Dieser Tage erinnert man sich wieder mehr eines vor Jahren politisch wirkenden Dichters. Rudolf Leder hieß er. Einer, der nicht zufällig aus dem von jüdischem Unternehmensgeist geprägten Großbürgertum des zutiefst sächsischen Chemnitz kam. Der aus der Synagoge verabschiedete agile Vater und die britisch-deutsche Mutter – und nun der exemplarisch urdeutsche Dichtersohn Rudolf. Der sich das poetisch stilisiert wohlklingende Pseudonym Stephan Hermlin gab. So wie aus dem Helmut Flieg aus der Nachbarschaft zur gleichen Zeit ein Stefan Heym wurde – und die Namensliste jüdischer Intellektueller des 20.Jahrhunderts ergänzten. So viele Promis dieser Herkunft, Musikinterpreten und literarisch-philosophische Leitfiguren glänzen mit früh gefundenen Originalnamen.
Bürger Rudolf Leder und Kunstfigur Stephan Hermlin: Früh in den Jahren des Zweifels verwandelte sich da einer zum Kommunisten edelster Couleur. Später konnte dieser im sanftesten Abendlicht des Jahrhunderts selbstbewusst zwischen Dichtung und Wahrheit jonglieren. Nachdem er dem brutal installierten Wunschstaatswesen marxistischer Prägung intellektuell Glanz und Gloria verliehen hatte, war er schließlich wer. Einer, der mutvoll sowie akademisch sanktioniert Fäden der Vermittlung und der Beanstandung zugleich spannte. Das war mehr, als fortwährend zeilenschindend die Bände der schreibenden Zunft zu vermehren. Soll man ihm die Seitenzahl der Nolls und Neutschs vorhalten? Er hatte, verfolgt, jedoch folgenreich viele Länder durchstreift. Allseitig gebildet, wurde er nun von seinen Verfolgern umso mehr beargwöhnt bis gehasst.
So konnte ich, als gerade die elfte Klasse des Kreuzgymnasiums Dresden wiederholender, weil bereits künstlerisch orientierter Oberschüler, ihn und die Seinen fast privat kennenlernen. Das in »Stets erlebe ich das Falsche« detailliert bei Heinz H. Schmidt Berichtete spielte sich im Sommer 1949 in Heiligendamm ab. Meine Eltern waren dort bereits eine Woche in illustrer prominenter Gesellschaft sonnen und baden, als ich als Dritter dazu kam. Mein als wenig profilierter Chemiker unbekannter Vater war voller Neugier in die Gesellschaft von lauter gerade aus dem West-Exil zurückgekehrten Intellektuellen geraten. Am Mittagstisch saßen Wolfgang und Renate Langhoff plus, noch halbwüchsig, Thomas und Matthias Langhoff mit Ehepaar Leder plus Töchterlein Cornelia (später Schmaus). Dann sah ich meinen Vater nach dem Schachmatch in regem Disput mit diesem als alerter Fant auftretenden Stephan Hermlin. Der Dichter war auf den Spuren von Heinrich Manns gerade erschienenen Buch »Ein Zeitalter wird besichtigt« und reizte den braven Bürger zum Widerspruch.
Das imponierte mir in der Qualität der Argumente. Die Begegnung der Exilanten mit den deutschen Stammbürgern barg genug Zündstoff. Vater Kretzschmar, anfangs noch PG, hatte immerhin eine kriegswichtige Produktion von Aluminium durch seine nie realisierte Erfindung neuartiger Bearbeitung von Tonerde verhindert. Nun stürzte er sich nach Hermlins Anregung in »Materialismus und Empiriokritizismus« von Lenin – und schrieb dazu ein kluges Essay. Und Sohn Kretzschmar sandte dem gerade noch bestehenden, von Hermlin im Redaktionskollegium verzierten Ulenspiegel eine noch schüchterne Porträtkarikatur von Wolfgang Langhoff. Herausgeber Herbert Sandberg hat sie zwar nicht gedruckt, aber ein knappes Jahrzehnt danach verbessert als Startkarikatur im Eulenspiegel wieder gefunden.
Den Dichter erlebte ich mit seinem wohlduftenden Pfeifenschmauch bald da und dort. Ob im Postscheckamt oder auf Schriftstellerkongressen, bei Vernissagen oder Matineen – er war eine allgegenwärtige würdige Erscheinung.
Meine auftraggebenden Eulen-Redakteure rümpften allerdings die Nase ob seines elitären Auftretens. Wir dagegen pflegten im Alltag einen proletarisch-rüden Umgangston. Ich las seine geradezu klassisch geformten »Städteballaden« und die »Erste Reihe« der Helden des Widerstands gegen die Hitlerei. Und war von ihrer knappen Präzision angetan. Doch bald wurde er als Akademie-Repräsentant viel wichtiger. Als 1961 Fritz Cremer Harald Metzkes und zehn andere junge Maler mit einem ideologischen Paukenschlag aufs Tapet brachte, setzte der Dichter als sein Pendant als Akademiesekretär dann im Dezember 1962 diese Aktivität mit seiner großartigen Lesung neuer junge Dichtkunst fort. Er allein war es, der die umwälzende Startphase der Volker Braun, Karl Mickel, Bernd Jentzsch, Rainer und Sarah Kirsch und vielen anderen bald maßgebenden Jungen initiierte.
Wolf Biermann war schon dabei und trat als klangvoller Barde eigener Verse derb aufs gepflegte sozialistische Parkett. Und hinterließ sofort einige Schrammen am mustergültigen Image. Die in der Folge Schrecken verbreitenden reglementierenden »Maßnahmen« des Repressionsapparates liefen am Ende ins Leere: Die zur Legende hoch gepuschten Achtundsechziger des Westens hatten ihre Vorläufer schon Jahre vorher im Osten gefunden. Denn Dichtung ist da immer auch Wahrheit. Die Weiterungen in die Rockmusik und ihre profilierten Bandgründungen hinein waren von solcher Tiefenschärfe und Breitenwirkung, dass sie sogar internationale Beachtung fanden, obwohl meist deutsch gesungen wurde. Und die gesungenen Texte waren nicht nur gespenstisches Wortgeklingel. Was sangbar war, erwies sich auch als lesbar.
Hermlin war da schon nicht mehr gefragt – der Zug gewann ohne ihn an jugendlichem Tempo und politischer Brisanz. Immerhin war dank seiner rigorosen Verteidigung des kritischen Biermann-Auftritts das kulturpolitische Profil des Partei-Zentralorgans Neues Deutschland bis in die komische Zeichenkunst hinein seit April 1963 stark verändert. Publikationen des Aufbau Verlages orientierten sich dank seiner Einwirkung auf die jungen Literaturtalente in der Edition »Neue Texte«. Er wurde als deutscher Sprachpfleger wichtiger. Man unterschätze nicht sein 1976 von Hans Marquardt bei Reclam Leipzig verlegtes »Deutsches Lesebuch«, das auf fast 600 Seiten sehr persönlich, doch allgemeingültig Perlen deutscher Sprache von Luther bis Liebknecht sammelt und sondiert. Inklusive Friedrich Nietzsche und Franz Kafka. Das war in Zeiten bereits marktwestlich globaler Verstümmlung unserer Sprache ein Beispiel gebendes Kompendium. Vergleichbare Beispiele kann man mit der Lupe suchen. Klemperer sezierte LTI als Nazigewächs. Wer tut denn Ähnliches heute? Der Kern heute in deutscher Sprache geschriebener Belletristik scheint schon ausländische Verfasser zu haben. Hermlin nannte dazumal seinem Publikum positive Muster. Als das Pateichinesisch wucherte, war es wohl notwendig.
1976 war der November wieder mal Schicksalsmonat. Man hat offenbar vergessen, dass der Dichter trotz seiner zufälligen Nähe zum Partei- und Staatschef Erich Honecker aus Zeiten der Gründung der »Freien Deutschen Jugend« der wohlüberlegte Auslöser der Protestwelle gegen die schockierende Ausbürgerung von Wolf Biermann war. Ohne das große Spektakel der Selbstdarsteller der internationalen Medienszene. Wohl wissend, dass das Ganze die Inszenierung des Geheimdienstes zur Abstrafung des übermütig gewordenen Günstlings der werten Gattin Margot Honecker darstellte. Eine peinliche Familienfarce, zum politischen Gemetzel taugend. Er ist die erste moralische Instanz gewesen, die das erkannt und bekannt hat. Und die Kulturszene war in aller Breite im Nu mobilisiert.
Heute grassiert die Manie der Abwertung des Unerwünschten. Aber hat nicht die längst vereinigte Akademie der Künste eine Verantwortung dafür, dass der von diesem Staat initiierte und installierte Teil wahrheitsgemäß erinnert wird? Wie viel mehr die Einrichtung der Meisterschülerschaft dazumal den Weg der heranwachsenden Künftigen ebnete, als das heute auch nur annähernd möglich ist. Öffentlich als Staatsdichter und kalter Propagandist diskreditiert gewesen zu sein, hat bezogen auf diesen Dichter das Niveau der Denunziation. Was er zum Jubiläum des von ihm 1945 mit gegründeten Aufbau Verlages 1985 in seiner Festrede sagte, widerlegt das. Den prominenten Westverleger Fritz Landshoff begrüßte er genauso herzlich wie unseren offiziell bisher unerwünscht ungedruckten Jungschriftsteller Wolfgang Hilbig.
Übrigens war Hermlins Chemnitzer Herkunftsgefährte Stefan Heym ungleich wirksamer und auffälliger als er. Das mag vor allem an der gehörigen Portion Witz und Geist als ironische Unterfütterung des Lebenswerkes von Heym liegen, die dem genau zwei Jahre Jüngeren abging. Was das Riskieren öffentlichen kritischen Auftretens betraf, war der Kontrast noch schärfer. War das nur Charaktersache? Eigentlich schade, da die Großen des literarischen Jahrhunderts von Bertolt Brecht über Thomas Mann bis Günter Grass auf diese Weise sehr stark präsent waren. Seine Akademiekollegen Erwin Strittmatter und Hermann Kant waren da ebenfalls nicht schüchtern. Und zwar so, dass sie daraufhin grob missverstanden wurden. Wieso dann der auf so seriöse Art Verstörende von diversen Kanaillen bis heute trotzdem verunglimpft wird, müssen diese selbst wissen. Wir jedenfalls sind sicher, dass wir etwas an ihm haben.