­ten).

»Dich sin­ge ich, Demo­kra­tie« über­ti­tel­te Gün­ter Grass 1965 die erste sei­ner öffent­li­chen poli­ti­schen Reden, mit denen er sich bis 1976 in die Wahl­kämp­fe ein­misch­te. Ein Mot­to, das heu­te so aktu­ell wie damals ist.

Nach­be­mer­kung: Der Popu­lis­mus habe vie­le Gesich­ter und kann sich in vie­len Ideo­lo­gien gemein­ma­chen, auch in den demo­kra­ti­schen Par­tei­en, auch im BSW. Ein beson­ders kras­ses Bei­spiel ist zur­zeit in Latein­ame­ri­ka zu beob­ach­ten, wo Javier Milei in Argen­ti­ni­en als Prä­si­dent den system­spren­gen­den Anfüh­rer einer »ultra­li­ber­tä­ren Rebel­li­on« gibt, der dort gera­de ein »Ket­ten­sä­gen­mas­sa­ker« im sozia­len und staat­li­chen Bereich anrich­tet (Sven­ja Blan­ke, Lei­te­rin des FES-Büros in Argen­ti­ni­en) – was aber in Deutsch­land den Vor­stand der Hay­ek-Gesell­schaft nicht davon abhielt, ihm am 22. Juni für sein »frei­heit­li­ches Wirt­schafts­pro­gramm« die Medail­le der Stif­tung zu überreichen.

 Mar­cel Lewan­dows­ky: »Was Popu­li­sten wol­len – Wie sie die Gesell­schaft her­aus­for­dern und wie man ihnen begeg­nen soll«, Kie­pen­heu­er & Witsch, Köln 2024, 336 S., 20 €.